Kitabı oku: «Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien», sayfa 6

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Reisevorbereitungen

Reisevorbereitungen

In der Zelle angelangt, begann ich meine Reisevorbereitungen. Das war nicht ganz einfach. Trotz aller übertriebenen Maßnahmen bei der Überwachung der Sachen, die mir meine Freunde zuschickten, hatte ich mich in den Besitz einer englischen Feile zum Durchschneiden von Eisengittern gesetzt, einer Schere, um nötigenfalls Bart und Haar zu schneiden, und auch Geld in deutschen und russischen Banknoten hatte ich bei mir. Ich musste also diese Dinge irgendwie unterbringen. Die Feile beschloss ich wegzuwerfen, weil sie mir kaum noch nutzen konnte und schwer zu verbergen war; ich brach sie entzwei und warf sie in den Abtritt. Die übrigen Sachen beschloss ich zu verstecken, und zwar so, dass ich bei günstiger Gelegenheit davon Gebrauch machen könnte während des Transports in Deutschland oder in Russland. Der Wächter an meiner Tür ließ mich nicht aus den Augen, aber es gelang mir trotzdem, die genannten Dinge in meinem Anzuge derart zu verbergen, dass sie bei den bevorstehenden körperlichen Untersuchungen nicht gefunden werden konnten und sie leicht zu erreichen waren, wenn ich sie brauchen sollte. Alle diese Vorbereitungen waren die Hoffnung eines Ertrinkenden, der nach dem Strohhalm greift. Ich täuschte mich nicht darüber, dass man mich scharf bewachen werde, und dass jede Aussicht auf Rettung in der nächsten Zeit verloren war. Aber in solcher Lage haben selbst die nutzlosesten Beschäftigungen wenigstens den Vorteil, dass sie eine Ableitung für die Gedanken schaffen. Und meine Gedanken waren nicht die angenehmsten. Ich wusste, was mir bevorstand; ich malte mir die Zukunft aus: lange, lange Jahre im Kerker, begraben bei lebendigem Leibe, dem Leben entrückt, und das eben drückte mich nieder. Ich glaube, der Gedanke an den Tod wäre mir leichter gewesen als der Gedanke an dieses Los. „Was nützt mir jetzt noch das Leben?“ fragte ich mich, und die Antwort war trostlos genug...

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Gefängnis

V. Nach Russland: im Viehwagen, im Frankfurter und im Berliner

Gefängnis

Der Abend kam, und ich wurde in einem geschlossenen Wagen in Begleitung von zwei Polizeimännern, die man in Zivilkleider gesteckt hatte, unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln fortgeschafft. Der Wagen hielt an einer Rampe der Eisenbahn irgendwo fern vom Bahnhofe; dort wurde ich mit samt meinen Begleitern in einen Waggon gebracht, einen gewöhnlichen Viehwagen. Als der Waggon an den Bahnhof gebracht wurde, wo man ihn an einen Personenzug hing, bemerkte ich auf dem Perron eine auffällige Bewegung, und meine Wächter, denen es gleichfalls nicht entgangen war, flüsterten eifrig miteinander. Aus den abgerissenen Worten, die ich auffangen konnte, ersah ich, dass jemand verhaftet worden war, und dachte gleich, dass der Vorgang wohl im Zusammenhang mit meiner Person stand. – Nach vielen Jahren erfuhr ich dann, dass in der Tat damals auf dem Freiburger Bahnhof zwei meiner Kameraden verhaftet wurden, die beabsichtigten, den Zug zu benützen, um unterwegs einen Fluchtversuch meinerseits zu unterstützen. Dieser Versuch war also auch fehlgeschlagen. Die beiden Freunde wurden einige Tage in Freiburg in Haft gehalten und dann nach der Schweiz ausgewiesen.

Gegen Morgen kamen wir in Frankfurt am Main an, wo man mich wieder in ein Gefängnis brachte.

Der Verwalter dieses Gefängnisses erwies sich als ein ungemein liebenswürdiger und dienstbereiter Herr, der aber seine sehr feinen Hintergedanken hatte. Als ich ihn fragte, ob ich an meine Verwandten in der Schweiz eine Postkarte schreiben dürfe, versicherte er mir hoch und teuer, er würde sie sofort befördern, und schaffte mir alsbald Schreibzeug herbei. [Es zeigte sich später, dass er die Karte meinen Wächtern übergeben hatte zur Auslieferung an die russischen Behörden. Natürlich enthielt die Karte nichts weiter als einen Gruß an meine Freunde.] Auch die Zelle, die er mir anwies, war sehr bequem und lag nach einer lebhaften Straße; aber er platzierte mir zwei Schutzleute herein, die mich unterhalten sollten. Dann erhielt ich ein sehr gutes Mittagessen, oder wenigstens schien es mir gut, weil ich in den letzten Tagen infolge der Aufregung nichts gegessen hatte. – Da ich voraussah, dass die Reise sehr lange dauern werde, wollte ich mir einige Bücher besorgen, und der dienstbereite Herr erbot sich sofort, sie bei einem Antiquar zu kaufen, damit es billiger wäre. Ich erinnere mich, dass ich ein paar deutsche und französische Klassiker wählte, und er verschaffte mir die Werke richtig zu einem, wie mir schien, recht billigen Preise. Schließlich schlug er mir vor, mit ihm einen Spaziergang im Hofe zu machen. Als wir allein waren, begann er weitschweifig über seine Verhältnisse zu plaudern und versuchte dann in recht plumper Weise mich auszufragen, ob ich nicht etwa der berühmte Degajeff sei? Ich musste herzlich lachen, und die eifrige Freundlichkeit und Dienstbarkeit dieses Biedermannes, der sein Interesse hübsch wahrzunehmen verstand, erschien mir jetzt in ganz anderem Lichte. Abgesehen davon, dass ihm, wie mir später die in meiner Zelle mich bewachenden Schutzleute erzählten, sowohl der Einkauf der Bücher als auch das gelieferte Essen einen netten Profit abgeworfen hatten, ging er darauf aus, eine Belohnung zu ergattern, wenn er mir das Geständnis entlockte, dass ich Degajeff sei. Es handelte sich nämlich darum, dass für die Ergreifung dieses Mannes die russische Regierung eine hohe Prämie – zehntausend Rubel – ausgesetzt hatte, und der Name war damals in allen europäischen Zeitungen zu finden [Degajeff, ein gewisser Artilleriekapitän, war ein hervorragendes Mitglied der „Narodnaja Wolja“. Anfangs der achtziger Jahre verhaftet, wurde er bald zum Verräter und lieferte viele seiner ehemaligen Genossen aus. Auf diese Weise erzielte er nicht nur seine Befreiung, sondern erwarb auch das Vertrauen des damals berühmten und berüchtigten Oberhäschers, des Kommandanten der Petersburger „Schutztruppe“, des Obersten Ssudjeikin. Gewissensbisse oder auch die Furcht vor der Rache der Revolutionäre veranlassten ihn jedoch, im Jahre 1883 diesen gegenüber ein vollständiges Geständnis abzulegen, und zur Sühne erbot er sich, ihnen beizustehen, um Ssudjeikin umzubringen. Diesem war schwer beizukommen, weil er ungemein geschickt und vorsichtig war; dabei hatte noch keiner der Häscher den Revolutionären so vielen Schaden zugefügt als er. Der Vorschlag Degajeffs wurde angenommen. Im Winter 1883 also lockte Degajeff den Ssudjeikin unter dem Vorwände wichtiger Mitteilungen in seine Wohnung, wo zwei Revolutionäre ihm auflauerten und ihn niederschossen. – Die beiden wurden später verhaftet, zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt und in Schlüsselburg eingekerkert. Degajeff dagegen entkam ins Ausland und ist seither verschollen.] – Ich blieb bis zur Nacht im Frankfurter Gefängnis. Dann holten mich drei Schutzleute ab, die ebenfalls in Zivilkleidern steckten. Jedes Mal wenn die Wächter wechselten, wurde ich von neuem visitiert, aber man fand niemals etwas. Ehe mich die Frankfurter Polizisten abführten, legten sie mir Fesseln an, die nicht gerade dick und schwer waren und ganz unauffällig; sie wurden nämlich unter den Kleidern hindurchgezogen, waren also nicht sichtbar, hinderten aber an raschem Gehen und desto mehr am Laufen. Ich protestierte lebhaft gegen eine derartige Behandlung, doch die Leute erklärten mir, sie hätten gemessenen Befehl, mich zu fesseln, und meine Proteste würden zu keinem Ziele führen. Mir blieb nichts übrig, als mich zu fügen. Doch damit war die Fürsorge meiner Schutzengel nicht erschöpft: als wir den Bahnhof und den Perron passierten, nahm mich einer von ihnen, ein Hüne von Gestalt, freundschaftlich unter den Arm, einer ging einen Schritt vor mir und der dritte hinter mir; so machten wir auf Uneingeweihte den Eindruck einer Gruppe „guter Freunde“, die in „aller Gemütlichkeit“ daher schlendern. Wir platzierten uns in einem Wagen mitten unter das Publikum, wobei wir zwei Bänke besetzten, und wahrscheinlich dachte keiner von den Reisenden, dass in seiner nächsten Nähe ein schwerer, kettenbelasteter Staatsverbrecher transportiert werde. Mir fiel dabei die Redensart unserer russischen Bauern ein, wonach der Deutsche alles fertig bringt: „Selbst den Affen hat er erfunden!“

Ich will übrigens bemerken, dass meine Wächter im Allgemeinen durchaus korrekt, wenn auch strikte formalistisch, sich mir gegenüber verhielten; groben Übergriffen, wie in Freiburg, war ich kein einziges Mal mehr ausgesetzt. Soweit es ihre Instruktion zuließ, erwiesen mir die Leute gern kleine Gefälligkeiten, wenn ich etwas wünschte. In den „Begleitscheinen“, die ihnen mitgegeben waren, war ich als der „angebliche Buligin“ bezeichnet, und unter diesem Namen figurierte ich bis zur Übergabe an die russischen Behörden.

Von einem Fluchtversuch während der Reise konnte nicht die Rede sein. Meine Wächter ließen mich nicht eine Sekunde aus den Augen, wichen keinen Schritt von meiner Seite, beobachteten jede meiner Bewegungen. In Gespräche ließen sie sich mit mir nicht ein, und ich hatte auch nicht das geringste Bedürfnis, mit ihnen zu schwatzen. Ich fühlte mich niedergedrückt, abgespannt und erschöpft. Meine Gedanken schienen eingeschläfert, nichts fesselte meine Aufmerksamkeit während der ganzen Reise, ich sah und hörte nichts, was um mich vorging. Absolute Gleichgültigkeit und Apathie hatten mich erfasst. „Was wird, das wird“, sagte ich mir, wenn ein Gedanke an die Zukunft auftauchte. Auf die furchtbare Erregung der letzten Tage in Freiburg war die Reaktion eingetreten.

Als wir am folgenden Tage in Berlin eintrafen, wurde ich abermals in ein Gefängnis gesperrt. Welches es war, weiß ich nicht; doch erinnere ich mich genau, dass es einen unbeschreiblich deprimierenden Eindruck auf mich machte. Die finstere Zelle, in die eine davorstehende hohe Mauer keinen direkten Lichtstrahl dringen ließ, die finsteren Gesichter der Schließer, die mir niemals direkt ins Auge schauten, sondern immer zu schielen schienen, legten unwillkürlich den Gedanken nahe, dass Menschen, die längere Zeit hier zubringen mussten, sich bestimmt entsetzlich bedrückt fühlen. Ich habe seit jener Zeit noch so manches Gefängnis im europäischen Russland und in Sibirien kennen gelernt, aber niemals fühlte ich mich so niedergeschlagen, wie in diesem Berliner Gefängnis. Alles schien hier anzudeuten: du bist in Berlin, der Metropole des Militärstaates Preußen, wo Strenge und Disziplin – richtiger Drill und Härte – die Richtschnur für alles und jedes sind.

Die Polizisten, die mich aus Frankfurt gebracht hatten, ließen mich auch in der Kerkerzelle nicht aus den Augen; sie hielten abwechselnd Wache bei mir. Und ich muss gestehen, dass ich dessen sogar froh war. Ihre Gesellschaft war ja nicht gerade angenehm, aber in diesem Kerker milderte die Anwesenheit eines menschlichen Wesens, wer es auch sein mochte, den trostlosen Eindruck. Doch sollte ich nicht lange hier kampieren, und ich war ganz zufrieden, als ich noch am Abend dieses Tages unter Bewachung derselben Mannschaft weitergeführt wurde.

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Auf der Grenzstation

Auf der Grenzstation

Am nächsten Morgen waren wir in Russland.

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Die Grenzstation, an der ich ausgeliefert wurde, war Granitza, jener Ort, wo die Grenzen der drei Kaiserstaaten zusammenstoßen. Da man mich alsbald nach Petersburg transportierte, war es ein gewaltiger Umweg, und ist wohl anzunehmen, dass diese sonderbare Route gewählt wurde, weil man befürchtete, es könnte an der Grenze ein Befreiungsversuch gemacht werden.

Das mochte umso näherliegen, als kurz vorher der polnische Sozialist Stanislaus Mendelsohn auf einer Grenzstation, Alexandrowo, wenn ich nicht irre, mit Hilfe seiner Freunde geflohen war, als ihn die preußische Polizei dort an Russland ausliefern wollte; er entkam glücklich nach der Schweiz.

(Stanislaw Mendelssohn: Am 18. November 1857 – einige Quellen zitieren fälschlicherweise 1858 – wurde in Warschau (Polen; damals Russisches Reich) der Journalist und propagandistische Anarchist und Nihilist und spätere sozialistische Politiker Stanislaw Salomon Naftali Mendelssohn geboren, zitiert Stanislas Mendelsohn, und auch bekannt als Aleksander Messin. Der Sohn einer assimilierten wohlhabenden jüdischen Familie, seine Eltern waren Voff Mendelsohn, ein Bankier, und Salomé Marguliès, und er war der Enkel des Philosophen Moïse Mendelsohn, Übersetzer von Jean-Jacques Rousseau und Cousin des Komponisten Félix Mendelssohn Bartholdy. Nach dem Abitur begann er mit 16 ein Medizinstudium an der Universität Warschau. Als er in seinem dritten Medizinjahr war, führte er mit anderen Studenten (Ludwing Warynski, Kasimir Dluski, Simon Dickstein) die sogenannte Polnische Sozialistische Bewegung (MSP), die mit Arbeitern interagierte, kleine Kreise bildete und Widerstandskästen gründete, die wurde die Basis der ersten illegalen Gewerkschaften, organisierte die ersten Streiks und verbreitete die sozialistische Formation unter einigen motivierteren Arbeitern. Er war ein Befürworter der Unabhängigkeit Polens von der Das Russische Reich – galt als einer der Theoretiker des „Sozialpatriotismus“ - und kollidierte mit den Postulaten der sozialrevolutionären Partei „Proletariat“, die die polnische Unabhängigkeit als unmittelbares Ziel des sozialistischen Kampfes ablehnte. Im März 1878 wurde er infolge seiner Beteiligung an Unruhen in den Straßen Warschaus von den zaristischen Behörden verfolgt und ging nach Österreich ins Exil, aus dem er ausgewiesen wurde, und übersiedelte 1878 in die Schweiz, wo er im November im folgenden Jahr gründete und finanzierte er die revolutionäre Zeitung in Genf Równość (Gleichheit), das bis 1881 andauerte und von Przedświt (1881-1883, The Dawn) und Walka Klas . fortgesetzt wurde (1884-1887, Klassenkampf). 1879 kehrte er nach Polen zurück, wo er Ende März 1880 mit 34 anderen Nihilisten in Krakau verhaftet wurde; versuchte, wurde er freigesprochen. Später ging er unter Tage nach Österreich, wo er verhaftet, vor Gericht gestellt und wegen illegaler Einreise zu einem Monat Gefängnis verurteilt wurde.)


Ich weiß mich noch ganz genau der Eindrücke zu erinnern, die ich damals empfing. Es war ein wunderschöner Maitag, und die liebe Sonne schien mir neue Kraft spenden zu wollen. Kaum hatte ich mit meinen deutschen Wächtern den Eisenbahnwagen verlassen, als mich eine Anzahl russischer Gendarmen umringte.

„Guten Tag, Herr Deutsch! Da wären Sie ja endlich; wir haben Sie schon immer erwartet und erwartet!“ begrüßten sie mich. Ich erblickte ringsum jugendfrische, lächelnde Gesichter russischer Bauernburschen, die in den verhassten dunkelblauen Uniformen steckten; ihr sorgloses Gebaren veranlasste, dass ich selbst ihnen zulächelte, als wenn es gute Bekannte wären, die mich da begrüßten.

„Woher kennt ihr mich denn?“ fragte ich auf dem Wege nach der Gendarmerieabteilung.

„O, freilich kennen wir Sie; wir haben schon viel von Ihnen gehört!“ riefen einige Stimmen. „Wollen Sie gleich Tee nehmen, oder wollen Sie sich zuerst den Staub abwaschen?“ fragten sie liebenswürdig und überboten sich an Eifer, mir gefällig zu sein.

Es war ein sonderbarer Kontrast in dem Verhalten meiner deutschen und russischen Wächter. Die letzteren benahmen sich sorglos und einfach, wenn man will, lag sogar etwas freundschaftlich Zutrauliches darin. Für die deutschen Polizisten war ich ein gar gefährlicher Schwerverbrecher, der sich unter falschem Namen verbirgt; sie hatten ihre Instruktion, die sie strikte befolgten, und alles übrige kümmerte sie nicht; nebenbei erhofften sie für den angestrengten Dienst eine Belohnung zu erhalten, wie ich unterwegs ihrem Geflüster entnahm, als sie glaubten, ich sei eingeschlafen. Für die russischen Gendarmen, die mit gewöhnlichen Verbrechern nie zu tun haben, war ich der „politische Verbrecher“, wie es bei uns heißt, der Staatsgefangene, dessen Name sie schon so oft gehört, dass sie mich als einen alten Bekannten betrachteten.

Ich war seit vier Jahren nicht in Russland gewesen, und die ersten Menschen, die mir begegneten, von denen ich die Laute der Muttersprache vernahm, waren Gendarmen. Es ist begreiflich, dass ich mich, obwohl Revolutionär, in der Gesellschaft der Gendarmen wohl fühlte. Wer als Uneingeweihter in den Raum hätte blicken können, wo ich am Tische vor dem dampfenden Samowar saß, mir den Tee schmecken ließ und mit den ringsumher stehenden Gendarmen plauderte, der hätte sicher gedacht, dass hier eine gemütliche Unterhaltung zwischen guten Bekannten stattfindet.

„Na, wie ist's denn im Ausland? Sicher nicht so schön wie bei uns, was?“ fragten mich die Burschen. Und ich erzählte, wie es im „Ausland“ sei, dass es dort unvergleichlich besser sei als wie bei uns daheim. Das wollten sie aber nicht glauben; wir stritten hin und her, wobei alle Anwesenden, zehn oder zwölf Mann, eifrig durcheinander schwatzten. Als das Thema erschöpft war, fragte wiederum ich, was es bei uns Neues gebe? wie es gehe? Und nun schilderten sie mir begeistert, wie ganz Russland vor kurzem die Feier der Mündigkeitserklärung des Thronfolgers, des jetzigen Zaren, begangen habe.

Die deutschen Polizisten hatten gegen Bescheinigung mein Gepäck und mich selbst abgeliefert und waren wieder abgezogen, wohl etwas enttäuscht, denn eine Belohnung war ihnen, wenigstens in Granitza, nicht ausbezahlt worden. – Nach einigen Stunden erschien ein Gendarmerieoffizier und befahl einigen der Leute, sich bereitzuhalten, um mich zu eskortieren, da ich mit dem nächsten Zuge weiter sollte.

Ich sah, dass er einem von ihnen das von den deutschen Polizisten übergebene Geld einhändigte. Ich zog also unbemerkt das russische Geld, das ich versteckt hatte, hervor und übergab es dem Offizier, da ich fürchtete, man könnte es bei einer sorgfältigeren Visitation finden. – Er war hocherstaunt und fragte, ob ich denn in Deutschland nicht visitiert worden sei? Dann befahl er nochmals, meine Kleider zu durchsuchen, was denn auch mit aller Gründlichkeit geschah. Aber das übrige deutsche Geld und die Schere fand man trotzdem nicht.

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Über Warschau nach Petersburg

Über Warschau nach Petersburg

Drei Gendarmen begleiteten mich auf der Reise nach Petersburg. In Warschau, wo wir in der Nacht ankamen, erwartete mich ein Oberst der Gendarmerie. Wie die meisten Gendarmerieoffiziere war er sehr höflich und gesprächig.

„Sie sind an dem Tschigiriner Prozesse beteiligt?“ fragte er, und als ich das bejahte, fügte er zum Troste hinzu:

„Nun, das ist ja schon so lange her. Das war doch zur Zeit des polnischen Aufstandes? – Da kommt Ihnen das Manifest zugute, man wird Ihnen nicht viel anhaben.“

Zur Zeit des polnischen Aufstandes war ich noch nicht einmal acht Jahre alt! Das illustriert, wie wenig manche der Gendarmerieoffiziere über die politischen Prozesse Bescheid wissen, die doch ihr eigentliches Metier sind.

Die freundliche Teilnahme hinderte ihn natürlich nicht, meinen Wächtern die strengsten Verhaltungsbefehle zu geben, was ich im Wagen sitzend belauschen konnte.

„Habt mir gut Acht auf ihn! – Das Fenster darf nicht geöffnet werden; er darf den Wagen nicht verlassen. – Dass ihr nicht unterwegs schläft!“ flüsterte er.

Die Gendarmen aber ließen sich dadurch nicht stören, behandelten mich nach wie vor mit aller Zuvorkommenheit und zeigten nicht die geringste Furcht, dass ich ihnen davonlaufen könnte.

Als wir in Petersburg ankamen, erwartete uns ein Gendarmeriekapitän und führte mich in einer geschlossenen Droschke direkt nach der Peter-Pauls-Feste.


Peter-Pauls-Feste – Foto: Andrew Shiva

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VI. Die Peter-Pauls-Feste

VI. Die Peter-Pauls-Feste

Ein sonderbares Gefühl beschlich mich, als ich sah, dass man mich nach diesem Kerker führte, den die Regierung der Zaren speziell für die Staatsverbrecher eingerichtet hat, den man von alters her in Russland nur mit Schaudern nennt. Düstere Gedanken waren es, mit denen ich ihm nahte, aber auch die Neugierde stellte sich ein. Ich wusste wohl, dass in dieser Feste ein grausiges Regime herrscht, aber ich war eigentlich neugierig, es persönlich kennen zu lernen. Die Wirklichkeit entsprach in der Tat meinen Vorstellungen.

Kaum hatte man mich in irgendeine Kammer gebracht, als der Verwalter des Kerkers, Gendarmerieoberst Lesnik, mir befahl, mich bis auf die Haut zu entkleiden. Ein paar Gendarmen untersuchten mich aufs sorgfältigste und reichten mir dann, statt meine Sachen, Gefängniswäsche und einen gestreiften baumwollenen Kittel, wie sie in den Krankenhäusern üblich sind, und ein Paar Pantoffeln. Meine eigenen Sachen dagegen wurden fortgeschafft. Dann wurde ich in eine Zelle im Erdgeschoss eingeschlossen.

Alles ging hier lautlos vor sich, ohne jedes Geräusch, ohne dass jemand ein Wort sprach. Es war, als ob hier nicht Menschen jahrelang lebten, sondern als ob man in einem Totenhause wäre. Einzig die Glockenschläge der Uhr unterbrachen die Stille, wobei jedes Mal die Nationalhymne erklang: „Ehre, Ehre sei dir, russischer Zar.“

Die Zelle war geräumig, aber finster, da das Fenster ganz oben an der Decke sich befand; es war kalt hier, trotzdem es im Mai war; die Sonne drang hier niemals herein, und die Wände waren feucht. Außer der eisernen Bettstelle mit Strohsack, Kissen und dünner Baumwolldecke war ein gleichfalls eiserner Tisch und ein Sitzbrett vorhanden, beides an die Wand geschmiedet, und der übliche, einen Gestank ausströmende „Kübel“. Schon gegen 3 Uhr nachmittags herrschte hier Dunkelheit, obgleich in diese Zeit in Petersburg die bekannten „Hellen Nächte“ fallen, wo es überhaupt nicht dunkel wird. Vor allem aber machte sich die Kälte entsetzlich fühlbar, die wohl der Lage der Zelle zuzuschreiben war, besonders aber der unzureichenden Kleidung. Um mich zu erwärmen, marschierte ich bis zur vollsten Erschöpfung hin und her von einem Winkel in den anderen; kaum aber setzte ich mich auf einige Minuten nieder, so fror ich am ganzen Körper. Auch im Bette fühlte ich dieselbe durchdringende Kälte, weil die Decke gar zu luftig war. – Die Kost bestand aus einem Laib Kommissbrot von ungefähr zwei Pfund und dem Mittagessen aus zwei Gerichten, die nicht schlecht waren, doch war es zu wenig, und dazu waren die Speisen immer kalt, weil sie weit hergebracht wurden. Als Untersuchungsgefangener hätte ich mir aus eigenen Mitteln eine bessere Verpflegung verschaffen können, aber lange Zeit war es nicht möglich, weil die Gendarmen, die mich hergebracht, mein Gepäck und das Geld dem Gendarmerieoffizier übergeben hatten, und dieser hatte es an das Polizeidepartement abgeliefert. Am schlimmsten jedoch war, dass auch meine Brille auf diese Weise fehlte und ich somit nicht lesen konnte, was ebenfalls den Untersuchungsgefangenen gestattet wird. Es wurden mir daher die Tage und auch die Nächte unendlich lang. Ich versuchte alles Mögliche, um mir Beschäftigung zu verschaffen; ich versuchte Rechenexempel zu lösen, natürlich „Kopfrechnen“, weil Schreibzeug nicht bewilligt wurde, ich erzählte mir selber Geschichten und frischte alle Erlebnisse aus. Schließlich verfiel ich darauf, eine Zeitung „herauszugeben“. Wenn ich morgens aufgestanden und mich gewaschen hatte, aß ich ein Stück Brot, und dann „las ich meine Zeitung“. Erst kam natürlich ein „Leitartikel“ über eine höchst aktuelle Frage, dann die „Rundschau“, „Stadtnachrichten“, das „Feuilleton“ usw. Aber nach einigen Tagen war natürlich der Stoff erschöpft, und die „Spalten meiner Zeitung“ wurden recht uninteressant, dabei konnte dieses „Lesen“ nicht den ganzen Tag ausfüllen; übrigens war ich auch bei Nacht oft wach, weil die Kälte mich nicht einschlafen ließ; so lief ich denn auf und ab, auf und ab wie ein Tier in seinem Käfig.

Die Spaziergänge brachten gleichfalls keine Abwechslung in das ewige Einerlei, weil sie nur jeden zweiten Tag stattfanden und sehr kurz dauerten: die Zeit zum Einkleiden und Auskleiden eingerechnet – es wurden die eigenen Kleider zu diesem Zwecke hereingebracht – nur eine Viertelstunde. Dabei fanden sie in einem von hohen Mauern eingeschlossenen Gefängnishofe statt, wo natürlich zu dieser Zeit außer Gendarmen und Schildwachen niemand zu sehen war. Mit den wachthabenden Gendarmen das geringste Gespräch anzuknüpfen, auch nur auf die einfachste Frage eine Antwort zu erhalten, war absolut unmöglich. Was man auch fragen mochte, sie starrten einem direkt ins Gesicht und schwiegen.

Nach einigen Tagen fand ich jedoch einige Beschäftigung; ich vernahm ein leises und schwaches Klopfen, das irgend weither an der Wand vernehmbar war. Als ich einige Jahre vorher im Gefängnis saß, hatte ich gelernt, mich dieses Verständigungsmittels zu bedienen, und das verabredete Alphabet fiel mir sofort ein. [Für den deutschen Leser sei bemerkt, dass es sich um ein altes, von allen Staatsgefangenen oft angewendetes Mittel handelt. Die Buchstaben des Alphabets werden in eine bestimmte Anzahl Reihen gruppiert, zum Beispiel:

a b c d e f

g h i k l m

n o p r s t

u v w x y z

Man bildet also Worte, indem man jeden einzelnen Buchstaben durch eine Anzahl Schläge an die Wand bezeichnet, und zwar bezeichnet man erst durch die Zahl der Schläge die horizontale Lage, in welcher der Buchstabe steht, dann seinen Platz in dieser Reihe. Um zum Beispiel das Wort „ich“ zu bezeichnen, klopft man zweimal, kurze Pause, dreimal, längere Pause; einmal, kurze Pause, dreimal, längere Pause, zweimal, kurze Pause, zweimal. Eine langwierige Prozedur, aber Eingekerkerte haben Zeit im Überfluss; ganze lange Erzählungen werden auf diese Weise mitgeteilt. Nicht nur die Zellennachbarn können sich derart verständigen, sondern der Schall ist oft in weitabgelegene Zellen, wenn sie eine gemeinsame Mauer haben, hörbar. Der Übersetzer.]

Es ist schwer, meine Freude zu beschreiben, als ich die wohlbekannten Laute vernahm und glaubte, dass sie mir galten. Aber ich sollte mich bitter täuschen. Als ich durch Klopfen antworten wollte, sah ich alsbald, dass es nicht mir galt, sondern dass zwei Freunde sich hier unterhielten und auf meine Versuche, mich ihnen „vorzustellen“, nicht antworteten. Dieses Klopfen war in der Feste streng verboten, und die beiden wollten einen dritten, ihnen Unbekannten nicht in ihre Gesellschaft aufnehmen, weil sie fürchteten, bloßgestellt und der Möglichkeit, miteinander zu verkehren, beraubt zu werden. Ich musste mich darauf beschränken, zuzuhören, was sich die beiden in ihren kurzen Gesprächen mitzuteilen hatten. Es waren stereotyp wiederkehrende Sätze: „Guten Tag!“ – „Wie hast du geschlafen?“ – „Was treibst du?“ – worauf die Antwort erfolgte: „Guten Tag!“ – „Gut.“ – „Trinke Tee.“ Aber selbst um den Austausch derart nichtiger Phrasen beneidete ich die beiden. Ich erfuhr nicht einmal, ob da ein Mann und eine Frau miteinander sprachen oder zwei Männer.

Ich weiß nicht genau, wie lange es dauerte, bis ich zum ersten Mal verhört wurde, aber es sind sicher acht bis zehn Tage gewesen. Bis zu diesem Tage hatte man mich, seit ich in Russland war, nicht nur nicht verhört, sondern man hatte nicht einmal nach meinem Namen gefragt. Wie eine Sache, wie ein Postpaket, das von auswärts kam, wurde ich mit den entsprechenden „Begleitscheinen“ von einer Hand in die andere gegeben, ohne dass man sich für meinen Namen interessierte. Die Gendarmen schienen zu wissen, dass ich den Namen Buligin angenommen hatte, während ich in Wirklichkeit Deutsch sei; aber was ich eigentlich verbrochen, wussten meine Schutzengel nicht und schienen sich auch nicht dafür interessiert zu haben. In der Peter-Pauls-Feste bedurfte es auch eigentlich keines Namens; man redete mich hier in unpersönlicher Form an, oder richtiger, man redete überhaupt nicht, man verständigte sich einfach durch Gebärden.

* * *

Der Staatsanwalt als Landsmann

Eines Morgens wurden mir meine Kleider gebracht. Ich glaubte, es handle sich um den üblichen Spaziergang, wurde aber in ein Zimmer geführt, wo an einem mit blauem Tuche bedeckten Tische drei Herren in der Kleidung der Justizbeamten saßen. Mir wurde ein Stuhl angeboten, und einer der Beamten erklärte mir, er sei der Untersuchungsrichter „für besonders schwere Fälle“ am Petersburger Gerichtshof, Olschaninoff, dann stellte er den einen seiner Genossen als den Staatsanwalt Murawjeff [Den jetzigen Justizminister.] vor; den Namen des dritten erfuhr ich nicht.

Es begann das Verhör. Auf die Frage nach meinem Namen usw. antwortete ich sofort wahrheitsgemäß. Ich war bereits vorher zu dem Schlusse gekommen, dass ich nichts mehr zu verlieren und nichts zu hoffen hatte. Dann erzählte ich den wirklichen Verlauf des Attentats gegen Gorinowitsch, wobei ich natürlich keinen Namen Unbeteiligter nannte und nicht im geringsten versuchte, mich zu entlasten; ich wusste, dass ich niemand mehr helfen und noch weniger schaden konnte, wenn ich die volle Wahrheit sagte, weil alle irgend verdächtigen Personen, wie bereits erwähnt, schon fünf Jahre vorher abgeurteilt waren; mich selbst konnte ich ebenso wenig belasten wie entlasten, meine Strafe war ja von vornherein durch die Bedingungen der Auslieferung, die zwischen Russland und Baden vereinbart waren, bestimmt. Es blieb mir also nur übrig, im Interesse der historischen Wahrheit diese Episode unserer Bewegung richtig darzustellen. Das glaube ich auch erreicht zu haben.

Während des Verhörs, das der Untersuchungsrichter leitete, stellte auch der mir unbekannt gebliebene Beamte Fragen an mich. Es ging mir mit diesem Manne ähnlich wie mit Professor Thun in Freiburg – ich erkannte ihn nicht sofort; später zeigte es sich, dass ich ihn von Kiew her kennen musste, wo er 1877 in meinem Prozesse eine Rolle spielte; sein Name war Kotljarewski. Damals war er Vertreter des Staatsanwalts, jetzt bekleidete er den gleichen Posten am Appellationsgerichtshof in Petersburg, wo er speziell die politischen Prozesse zu leiten hatte. Obwohl dieser Mann bei den Revolutionären im schlechtesten Rufe stand und auch mit einem Attentat von Osinski und Genossen (im Februar 1878) bedroht wurde, freute ich mich gewissermaßen, ihm hier in der finsteren Peter-Pauls-Feste zu begegnen, es war immerhin ein bekanntes Gesicht, ein Landsmann aus Kiew. Auch er verhielt sich freundlich gegen mich, und bald hatten wir ein Gespräch angeknüpft und erzählten uns unsere Erlebnisse in den letzten Jahren. Um den Untersuchungsrichter, der unterdessen das Protokoll aufsetzte, nicht zu stören, setzten wir uns abseits nieder und plauderten in aller Gemütlichkeit. Er bemerkte, dass ich mich stark verändert hätte, seit wir uns zuletzt gesehen. „Nicht nur äußerlich, meine ich, aber auch Ihr Charakter hat sich stark verändert“, sagte er.

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