Kitabı oku: «Die Weltenwanderin», sayfa 5
Da war es mit Alexis Ruhe vorbei. Hätte sie nicht solche Kopfschmerzen, sie hätte noch viel lauter gesprochen. »Und für wen? Für dich, oder was? Du erklärst mir gar nichts richtig, ich weiß noch immer nicht, wer ich bin oder warum ich mich selbst angreife, oder was …« Eigentlich wusste sie, dass sie nicht fair war. Sie hasste es, wenn ihre Emotionen sie überwältigten. Trotzdem wollte sie endlich wissen, was Sache war.
Bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach Milan sie. »Du greifst dich an?«
»Die Kapuzengestalt, die du gesehen hast. Sie hatte mein Gesicht. Sie hat mich schon tagelang verfolgt, erst ist sie … sie ist …«
Als ihr Tränen in die Augen traten, presste sie die Lippen aufeinander. Sie würde jetzt nicht vor Milan weinen, nicht hier, nicht jetzt. Ein tiefer Atemzug beruhigte sie ein wenig. »Sie ist mir schon in meinen Träumen begegnet. Ich weiß, es klingt verrückt …« Noch einmal atmete sie tief durch.
Milan strich ihr über den Arm. »Hey, ist es nicht. Alles, was ich dir sagen könnte, klingt noch tausend Mal verrückter. Du kannst es mir erzählen.«
Aber da tauchten schon Fragen auf, die Alexis unbedingt stellen musste. »Wieso hast du mich überhaupt zu dir gebracht? Du hättest mich einfach dort liegen lassen können. Schließlich bin ich ja doch eine Gefahr für alle. Das hast du doch gesagt?« Bitterkeit lag in ihren Worten. Sie wollte nicht von einem Typen getröstet werden, der sie sowieso nur hängen lassen würde.
»Das sagte ich.« Er klang unglaublich sanft.
Verdammt, wäre seine Stimme nicht so … weich. Es ärgerte sie, dass er so selbstbewusst mit ihr sprach, während sie mit den Tränen kämpfen musste.
»Aber vielleicht habe ich es mir ja überlegt? Ich war weg, weil ich … meinen Informanten getroffen habe. Aber dann habe ich mich gefragt, warum all das eigentlich stimmen soll. Es stehen Geschichten über dich in Büchern, Alexis. Nicht hier, auf der Erde. Aber sie sind sowas wie Weissagungen und die meisten glauben, dass sie wahr sind. Vielleicht sind sie ja falsch? Ich habe ein paar Sachen herausgefunden, während ich weg war ... «
Alexis schluckte. »Du bist ganz schön launenhaft, weißt du das? Du kannst dich auch nicht recht entscheiden, was du über mich denken sollst. Aber vielleicht kannst du mir ja erzählen, was du weißt? Ich glaube, nur so kommen wir weiter.«
Milan nickte mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. »Würdest du mir erst erzählen, was gestern vorgefallen ist? Ich bin ziemlich neugierig, warum du in meiner Straße gelandet bist, und das auch noch verwundet.«
Das war nun der zweite Moment, in dem sie die Hitze in ihre Wangen steigen spürte. »Bringst du mir erst ein Glas Wasser? Bitte?« Ihr war aufgefallen, wie trocken ihre Kehle doch geworden war und so würde sie nicht weitersprechen wollen. Aber vor allem brauchte sie etwas, das sie in der Hand halten konnte, etwas, das ihre Kopfschmerzen linderte.
»Ich war mit ein paar Leuten feiern. Und dann war ich wohl … etwas angetrunken«, sagte sie, als Milan mit dem Wasser zurückkehrte und es ihr reichte.
Sie nahm einen Schluck »Danke.«
»Du warst angetrunken? Verdammt, dass ich da nicht dabei war …«
»Milan!« Entrüstet und vorwurfsvoll zugleich starrte sie ihn an. »Was wäre daran so spannend gewesen?«
»Du kannst sehr verkrampft sein.« Er grinste über das ganze Gesicht.
»Ach ja? Liegt wohl daran, dass ich mich nicht in der rosigsten Situation befinde. Willst du nun die Geschichte hören?«
Betreten klappte er den Mund zu und sah sie mit großen Augen an. In dem Moment hätte sie lachen können, so komisch fand sie seine Augen, die an die eines Kindes erinnerten. Als erzählte sie eine spannende Gute-Nacht-Geschichte. Nur dass diese meist gut ausgingen.
»Ich war also dort in der Bar und habe mich verdrückt, als es mir nicht gut ging. Zu Zoe habe ich gesagt, ich fahre mit dem Taxi nach Hause … Mist, wo ist mein Handy eigentlich? Ich wollte ihr noch schreiben, dass ich gut angekommen bin.«
»Es lag neben dir, als ich dich gefunden habe. Habe es hier hingetan«, meinte er und fischte ihr Handy aus einer Schublade, um es ihr zu geben.
Ein Anruf von ihrer Mutter, drei Nachrichten von Zoe.
»Mist, ich schreibe den beiden gerade mal, dass es mir gut geht …
Nachdem sie die Nachrichten verschickt hatte, legte sie ihr Handy beiseite.
»Jedenfalls hatte ich so den Drang, nach Hause zu laufen und da bin ich wohl bei dir in der Gegend gewesen.«
»Du wohnst ganz wo anders.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Ich sagte doch, ich war betrunken.«
Milan sah sie ungläubig an und schmunzelte schließlich. Ihr war bisher noch gar nicht aufgefallen, was für volle, wohlgeformte Lippen er hatte.
»Gut, ich habe nach dir gesucht«, gab sie zu, »ich wollte Antworten.« Sie seufzte und trank noch einen Schluck.
»Ich war also fast da, als die Gestalt mir entgegengekommen ist. Wie gesagt habe ich sie schon öfters gesehen. Sie meinte … Naja, das weiß ich nicht mehr so genau.«
»Hm«, machte Milan. »Nicht so wichtig?«
»Nicht so wichtig«, bestätigte Alexis, obwohl sie es besser wusste.
»Sie hat mich auf jeden Fall angegriffen, und irgendwie muss ich dann wohl das Bewusstsein verloren haben.«
»Wahrscheinlich hat sie nur auf die Gelegenheit gewartet, dich attackieren zu können. Du warst ungeschützt und allein, perfekt also. Aber es ist recht unwahrscheinlich, dass sie wirklich du als Person war. Es gibt Wesen, die ihre Gestalt ändern können. Vermutlich hat sich jemand in dich verwandelt.«
Jetzt war Alexis wirklich verblüfft. Hatte er den Verstand verloren? Leute, die ihre Gestalt verändern konnten? Wie im Film? Andererseits hatte sie auch keine bessere Erklärung dafür. Es sei denn, eine verlorene Zwillingsschwester war auf einmal aufgetaucht, um ihr eine Heidenangst einzujagen. Auch das klang eindeutig nach einem schlechten Film.
Sie schluckte. All das konnte doch kein Zufall sein. »Das wäre zumindest eine Erklärung …«
Sie schob die Bedenken in den Hintergrund. »Also verrätst du mir jetzt etwas darüber, woher du von April und mir wissen konntest? Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, was ich glauben soll, was meine Erinnerungen betrifft. Mal ist alles ganz klar und dann weiß ich plötzlich gar nicht mehr, ob es das ist, was ich wirklich erlebt habe.«
Seine Mundwinkel gingen erneut nach oben und er blickte ihr kurz in die Augen, bevor er sprach.
»Mein Informant«, er dehnte das Wort, »hat mir erzählt, dass es jemanden geben soll, der deine Fähigkeiten hat, nämlich die Dinge anders wahrzunehmen. Laut ihm nennt man dich wie gesagt Die Weltenwanderin, aber auch Das letzte Schattenkind. Als Weltenwanderin bist du die Vermittlerin zweier Welten, also der Erde und einer anderen Welt, zwischen denen du wechseln kannst. Auf der anderen Welt, Kaltru heißt sie, gibt es diese Leute, die die Gestalt wechseln können. Was bedeuten muss, dass sie einen Weg gefunden haben, hier her zu kommen … Oder getrickst haben.«
Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte, auch wenn sie nicht sagen könnte, woher. Ob es ihre Gabe war oder ihr Bauchgefühl. Auch wenn es ganz unglaublich klang und unlogisch. Es musste stimmen. Und trotzdem wehrte sich etwas in ihr. Das hier war kein Film, es war ihr Leben! Und auf einmal sollte sie eine komische Vermittlerin sein?
Milans Worte rissen sie aus ihren Gedanken. »Jedenfalls näherst du dich anscheinend immer mehr dem Menschen an. Die Rasse der Schattenkinder wird bald ausgestorben sein. Du bist die einzige Weltenwanderin, die eine Veränderung herbeiführen kann, sonst werden sich die zwei Planeten auslöschen. Das ist zumindest eine Version der Geschichte, die ich gehört habe. Die andere Version besagt, dass du der Auslöser des Ganzen bist und uns alle ins Verderben reißen wirst.«
Er musste sich räuspern, um weiter zu sprechen. »Daran will ich aber nicht glauben. Deswegen ist es mir so wichtig geworden, die Wahrheit herauszufinden. Dass du nicht mehr blind bist, das Schwinden deiner Kräfte, die neuen Erinnerungen – all das sind Anzeichen dafür, dass du schon bald keine Kräfte mehr besitzen und ein neues Leben führen wirst. Es sei denn, du erweckst sie erneut zum Leben.«
Plötzlich klopfte es an der Tür und Milan warf ihr einen schnellen Blick zu, den sie nicht zu deuten vermochte. »Ja?«
Die Tür öffnete sich und eine Frau mit Pferdeschwanz kam herein. Alexis fiel auf, dass sie die gleichen grauen Augen hatte, außerdem markante Wangenknochen. In ihrem Kopf wirbelten jedoch noch immer die neuen Informationen umher.
»Milan hat mir gesagt, eine Freundin sei heute zu Besuch. Ich wollte nicht stören. Ich habe Kuchen gebacken, habt ihr Hunger?«
In diesem Moment gab Alexis´ Bauch ein Knurren von sich, das ebenso ein Donnergrollen hätte sein können. »Ehm. Ja, schon.«. Gott, wie spät ist es? Habe ich bis zum späten Nachmittag durchgeschlafen?
»Wir kommen gleich runter«, fügte Milan hinzu und die Frau schloss lächelnd die Tür.
»Deine Mutter?«, fragte Alexis.
Milan nickte. »Ich glaube, sie hält dich für meine feste Freundin. Ich bringe sonst nie ein Mädchen mit.«
Alexis lächelte.
*
Gemeinsam traten sie den Weg nach unten an. Alexis krallte sich ans Geländer, weil die Wendeltreppe so steil nach unten verlief. »Und hier hast du mich hochgebracht?«
Die Vorstellung, dass sie in Milans Armen gelegen hatte, während er sie hier hochtrug, verursachte in ihr ein seltsames Gefühl.
Betont lässig führte sie dagegen ihre Schritte aus, was jedoch die festen Griffe um das Geländer nicht wettmachten. So ging Milan nur langsam hinter ihr her, während sie angestrengt versuchte, ihre Panik zu verbergen. Unten angekommen fiel ihr sofort etwas auf, was im Haus der Scotts nie herrschen würde: absolute Ordnung. Alles schien mehr oder minder ein System zu haben, selbst die Schuhe lagen geordnet und nach Farbe sortiert nebeneinander. Es war alles sehr hell, nicht nur wegen der großen Fenster, die die Sonnenstrahlen nur zu gerne durchließen. Nein, auch aufgrund der Einrichtungsgegenstände, die sie bewundern konnte. Im Esszimmer war alles weiß, beige oder schwarz und Milan passte mit seiner Mutter perfekt in das Bild. Die schöne Schwarzhaarige hatte sich ein roséfarbenes Oberteil ausgesucht und eine cremefarbene Hose dazu angezogen. Sie passte perfekt in diesen Raum, mit ihrer makellosen Figur, dem akkurat sitzenden Pferdeschwanz und der dezenten silbernen Kette um den Hals – man könnte sich schon beinahe unwohl fühlen. Sie wirkte so ganz anders als ihre eigene Mutter. Die sah wie eine typische Deutsche aus.
Milan stand seiner Mutter nicht nach: Seine schwarzen Haare glänzten im Sonnenlicht, sein graues Hemd war gebügelt und seine Hose – seine Jeans fiel aus dem Schema heraus, doch seltsamerweise tat das dem Anblick keinen Abbruch.
Alexis hätte sich noch nicht einmal umsehen müssen, um zu wissen, dass kein einziges Staubkorn auf dem überdimensional großen Fernseher lastete, der durch die offene Tür im Wohnzimmer zu sehen war. Ihr Blick fiel auf den Mahagonitisch, der liebevoll gedeckt war. Zunächst schien das Geschirr schlicht, doch bei näherem Hinsehen konnte man die Perfektion und Einzigartigkeit darin erkennen.
Alexis setzte sich verlegen, nachdem Milans Mutter sie begeistert angelächelt hatte. Auf den Tellern waren geschwungene Linien eingraviert, die in verschiedenen Tieren endeten: Ein brüllender Löwe war zu sehen, zwei kleine Vögel, die gerade davonschwirrten und ganz unten am Rand des Tellers befand sich ein Salamander. Alles war natürlich einheitlich in Weiß.
Sorgsam nahm Alexis die Kuchengabel in die Hand, als könne sie zerbrechen. Ein Auge befand sich ganz unten, dort, wo die Hand beim Umfassen nicht hinkam.
»Ich glaube, sie ist gerade zu beschäftigt.«
Ruckartig blickte Alexis auf, als die Worte sie erreichten. »Hm?«, fragte sie unsicher.
»Ach, wir haben uns nur gerade gefragt, ob du auch etwas essen willst, oder ob dir der Anblick unseres Bestecks reicht.« Es war offensichtlich, dass Milan versuchte, sich ein Lachen zu verkneifen.
Alexis verdrehte genervt die Augen. »Ha ha. Nein ehrlich, es wirkt ziemlich edel. Und alles hier ist … faszinierend. So hell. Ich …«
Als sie Milans hochgezogene Mundwinkel sah und wie er seine Lippen amüsiert aufeinanderdrückte, ließ sie die Gabel sinken und grinste. »... hätte wirklich gerne Kuchen, danke.«
Milans Mutter tat ihnen etwas auf, nicht, ohne ihren Sohn tadelnd anzusehen. »Sei nicht so gemein zu dem Mädchen. Tatsächlich ist es sehr altes Geschirr, das von Generation zu Generation in unserer Familie weitergegeben wurde. Und es ist wirklich schön zu hören, dass dir unser Haus gefällt. Milan führt dich bestimmt noch herum. Wann bist du eigentlich gekommen? Ich habe gar nichts mitgekriegt.«
Alexis fiel plötzlich ein Unterschied zwischen den Augen von Sohn und Mutter auf. Ihre Augen waren zwar genauso grau, doch in ihnen lag eine Kälte, eine Schärfe, die Milans Augen nicht hatten. Als könnten sie die Wahrheit durch bloßes Sehen erkennen, wohingegen seine Augen eher belebt wie schwebende Wolken schienen.
Doch Milan sagte nicht die Wahrheit. »Sie ist heute Morgen gekommen. Da ist dieses Referat für die Schule, zu dem wir verdammt worden sind. Ihr ging es nur nicht gut, deshalb sind wir noch nicht dazu gekommen.«
Alexis stocherte in ihrem Zitronenkuchen herum, während Milan sprach. Wie leicht ihm die Lüge doch über die Lippen kam. Instinktiv fragte sich Alexis, ob er wohl öfter log. Das erste zarte Stück landete in ihrem Mund, als Milans Mutter ihren Blick auf sie richtete. Wie klar ihre Augen doch waren!
»Freut mich, dass es dir jetzt schon besser geht.«
Ihr herzliches Lächeln ließ Alexis alle Sorgen beiseite wischen. Sie hatte schon fast Angst gehabt, dass Milans Mutter zu streng sein würde.
»Schmeckt dir der Kuchen? Du kannst mich übrigens Tamara nennen, wenn du willst.«
»Mache ich gerne. Ja, fabelhaft«, antwortete Alexis und lächelte zurück.
»Ihr kennt euch von der Schule, oder? Seit wann seid ihr noch gleich ein Paar?«
Alexis verschluckte sich und hustete heftig, um die Krümel aus ihrer Luftröhre zu bekommen.
»Wir sind kein Paar«, schaltete sich Milan ein und seufzte. »Nur, weil ich nicht viele Mädchen mitbringe, heißt das nicht, dass die Nächste gleich meine Freundin ist.«
Schnell griff Alexis nach der Wasserflasche, die mitten auf dem Tisch stand, schüttete sich etwas in ihr Glas und ließ die Flüssigkeit ihre Kehle hinabrinnen.
»Entschuldigt, das war mein Fehler«, erwiderte Tamara, sah jedoch keineswegs peinlich berührt aus, eher, als sei sie zu neuen Schlussfolgerungen gelangt.
»Jedenfalls kennen wir uns wirklich von der Schule«, sagte Alexis, nachdem sie ihr Glas abgestellt hatte. Schon länger, wollte sie hinzufügen, merkte aber dann, dass dies ja nicht stimmte. Sie waren nie lange gemeinsam zur Schule gegangen, denn Alexis kannte ihre Vergangenheit nicht. Tamara nickte nur nachdenklich, während sie genüsslich weiteraßen.
»Trägt jeder von euch dieses Tattoo in der Familie?«, fragte Alexis mit einem Mal, woraufhin sie nur fragende Blicke erntete.
»Ihr Beide tragt ein Symbol auf der Hand. Ein Auge, das von Schwingen umspielt wird. Ist es kein Tattoo?« Sie deutete mit der Gabel auf die Hände der Beiden.
Die kurze Stille, die nun herrschte, war mehr als seltsam, sodass Alexis sie rasch überbrücken wollte. »Bei Milan ist es mir bisher noch nicht aufgefallen. Aber offenbar ist es ebenfalls eine Familientradition, oder? Es sieht haargenau aus wie bei dir, Tamara.«
Die sonst so gefasste Frau zuckte merklich zusammen, bevor sie ihr antwortete. »Ja, es ist wirklich so etwas wie eine Familientradition. Es ist gewissermaßen das Symbol unseres Stammes. Aber ein echtes Tattoo ist es nicht, dafür wäre Milan auch zu jung ...«
Milan klang nun etwas genervt. »Jetzt fängt das wieder an, immer bin ich für alles zu jung ...«
Tamara lächelte mit ihren schmalen, glänzenden Lippen. »Darüber reden wir ein anderes Mal.«
Milan gab nur ein »Mhm« als Antwort und lehnte sich dann zurück.
Alexis konnte nur den Kopf schütteln. Sie wäre froh gewesen, wenn ihre Mutter so frei mit ihr reden würde, wie es Tamara mit Milan tat. Stattdessen tauschten sie kaum ein Wort.
»Und was machst du gerne in deiner Freizeit, Alexis?«, fuhr Tamara fort und riss sie damit aus ihren Gedanken.
Ja, was machte Alexis in ihrer Freizeit? Sie versuchte, an Erinnerungen zu kommen, die irgendwo tief in ihrem Hinterkopf schlummern mussten. Erinnerungen, von denen sie wusste, dass sie nicht wahr sein konnten. Also musste sie sich wohl oder übel etwas ausdenken. Aber sie hatte ja noch ihre neuesten Ereignisse ...
»Ich gehe gerne ins Kino«, fing Alexis an. »Und ansonsten mache ich gerne was mit Freunden.«
»Spielst du auch ein Musikinstrument?«
»Ja«, riet Alexis und sagte, was ihr als Erstes in den Sinn kam, »Ich habe mal ein wenig Klavier gespielt ...«
»Ach, wirklich?« Tamaras Augen leuchteten jetzt auf. »Zufällig haben wir einen Flügel im Wohnzimmer stehen. Willst du es nicht mal versuchen? Milans Sache war es ja nie so richtig. Es wäre wirklich schön, wenn jemand die Töne noch einmal zum Erklingen bringen würde. Seitdem mein Mann uns verlassen hat, steht es unbenutzt dort. Ich wische noch schnell den Staub weg, dann kannst du anfangen.«
Das Ganze sagte sie in einer solchen Geschwindigkeit, dass Alexis keine Chance hatte zu widersprechen. Stattdessen versuchte sie, die Panik zu verbergen, die ihr bestimmt ins Gesicht geschrieben stand. Von der Seite aus musterte Milan sie skeptisch.
Als die Beiden aufstanden, kam er ihr kurz näher. »Du spielst gar kein Klavier, oder?«, raunte er ihr zu.
Sie schüttelte nur leicht mit dem Kopf, aber es war zu spät.
»Ich weiß gar nicht, ob ich das noch kann«, sagte Alexis daher laut, sodass auch Milans Mutter es hören konnte.
Tamara winkte entschlossen ab, während sie sie in das Wohnzimmer führte. »Das wirst du schon sehen. Ein bisschen was wird bestimmt hängen geblieben sein.«
Alexis schluckte, während sie sich der offenen Tür näherte. Den Fernseher hatte sie schon durch den Schlitz gesehen, aber nun, da sie den Raum betrat, nahm sie auch die übrigen Objekte wahr. Ein weißes Sofa stand fast in der Mitte des Zimmers, daneben zwei Sessel. Ein hellblauer Teppich bedeckte den blankpolierten Boden. In zwei Ecken waren volle Bücherregale zu sehen, die bis an die Decke reichten, und in der dritten Ecke stand …
»Der Flügel, er wartet auf dich.« Tamara winkte sie zu sich. Alexis, die schüchtern von einem Fuß auf den anderen getreten war, ließ sich unsicher auf dem Stuhl nieder.
Sie betrachtete die weißen und schwarzen Tasten. Etwas in ihr pochte laut und es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, dass es nicht ihr Herz war. Es war ein Gefühl, eine Schwingung. Wie eine Welle an den Strand kam sie an die Oberfläche und ließ sie ein Kitzeln in den Fingerspitzen spüren. Sie schloss kurz die Augen, legte die Finger auf die Tasten. Sie stellte sich das Klavier im Geiste vor, seine Klänge und die Stimmung, die es dadurch verbreiten würde. Wie ein Bach floss sie in das Wesen des Instruments hinein, bis sie sagen würde, dass sie es in- und auswendig kannte. Und dann glitten ihre Finger über die Tasten, erst langsam und bewusst, dann immer schneller.
Sie spielte ein Lied, doch welches? Kein Ton ging daneben, die Etüde gelang ihr, als hätte sie sie schon tausend Mal gespielt. Mit dem Körper wippte sie leicht vor und zurück, gefühlvoll strich sie über die Tasten und hatte das Gefühl, in dem Lied zu fliegen, zu reisen und erst, als der letzte Ton verklungen war, wusste sie, dass die Melodie nur für den Moment ihr gehört hatte. Sie hatte noch nie gespielt, nein. Aber ihre Fähigkeit, Dinge zu erspüren, ihr Wesen zu erkennen, die hatte sie nicht verloren. Zumindest hatte sie sie für den Augenblick zurückgeholt und nun, da er vorbei war, schien es seltsam leer in ihr.
Tamaras aufgeregtes Klatschen nahm sie kaum wahr, bis sie sich schließlich umdrehte und ein Lächeln versuchte.
»Du und nicht lange gespielt? Du bist ein Naturtalent!«, sagte Tamara mit einem Strahlen im Gesicht.
Aber Milan hatte die Arme vor der Brust verschränkt, was sich Alexis nur schwer erklären konnte. »Ich glaube, wir müssen dann mal mit dem Referat anfangen, sonst wird es zu spät.«
Alexis klappte den Deckel hinunter, bevor sie aufstand. »Danke für den Kuchen und die Möglichkeit, zu spielen.«
Dann folgte sie Milan, der den Raum auffallend schnell verließ.
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