Kitabı oku: «Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46», sayfa 2
Was war mit „humanity“ gemeint? Aus dem Gebrauch des Begriffs „crimes against humanity“ bzw. „crimes contre l’humanité“ in den Nürnberger Verfahren selbst wie auch in der weiteren Entwicklung dieses Tatbestands im Völkerstrafrecht geht hervor, dass sich „humanity“ hier nicht auf einen Mangel an Menschlichkeit bezieht, sondern darauf, dass diese Verbrechen sich gegen die Menschheit bzw. „das Gewissen der Menschheit“ als Ganzes richteten.20 Für Shawcross waren „Crimes against Humanity“ solche, durch die „das Gefühl der Menschheit zutiefst verletzt“ wird.21 Der große rumänische Völkerrechtler Vespasien Pella formulierte den Sinn des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschheit“ einige Jahre später prägnant: „Was diese Taten zu Verbrechen gegen die Menschheit macht, ist die Tatsache, dass sie ihrem Wesen nach gegen das Menschengeschlecht [le genre humain] gerichtet sind.“22 Auch der französische Richter am IMT, Donnedieu de Vabres, betonte, dass von den beiden Bedeutungen von „humanité“ bzw. „humanity“ als „Menschheit“ und „Menschlichkeit“ die erstere die angemessene sei.23 Dieser Sinn war in Nürnberg durchaus klar. Was ein Problem bereitete, war die Frage, ob diese Verbrechen als eigenständiger Tatbestand nach internationalem Recht gelten konnten. Das IMT blieb hier sehr zurückhaltend, vor allem im Urteil, und zog es vor, diese Verbrechen, einschließlich der Vernichtung der Juden, im Kontext der Kriegsverbrechen zu sehen.24
So zeigt sich, dass eine gründliche und kritische Lektüre dieser historischen Texte nicht nur einen Einblick gewissermaßen in die Werkstatt dieses „Meilensteins“ des Völkerrechts geben kann, sondern auch zu Fragen führt, die bis heute kontrovers diskutiert werden. Der Blick zurück auf „Nürnberg“ bringt für diese Fragen keine Lösungen, aber er hilft, sie besser zu verstehen, und zu erkennen, dass auch die Fragen historisch geprägt sind und immer neu formuliert werden müssen.
Der vorliegende Band entstand im Rahmen der langjährigen Arbeit im Nürnberger Menschenrechtszentrum zu den Nürnberger Prozessen und seinen Nachwirkungen.25 Unser besonderer Dank gilt Andreas Gehring, Jonas Nußbaumer, Olga Lévesque und Henrike Claussen für die Unterstützung bei Recherche und Korrektur, sowie Helmut Altrichter, John Barrett, Gerd Hankel, Natal’ja Lebedeva, Kerstin von Lingen und Alfons Söllner für ihre konstruktiven Kommentare.
1 UN-Resolution 95 (I), 11. Dezember 1946.
2 Schon der britische Ankläger Hartley Shawcross bezeichnete das IMT als „Markstein [im Original „milestone“] in der Geschichte der Zivilisation“ (in diesem Band S. 472), die Metapher vom Meilenstein durchzieht die Literatur zum Nürnberger Prozess bis heute, vgl. z.B. Tomuschat, Legacy.
3 van Boven, Jeder Mensch, S. 116.
4 Vgl. Kirchheimer, Politische Justiz, Kap- VIII, S. 447 ff.
5 In diesem Band S. 61.
6 Vgl. Kosfeld, Nürnberg.
7 S. dazu die Beiträge zu Jackson und de Menthon.
8 NP.
9 NP Bd. 1: „Dieser Band ist gemäß den Weisungen des Internationalen Militärgerichtshofes vom Sekretariat des Gerichtshofes unter der Autorität des Obersten Kontrollrats für Deutschland veröffentlicht.“
10 S. den Essay zu Jackson in diesem Band, S. 58, Fußnote 139.
11 „Nachts mussten wir das Gestammel („gibberish“) korrigieren, das am Tag mitgeschrieben worden war.“ So formulierte es der IMT-Dolmetscher Peter Less (Gesse, Legend).
12 Der gut englisch sprechende Angeklagte Rosenberg machte von solchen Einwänden besonders ausgiebig Gebrauch, s. Kalverkämper, Erstbewährung, S. 110ff.
13 Die IMT-Dolmetscherin Marie-France Skuncke berichtet, dass z.B. die groben Beleidigungen Julius Streichers nicht ins Protokoll aufgenommen wurden (Skuncke, Tout a commencé). Oder auf Verlangen der sowjetischen Delegation wurden bestimmte Passagen gestrichen, s. dazu den Essay zu Rudenko in diesem Band.
14 Ramler, Prozesse, S. 81f.
15 So der Dolmetscher Peter Uiberall, zitiert in Baigorri-Jalón, From Paris, S. 226.
16 Gaiba, Origins, S. 51f.
17 Im Deckblatt des ersten Bandes der Protokolle heißt es: „Veröffentlicht in Nürnberg, Deutschland, 1947“. Der letzte Protokollband (Band 22) erschien im Jahr darauf, die restlichen 20 Bände mit Indices und Dokumenten dann 1949. Dies gilt für die deutsche und englische Ausgabe der Protokolle und Dokumente. Dieser enorme editorische Kraftakt zeugt von dem Wert, den die US-Militärregierung der Verbreitung des Prozesses im Kontext ihres Re-education-Programms zuschrieb. Zum Herausgeberstab gehörte auch Jacksons Sohn William.
18 Auch die erste, inoffizielle deutsche Übersetzung von Shawcross’ Eröffnungsrede hat das richtig erfasst und „Crimes against Humanity“, anders als in den Protokollen, durchgängig mit „Verbrechen gegen die Menschheit“ übersetzt (Shawcross, Rede).
19 S. den Beitrag zu Rudenko in diesem Band.
20 Huhle, Umgang.
21 NP Bd. 3, S. 108. In der englischen Fassung steht an dieser Stelle „shocking the sense of mankind“, eine weit klarere Formulierung als die gefühlige deutsche Übersetzung.
22 Pella, Memorandum, S. 348.
23 Donnedieu de Vabres, Modern Principles, S. 238, Fußnote 66.
24 S. den Beitrag zu Shawcross in diesem Band.
25 Vgl. Nürnberger Menschenrechtszentrum, Von Nürnberg nach Den Haag.
Otto Böhm / Rainer Huhle
„Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation.“
Zur Eröffnungsrede des amerikanischen Hauptanklägers Robert H. Jackson
Robert Houghwout Jackson ist mit Abstand der meistzitierte und am besten erinnerte Protagonist des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses (International Military Tribunal – IMT). Im historischen Gedächtnis des Prozesses ist Jackson die prägende Figur, sein Gesicht ist das der Anklage, ja überhaupt der Idee dieses Strafgerichtshofes.1 Er war der entschiedenste Verfechter eines internationalen Tribunals gegen die Hauptverantwortlichen der NS-Verbrechen und der wesentliche Organisator des Verfahrens. Er war Chef des amerikanischen Office of the Chief of Counsel for the Prosecution of Axis Criminality (OCCPAC) und ab 1945 amerikanischer Delegationsleiter, als die vier Mächte in London das Gerichtsstatut, die Anklagepunkte und die Verfahrensweisen des IMT ausarbeiteten. Der Bedeutung seiner Mission war sich Jackson stets bewusst.2 Hartnäckig und zielbewusst setzte er seine Positionen auf der Londoner Konferenz durch. Das am 8. August 1945 verabschiedete Statut war auch ein persönlicher Triumph für ihn und seine Konzeption der Bestrafung der NS-Verbrecher: Wie seit 1941 von Churchill und Roosevelt angekündigt, war eines ihrer Kriegsziele die „Bestrafung von Kriegsverbrechen“, durchzuführen durch die „Vereinten Nationen“,3 also die Alliierten. In Jacksons und seiner Verbündeten Vorstellung sollte dies in Gestalt eines förmlichen Gerichtsverfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher geschehen. Dies war in der US-Regierung nicht unumstritten.
Im Januar 1945 hatten sich Kriegsminister Henry Stimson und Justizminister Francis Biddle (der später der amerikanische Richter am IMT wurde) mit Präsident Roosevelt und dessen Rechtsberater Samuel Rosenman darauf geeinigt, dass vor einem ordentlichen Gericht Anklage erhoben werden sollte. Damit hatte sich diese Position in der Roosevelt-Regierung endgültig gegen die Fraktion von Finanzminister Henry Morgenthau durchgesetzt, der nicht nur Deutschland zu einem Agrarland machen, sondern auch ausgewählte NS-Täter („Erzkriminelle, deren offensichtliche Schuld allgemein anerkannt ist“) nach ihrer Identifizierung ohne Gerichtsverfahren erschießen lassen wollte.4
Zu den Unterstützern einer rechtsförmigen Bestrafung zählte auch der Stellvertreter des Verteidigungsministers, John J. McCloy, später Präsident der Weltbank (1947–1949) und anschließend Alliierter Hochkommissar für Deutschland (1949–1952). Nachdem sich während der Konferenz von Jalta im Februar 1945 die drei Hauptalliierten auf ein Internationales Militärtribunal geeinigt hatten, fuhr Roosevelts Berater Samuel Rosenman zu weiteren Planungen zur Gründungskonferenz der UNO nach San Francisco. Dort konnte er im Mai den Außenministern Eden, Molotow und Bidault ein erstes Konzept vorlegen, dessen Fassung im Wesentlichen von Robert Jackson stammte.5 Am 2. Mai wurde Jackson dann von Präsident Harry Truman (Roosevelt war überraschend am 12. April gestorben) zum Hauptankläger und verantwortlichen Organisator der Vereinigten Staaten für das Militärtribunal ernannt. Am 22. Mai flog er, begleitet von Colonel John Amen, zu ersten Gesprächen nach London, im Juni begann er mit den konkreten Vorbereitungen für das International Military Tribunal (IMT).
Country Lawyer, New Deal Lawyer, General Attorney
Wer war der Mann, der da nach Europa kam und als “America’s advocate”6 das Bild der USA in Nürnberg so stark prägen sollte wie kein anderer? Seine Herkunft aus dem hart-arbeitenden, ländlichen Milieu Pennsylvanias mit Farmern, Friedensrichtern und Lehrern in der Verwandtschaft prädestinierte ihn nicht unbedingt zu einer Karriere in der Bundespolitik. Er selbst schreibt seine Entwicklung und seinen Aufstieg dem Einfluss seiner Lehrer und Lehrerinnen an der High-School in Jamestown/New York zu, die so viele Interessen in ihm geweckt hätten.7 Als politische Heimat betont er seine Herkunft aus einer Tradition von „kompromisslosen Demokraten“ in einer „überwiegend republikanischen Umgebung. Seine Lebensphilosophie wird – auch von ihm selbst – als religions- und ideologiefrei sowie als pragmatisch gekennzeichnet.8 Nach seinem Jura-Studium,9 das er gegen den Willen seines Vaters und ohne dessen Geld an der Albany Law School begann und schon nach einem Jahr zugunsten eines Referendariats im Anwaltsbüro Frank H. Mott (einem Verwandten mütterlicherseits) aufgab, ließ er sich im Jahr 1913 als selbstständiger Rechtsanwalt in Jamestown nieder. Als “country lawyer” entwickelte er die nötige Eloquenz, aber auch das Bedürfnis, dem „natürlichen Gerechtigkeitsgefühl bei Leuten ohne Bildung entgegenzukommen“.10
Seine Ziele aber waren höher gesteckt und zunehmend politisch. Der Rechtsanwalt wurde zum Vorsitzenden des lokalen Unterstützerkomitees für die Präsidentschaftskampagnen Woodrow Wilsons 1912 und 1916. Noch vor dem Ersten Weltkrieg lernte er dabei Franklin D. Roosevelt (“FDR”) kennen,11 der nach der Wahl Wilsons zu dessen Marine-Staatssekretär geworden war. Aber Jackson wollte nach den ersten Erfahrungen zunächst nicht weiter in die Politik einsteigen. Erst 1934 nahm er ein Angebot aus Washington an: Finanzminister Henry Morgenthau machte ihn zum Abteilungsleiter im Bureau of Internal Revenue (Einkommensteuer-Abteilung). Da Jackson Kartell-Gesetze und die Kontrolle des “Big Business” als eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit betrachtete,12 wechselte er zur Anti-Trust-Abteilung des Ministeriums. Seine Erfahrungen mit den Methoden der Wirtschaftsmonopole waren prägend für Jacksons Betonung des Verschwörungscharakters der NS-Verbrechen und der sie tragenden kriminellen Vereinigungen, die er dann in Nürnberg verfolgte. Den Grund für die ökonomischen Probleme der USA in den späten 20er und frühen 30er Jahre sah er in der sehr starken und schnellen Konzentration von Macht und Wohlstand. Der “New Deal”, das sozial- und wirtschaftspolitische Projekt, mit dem die Demokraten unter Präsident Roosevelt auf die Wirtschaftskrise ab 1929 reagierten, umfasste nicht nur weitreichende sozialstaatliche Vorhaben, sondern auch Maßnahmen gegen die großen Trusts. Parallel bildete sich eine neue, progressive Strömung in der Rechtsprechung heraus, die eine im europäischen Verständnis sozialdemokratische Perspektive vertreten hat und als “New Deal Justice” bezeichnet wurde.13 Jackson war ein prominenter Vertreter dieser “New Deal Justice”, sein Biograph Gerhart nennt ihn im Untertitel seines Buches treffend einen “New Deal Advocate”.14
Währenddessen waren die demokratischen Staaten in Europa schon lange „unter Feuer“15 revolutionärer, antidemokratischer Ideologien geraten. Jackson setzte sich des Öfteren mit der Konkurrenz zwischen ihnen und einer demokratischen Weltanschauung auseinander.16 Der “New Deal Advocate” reflektiert dabei selbstkritisch das Gerechtigkeits- und Wohlfahrts-Problem moderner kapitalistischer Gesellschaften und unterstreicht die amerikanische, vor allem eben auch seine eigene rechtspolitische Antwort in Gestalt einer neuen Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung.
Jackson und das Ende der US-amerikanischen Neutralität
Präsident Roosevelt berief Jackson 1940 zum “General Attorney”, der in den USA die Ämter des Generalstaatsanwalts und des Justizminister vereint. 1941 wechselte er an den Obersten Gerichtshof (Supreme Court) der USA. Außenpolitik war also weder sein primäres Arbeits- noch Interessengebiet. Die US-amerikanische Außenpolitik hatte jedoch inzwischen die Position der strikten, nach klassischem Völkerrecht gebotenen, in eine aktive Neutralität verändert, die es auch völkerrechtlich zu begründen galt. Dieser Aufgabe stellte sich Jackson vor allem in seiner Rede vom 27. März 1941 in Havanna, die sich an die lateinamerikanischen Nachbarn richtete.17 In ihrem allgemeinen Teil setzte sich Jackson mit der Unterscheidung von gerechten und ungerechten Kriegen, sowie der Angemessenheit des traditionellen Völkerrechtes auseinander. Er betonte emphatisch, dass das Völkerrecht zu den höchsten Gütern der modernen Zivilisation gehöre. Daran ändere auch nichts, dass es missachtet werde. Hier klingt schon die später in Nürnberg mit der Verteidigung ausgetragene Kontroverse über die Gültigkeit vor allem des internationalen Friedensrechts durch.
Was die Regeln der Neutralität angeht, begründete er seine (und Roosevelts) Ansicht, dass es eine „dritte Kategorie“ von Staaten außer den Kriegführenden und Neutralen geben müsse. Denn: Was ist zu tun gegenüber einem Staat, der die Regeln völkerrechtlicher Verträge, in deren Rahmen das Prinzip der Neutralität seinen Stellenwert hat, selbst systematisch bricht? Die USA müssten sich an der Seite Großbritanniens für die Erhaltung der völkerrechtlichen Strukturen gegen diejenigen engagieren, die sie zerstören.
Diese Veränderung bedurfte der innen- und rechtspolitischen Begründung und Durchsetzung, nicht zuletzt gegen die noch immer starken neutralistischen und antimilitaristischen Stimmungen im eigenen Land. Die Vereinigten Staaten waren politisch noch nicht „kriegstüchtig“. Die Verlängerung des “Selective Training and Service Act” (militärische Dienstpflicht) von 1940 wurde mit nur einer Stimme Mehrheit im August 1941 erreicht. Ebenfalls kontrovers war das “Lend-Lease”-Abkommen, das letztendlich eine kostenlose Unterstützung der Alliierten durch US-amerikanische Waffenlieferungen ermöglichte. In einem engen völkerrechtlichen Sinne aber waren die Vereinigten Staaten nach wie vor ein neutrales Land, dem eine konkrete militärische Unterstützung einer Kriegspartei nicht erlaubt war. In der Atlantik-Charta vom 14. August 1941 erklärte Roosevelt dennoch – zusammen mit Churchill – klar als Kriegsziel die Niederwerfung Hitler-Deutschlands und danach die Errichtung eines „demokratischen Friedens“. Im Artikel VI ist die Hoffnung formuliert, „dass nach der endgültigen Vernichtung der Nazi-Tyrannei ein Frieden geschaffen werde, der allen Völkern erlaubt, innerhalb ihrer Grenzen in vollkommener Sicherheit zu leben, und der es allen Menschen in allen Ländern ermöglicht, ihr Leben frei von Furcht und von Not zu verbringen.“ Erst im Dezember 1941, also nach der Kriegserklärung aus Deutschland, waren für Präsident Roosevelt „die Fesseln und Zweideutigkeiten“18 der Neutralitätspolitik beseitigt und der Weg für eine direkte Unterstützung Großbritanniens und später auch der Sowjetunion offen.
Der Weg in den Krieg an der Seite Großbritanniens bildete den Erfahrungshintergrund Jacksons, aus dem heraus sich seine Argumentationen für Nürnberg entwickelten. Aus dem Juristen wurde so der Rechtspolitiker und Völkerrechtler im Machtzentrum Washington. Justice Jackson gehörte vor allem als Bundesrichter, aber auch durch seine persönlichen Beziehungen zum Präsidenten zum Kreis der Männer,19 die die entscheidenden Konzepte für den Umgang mit Nazi-Deutschland in der Zeit nach dem Krieg ausarbeiteten. Zögernd und vorsichtig begann man auch auf Berichte von Kriegsverbrechen und Gräueln an den Zivilbevölkerungen (noch unter dem Sammelbegriff “atrocities”) zu reagieren. In einer Rundfunkrede erklärte Roosevelt am 12. Oktober 1942:
„Die Vereinten Nationen haben beschlossen, die Identität derjenigen Naziführer festzustellen, die für diese zahllosen barbarischen Akte verantwortlich sind. Jedes dieser Verbrechen wird sofort gewissenhaft untersucht und ständig wird Beweismaterial für künftige Gerichtsverhandlungen gesammelt“ 20
Untersuchung und Anklage von Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Gräueltaten waren damit Teil der Gesamtplanung geworden, aber auch die rechtlichen Schwierigkeiten kamen in den Blick – und konnten auch bis ins Frühjahr 1945 US-intern nicht ausgeräumt werden. In seinem Memorandum für den Präsidenten und die Außenminister vom 22. Januar 194521 geht Jackson bereits detailliert auf die juristischen Schwierigkeiten der Verfolgung von “atrocities” ein, die nicht mit dem Krieg zusammenhängen, also dem, was später als „Verbrechen gegen die Menschheit“ im Londoner Statut erscheint: Diese Vorkriegsverbrechen, seien weder Kriegsverbrechen im engen Sinn noch Verstöße gegen das Völkerrecht. Und ob sie gegen das von den Nazis ihrer Politik angepasste deutsche Recht verstießen, sei umstritten. Sein Argument dafür, dass die Verbrechen dennoch bestraft werden müssten, ist zu jener Zeit weniger juristisch als politisch. Es sei die erklärte Politik der Vereinten Nationen (d.i. der Alliierten), diese Verbrechen auch zu bestrafen. Dies sei auch erforderlich im Interesse einer Nachkriegs-Sicherheitsarchitektur, der notwendigen Umerziehung (rehabilitation) der Deutschen, und es sei auch Forderung der Gerechtigkeit.
Jackson in London
Ende Mai 1945 holte sich Jackson in London bei Lordkanzler John Viscount Simon die britische Rückendeckung für das US-amerikanische Vorgehen.22 Nach seiner Ernennung zum Leiter der US-Delegation für Nürnberg durch Truman am 2. Mai 1945 legte er mit Datum vom 6. Juni 1945 dem Präsidenten sein Konzept23 für das Verfahren vor, das dieser billigte und sogleich in die Medien brachte und damit die amerikanische Position festklopfte. Als Bundesrichter hatte er sich beurlauben lassen und hoffte, etwas naiv, nur „einen Sommer lang“ weg zu sein.24
Mit dieser präsidentialen Rückendeckung kam er im Juni 1945 zu den Londoner Gesprächen, durch die das IMT dann endgültig in Form des “Londoner Statuts” beschlossen wurde. Ende Juli flog er nach Potsdam zur Konferenz und ließ sich noch einmal ausdrücklich den politischen Segen für sein juristisches Konzept geben, notfalls auch um den Preis des Scheiterns.25 Dennoch verstand er es, Lösungen zu finden, mit denen alle einverstanden sein konnten oder auf amerikanischen Druck hin auch sein mussten. Starken Gegenwind gab es für Jackson und seine Delegation vor allem beim Anklagepunkt „Verschwörung“, den Frankreich und die Sowjet-Union nicht nachvollziehen konnten.26 Am 8. August unterzeichnete Jackson für die Vereinigten Staaten das Londoner Statut. Bevor der Prozess in Nürnberg startete, erklärte er am 9. September im New York Times Magazin,27 worauf es bei dem Statut besonders ankomme: Wer Angriffskriege führt, muss als Person angeklagt und bestraft werden, gerade wenn und weil Kriege immer die ganze Bevölkerung des gegnerischen Staates treffen; das sei bei modernen Kriegen schon ein Wesenszug geworden. Und auch die rassische und religiöse Verfolgung der eigenen Bevölkerung sei ein Verbrechen gegen die internationale Gemeinschaft.
Jacksons Quellen und Vorlagen
Bei aller Bewunderung, die schon die Zeitgenossen Jacksons Rolle in Nürnberg und insbesondere seiner Eröffnungsrede entgegenbrachten, ist klar, dass auch Jackson ebenso wie seine Kollegen der anderen Mächte dabei auf die Unterstützung eines großen Teams angewiesen war. Dies betraf nicht nur die zahlreichen Details der Anklage und ihr Beweismaterial, sondern durchaus auch substantielle Teile von Jacksons Argumentation. Bis Ende 1945 war sein Stellvertreter in Nürnberg General William J. “Wild Bill” Donovan, der seit 1942 den Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) aufbaute.28 Neben den im engeren Sinn geheimdienstlichen Spionagetätigkeiten unterhielt das OSS vor allem eine große wissenschaftliche Forschungsabteilung, den “Research and Analysis Branch” (R&A),29 die im Wesentlichen wissenschaftlich auf der Basis von zu 80–90 Prozent öffentlich zugänglichen Quellen arbeitete.30 Ihr Personal bestand hauptsächlich aus deutschen Emigranten aus dem Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Zu den bekanntesten Mitarbeitern des R&A gehörten die linken Sozialwissenschaftler und Juristen Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und vor allem Franz Neumann, der seit 1943 die Leitung der Forschungsabteilung für Nazi-Deutschland innehatte. Zu den Aufgaben dieser Abteilung gehörte ausdrücklich auch die Zuarbeit für die NS-Prozesse.