Kitabı oku: «Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46», sayfa 3

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Franz Neumanns „Speerspitzentheorie“ der Judenverfolgung

Franz Leopold Neumann, geboren 1900 als Sohn eines jüdischen Kleinhändlers in Kattowitz, studierte Jura, Ökonomie und Philosophie, nahm an der Revolution 1918 teil, wurde in der Weimarer Republik ein wichtiger Rechtsberater der SPD und Arbeitsrechtler der Gewerkschaften, musste schließlich 1933 fliehen, zunächst nach London, wo er eine zweite juristische Promotion erwarb, 1936 dann in die USA, wo er ohne feste Anstellung mit dem Institut für Sozialforschung arbeitete. Seine umfassenden Analysen des NS-Staates veröffentlichte er 1942 in dem Buch “Behemoth”, das bis heute zu den Standardwerken über den Nationalsozialismus zählt und 1944 in einer erweiterten Neuauflage erschien.31 Aufgrund dieser Arbeiten wurde er 1942 vom OSS angeheuert.

In einem seiner ersten Dokumente für das R&A bezeichnete Neumann den Antisemitismus (bzw. die Judenvernichtung) als „Speerspitze des universellen Terrors“ der Nationalsozialisten. In einer längeren Passage, die sich wortgleich auch in “Behemoth” findet,32 bezeichnete er die Judenvernichtung als lediglich ersten Schritt auf dem Weg der Nazis zur Vernichtung auch anderer Völker und der Zerstörung aller freien Institutionen, Religionen und Gruppen. „Man kann diese Theorie die Speerspitzentheorie des Antisemitismus nennen.“33 Dieser Ansatz stellte zwar keine Verharmlosung der Judenvernichtung dar, wie gelegentlich behauptet wird, denn Neumann arbeitete ihre Dimension klar heraus, aber er stellte sie nicht als etwas unvergleichbar Einzigartiges dar, sondern wies ihr stattdessen einen strategisch herausragenden Platz in der Kette der sonstigen NS-Verbrechen zu. Die Juden, meinte Neumann, seien das Experimentierfeld dafür gewesen, einen Feind aufzubauen und zu zerstören, da sie stark genug seien, dass man sie als Bedrohung darstellen konnte, aber zu schwach, um wirklich eine Gefahr zu bilden.34

Dieser analytische Ansatz, der sich deutlich von der damaligen sowjet-­kommunistischen Faschismustheorie, aber genauso von auf die Singularität des Holocaust zielenden neueren Interpretationen unterscheidet, liegt auch Jacksons Anklagerede zugrunde. Ohne Neumann zu nennen, erklärte er, man habe den Antisemitismus „zutreffend als „Lanzenspitze [spearhead] des Schreckens“ bezeichnet“.35 Fast wörtlich übernimmt er auch Neumanns Interpretation der Rolle der Judenverfolgung: „Sie waren wenig genug, um hilflos zu sein, aber zahlreich genug, um als eine Gefahr hingestellt zu werden.“36 Neumanns Grundthese, dass die Judenverfolgung Teil einer umfassenderen Politik sei, in der sie letztlich Mittel zu einem anderen, umfassenderen Zweck37 sei, durchzieht Jacksons Rede, entsprach sie doch perfekt seiner Vorstellung von einer Alles umgreifenden Verschwörung zur Kriegsvorbereitung:

„Die Verfolgung der Juden war eine ununterbrochene und vorsätzliche Politik, die sich gegen andere Völker in gleicher Weise richtete wie gegen die Juden selbst. Der Antisemitismus wurde gefördert, um die demokratischen Völker zu spalten und zu verbittern und ihren Widerstandsgeist gegen den Angriff der Nazis zu schwächen.“38

Doch ebenso wenig wie Neumann hindert ihn diese Sicht, die einmalige Ungeheuerlichkeit des Verbrechens an den Juden herauszustellen. Er führt die Zahl von 5,7 Millionen fehlenden Juden an und erklärt, „die Geschichte berichtet von keinem Verbrechen, das sich jemals gegen so viele Opfer gerichtet hat oder mit solch einer berechnenden Grausamkeit begangen worden ist.“39

Die Struktur der Anklage

Die von den vier Mächten ausgearbeitete Anklageschrift trägt in allen wesentlichen Teilen die Handschrift der Amerikaner. Zu den meistdiskutierten Besonderheiten der Nürnberger Anklage gehört zum einen, dass sie nicht nur gegen (ursprünglich) 24 Personen, sondern auch gegen sechs Organisationen gerichtet war. Das zweite waren die vier Anklagepunkte Verschwörung, Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, die bis auf den Punkt Kriegsverbrechen auch unter den Anklägern umstritten waren. Vor allem der Anklagepunkt der Verschwörung, der im Londoner Statut noch nicht als eigener Anklagepunkt enthalten war, wurde von Jackson mit großem Nachdruck vorgetragen.

Diese beiden entscheidenden Elemente der Anklageschrift wurden ebenfalls von den Analytikern des OSS vorgeformt, vermutlich wieder von Franz Neumann, der auch während der Beratungen in London im amerikanischen Stab anwesend war. Unter den OSS-Dokumenten für die Vorbereitung des IMT findet sich eines, das speziell der Anklage der NS-Organisationen gewidmet ist.40 Zweck des Dokuments war es, die Verantwortlichkeit der verschiedenen NS-Organisationen detailliert zu benennen. Der Entwurf setzt voraus, dass sowohl Personen als auch Organisationen angeklagt werden. Die Anklagepunkte, die den Organisationen darin vorgehalten werden sollen, stimmen mit den späteren Punkten der Nürnberger Anklage überein:

„Anklagepunkt 1: Verschwörung zum Zwecke der Weltherrschaft“

„Anklagepunkt 2: Illegale Kriege und Aggressionen sowie die Verletzung internationaler Abkommen“

„Anklagepunkt 3: Verletzung internationaler Regeln der Kriegführung“

„Anklagepunkt 4: Verbrechen im Inland“

Alle Anklagepunkte werden in dem Dokument detailliert ausgearbeitet und den zahlreichen NS-Organisationen und ihren Untergliederungen zugeordnet. Bemerkenswert ist der vierte Anklagepunkt, der später in der Nürnberger Anklage als „Verbrechen gegen die Menschheit“ erscheint. Aus der Formulierung „Verbrechen im Inland“ wird der Ausgangspunkt dieses Tatbestands deutlich, der gerade die nationalsozialistischen Verbrechen erfassen sollte, die nicht mit dem Krieg zusammenhängen, aber dennoch so gravierend sind, dass sie unter internationales Recht fallen.41 Diese Intention wurde schon im Art. 6 c) des Londoner Statuts verwässert und im IMT-Urteil dann vollends fallen gelassen.

Zeugen oder Dokumente?

Jackson bestand bekanntlich darauf, dass die Beweisführung gegen die Angeklagten sich möglichst ausschließlich auf deutsche Dokumente stützen sollte, von denen die Anklage aus insgesamt über 100.000 zunächst 10.000 auswählte, von denen dann immer noch 4.000 übersetzt und in das Verfahren eingeführt wurden.42 Diese Strategie stieß innerhalb und außerhalb der US-Delegation auf beträchtlichen Widerstand. Aus verschiedenen Gründen widersetzten sich so wichtige Mitarbeiter Jacksons wie Telford Taylor, Sidney Alderman und allen voran William J. Donovan, Jacksons Wunsch, auf Zeugen möglichst zu verzichten. Mit General Donovan, dem Gründer und Chef des OSS, kam es u.a. darüber zum Zerwürfnis, so dass Donovan im Oktober 1945 den Stab verließ. Viele waren der Meinung, die sich dann ja auch bewahrheitete, dass ein Prozess nur auf der Basis der Dokumente seine mediale Wirkung verlieren und damit ein wesentliches Ziel, nämlich die Öffentlichkeit zu erreichen, verfehlen würde. Für Donovan ging es aber auch darum, durch die Präsentation von Belastungszeugen aus dem Bereich nicht der Opfer, sondern des inneren Zirkels der Herrschaft, die Verteidigungsfront der Angeklagten psychologisch und publikumswirksam zu erschüttern.43 Jackson setzte sich zwar durch, dennoch erschienen im Prozess neben den 61 Zeugen der Verteidigung und den in den Zeugenstand gerufenen Angeklagten selbst auch 33 von den Anklägern aufgerufene Zeugen, darunter hohe Militärs wie Paulus und Lahousen, die im Sinn Donovans die Angeklagten verunsicherten und großes Interesse bei den Medien fanden.

Die Auswahl der Angeklagten

In der Mitte seiner Rede, kurz ehe er auf das zu präsentierende Filmmaterial eingeht, macht Jackson seiner Empörung über die „Verkommenheit der Nazis“ einmal mehr mit Beispielen Luft:

„Neben allem Grausamen in diesen Versuchen stand das schmutzig Widerwärtige, nicht aus der Verkommenheit Untergeordneter entstanden, sondern ersonnen von führenden Köpfen der Nazi-Verschwörung. Am 20. Mai 1942 ermächtigte Generalfeldmarschall Milch den SS-Obergruppenführer Wolff, im Lager Dachau mit sogenannten „Kälteversuchen“ zu beginnen.“ 44

Es ist das einzige Mal, das Jackson Karl Wolff in seiner Rede erwähnt. Im Prozess selbst taucht sein Name jedoch viele Male auf, vor allem, wenn die von Jackson angesprochenen medizinischen Experimente zur Sprache kamen, z.B. auch im Verhör Görings. SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff war 1. Adjutant Himmlers und sein Verbindungsmann zu Hitler, später der oberste SS-Kommandant und teilweiser Kommandierender der Reichswehr in Italien. Im Rahmen der “Operation Sunrise”,45 der Teilkapitulation der Wehrmacht in Italien, hatte er sich den Amerikanern übergeben. Vielen hatte er als der zweite Mann hinter Himmler in der SS gegolten. Warum stand dieser höchstrangige SS-Mann nicht in Nürnberg vor Gericht, sondern „nur“ Kaltenbrunner?

Die übliche Erklärung für die Auswahl der im IMT Angeklagten ist, dass sie die gesamte Elite der Naziherrschaft abbilden sollten, möglichst in ihren obersten Rängen. Auch dieses Prinzip geht letztlich auf Franz Neumann zurück, der im “Behemoth” vier Machtgruppen identifizierte, die aus seiner Sicht im Nationalsozialismus an die Stelle des Staates traten: Die Partei samt ihren Sonderorganisationen und dem Sicherheitsapparat; die Wehrmacht; die Bürokratie; und die Industrie.46 Gerade letzterer galt die Aufmerksamkeit des langjährigen Gewerkschaftsanwalts Neumann besonders, und das viel kritisierte Insistieren Jacksons auf der Anklage gegen Gustav Krupp im IMT, und notfalls ersatzweise dessen Sohn Alfried,47 lässt unschwer Neumanns Konzept erkennen,48 das in diesem Punkt ja auch Jacksons eigenen Erfahrungen als Leiter der amerikanischen Anti-Trust-Behörde entsprach.

Mit dieser Ausnahme spiegelte die Anklagebank allerdings durchaus das Konzept der Elitenrepräsentanz, obgleich sich auf der Anklagebank ein Göring sicher nicht auf einer Stufe mit Streicher gesehen hat. General Milchs Auftritt beim IMT als Zeuge statt als Angeklagter erklärt sich, wie die Zeugenauftritte anderer hochbelasteter Täter, durch die Anwesenheit der höherrangigen Keitel und Jodl, und immerhin wurde Milch im zweiten Nachfolgeprozess zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Wolff aber stand weder im IMT noch im Ärzteprozess auch nur als Zeuge vor Gericht, lediglich im Verfahren gegen das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (als Pohl-Prozess bekannt) rief man ihn als Zeugen. 1948 wurde er schließlich in einem Entnazifizierungsverfahren zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt. Doch gehörte er später zu den wenigen hochrangigen NS-Tätern, die vor einem deutschen Gericht verurteilt wurden. Wegen Beihilfe zum Mord an 300.000 Juden erhielt er vom Münchner Landgericht 15 Jahren Haft, von denen er vier verbüßte.49

Warum also wurde dieser hochrangige SS-Mann, der sich in amerikanischem Gewahrsam befand, in den Nürnberger Prozessen nicht angeklagt? Neuere Forschungen haben dazu eine schlüssige Antwort. Die OSS-Chefs, insbesondere Allen Dulles, der die Kapitulationsverhandlungen mit Wolff geführt hatte, und General Donovan wollten vermeiden, dass Wolff Gelegenheit erhielt, öffentlich über Details der Kapitulationsverhandlungen zu sprechen, die hinter dem Rücken der Sowjetunion stattgefunden hatten.50 Ob Jackson selbst von den Gründen, warum Wolff nicht auf der Anklagebank sitzen sollte, informiert war, geht aus den veröffentlichten Akten nicht hervor. Die Episode wirft jedoch aufschlussreiches Licht darauf, dass die wichtigen Zuarbeiten des OSS und seines R&A Teams an das IMT auch einen Preis haben konnten.

Die Rede

Zwölf Jahre lang waren aus den Rundfunkempfängern in Deutschland aufpeitschende und hasserfüllte Reden gekommen. Am 21. November 1945 konnten die Deutschen erstmals wieder eine große Rede hören, die nicht aus dem Mund eines der vielen Hassproduzenten stammte. Manche reagierten enthusiastisch auf den Ton, wie zum Beispiel der Landesdirektor für Unterricht und Kultus in Nordbaden, Professor Franz Schnabel. Im Vorwort zu einer ersten Druckfassung von Jacksons Rede nennt dieser demokratisch und republikanisch gesinnte, 1936 zwangsemeritierte Historiker sie ein „Meisterwerk einer von tiefer ethischer Gesinnung getragenen Beredsamkeit“.51

„Dieser Redner erstrebt nicht durch die Macht der Sprache eine Herausstellung der eigenen Persönlichkeit, er will auch nicht andere durch Worte besiegen. Hier gibt es keine rhetorischen Explosionen. Was der Leser hier findet, ist eine Beredsamkeit, wie sie der angelsächsisch sprechenden Welt eigen und in ihr aufs Höchste ausgebildet ist: streng und verhalten gleiten die Gedanken am festen Faden dahin und lassen keine Lücken bestehen.“52

Ähnlich der amerikanische Romanautor John Dos Passos. „Jackson spricht langsam, mit ebenmäßiger Stimme, in einem erklärenden Ton. Nichts deutet darauf hin, dass er sich selbst für wichtiger hält als die Sache.“53 70 Jahre später sieht der Journalist Thomas Darnstädt einen eloquenten, klugen, schmeichelnden, nicht naiven, sondern berechnenden Paradejuristen und großen Pädagogen am Rednerpult, der es sogar schaffte „sein Publikum in eine Art Trance zu versetzen.“54

Im Folgenden wollen wir die Rede und ihre zentralen Begriffe und Argumente etwas nüchterner analysieren. Aufgabe und Ziel waren klar: Die Eröffnungsrede55 des Leiters der US-amerikanischen Anklagebehörde steht am Beginn des Gerichtsverfahrens gegen die Männer, die als Hauptverantwortliche des Systems vor Gericht standen. Als einziger der Hauptankläger hat Jackson offenbar seine Rede in den Wochen vor Prozessbeginn selbst geschrieben, teilweise sogar mit der Hand,56 natürlich, wie oben dargelegt, unter Rückgriff auf das Tatsachenmaterial und die Analysen, die der große Stab der amerikanischen Ankläger ihm zur Verfügung gestellt hatte.

Jacksons Rhetorik: „Die Nationen klagen an!“

Wen will Jackson mit seiner Rede überzeugen, wen spricht er an? Die Rede richtet sich zuerst an das Gericht, muss also eine überzeugende Prozessstrategie darlegen; dann natürlich an die Weltöffentlichkeit, die ein historisch-politisches Urteil über das NS-System erwartet, das noch vor kurzem Europa mit Gewalt beherrscht hatte; an die Kritiker zu Hause, die den Aufwand und den Nutzen des Unternehmens für die USA oder für eine zukünftige Welt hinterfragen; an die deutsche Öffentlichkeit, im Kontext der Bemühungen um eine “re-education”; und nicht zuletzt an eine skeptische völkerrechtliche Fachwelt.

Die Anklage trägt die Handschrift des Bundesrichters aus Washington. Hier im Saal 600 ist er aber zuerst der Sprecher des Kollektivs der Ankläger: Er spricht im „Wir-Ton“ – für die vier großen Nationen und die 17 weiteren Staaten, die sich dem Verfahren angeschlossen hatten. Damit erreicht er eine gewisse erhabene und geschichtlich-­bedeutsame Tonlage. Blickt man auf die Liste der Länder und denkt an das Leid auch der „kleinen“ Völker Europas, dessen Ende erst kurze Zeit zurücklag, wird man den Ton nicht als zu pathetisch empfinden. Es sind eben nicht nur die Sieger des Krieges, die als Eroberer kamen, um „Gericht zu halten“. Die Anklage sprach auch im Namen der Staaten, die überfallen worden waren und sich seit 1942 gegen die Achsenmächte als „Vereinte Nationen“ zusammengefunden hatten. Sie alle waren Opfer der Verbrechen, die Wehrmacht, Einsatzgruppen, SS und Gestapo, begangen hatten.

In der Beschreibung dieses Systems will der Redner zunächst noch nicht ins Detail gehen. Seine an den Anfang gestellte, nicht in juristischen, sondern moralischen Begriffen vorgetragene Empörung über die „ausgeklügelte Bosheit“, über „das Böse“, über das, „was die Welt noch nicht gesehen hat“,57 soll deutlich machen, dass es hier, im Gegensatz zu aller juristischen Nüchternheit, um mehr geht als nur um einen Strafprozess mit der Verurteilung einzelner Täter. Jackson ist sich der Notwendigkeit, in diesem Verfahren ohne historisches Vorbild strenge Strafprozesslogik und innovative Weiterentwicklung des Völkerrechts ins Gleichgewicht zu bringen, ständig bewusst. Er verlässt den engen juristischen Bereich und stellt den Prozess in eine weltpolitische Perspektive, der er dienen will: Mit rechtlichen Mitteln, die den Nationen zur Verfügung stehen, müssen die Verantwortlichen für diese Verschwörung zum Angriffskrieg verurteilt werden, um ihn zukünftig zu verhindern. Dazu rückversichert sich Jackson mit dem regelmäßigen Bezug auf das Londoner Statut und auf die Stationen, die zu ihm geführt haben, beginnend mit den „Anweisungen“ (…) „seines“ Präsidenten Roosevelt.58 Aber auch wenn sie sich auf das „Wir“ der gemeinsamen London-Charta beruft, ist die Rede doch nicht nur als Konsens-Dokument zu lesen, sondern trägt Jacksons sehr persönliche Handschrift.

Woher kann das Gericht seine Legitimität und sein Verfahrensrecht nehmen?

Jackson kennt die Einwände und die Skepsis, die gegen die rechtlichen Grundlagen des IMT vorgebracht werden. Da ist es geschickt, erst einmal die Defizite und Schwächen einzugestehen: Die Kürze der verfügbaren Zeit, das Neue am Verfahren, die komplexen rechtlichen Koordinationserfordernisse.59 Und umgekehrt darauf zu verweisen, dass die Angeklagten, die jetzt auf der Einhaltung strenger rechtsstaatlicher Prinzipien bestanden, diese in nie gekannter Weise verhöhnt hätten. Diese Männer hätten sich nicht im Geringsten um das Gesetz gekümmert. Das Rückwirkungsverbot hätten sie bei ihren eigenen Rechtsbrüchen ganz und gar nicht beherzigt. Recht hätten sie gebrochen, wenn es ihnen im Weg war. Überhaupt sei ihr Verhältnis zum Recht rein opportunistisch gewesen, ohne Anerkennung bindender Normen. Sie könnten froh sein, jetzt vor einem ordentlichen Gericht zu stehen, im Gegensatz zu der Justiz, die unter dem Nationalsozialismus geherrscht habe.

Grundsätzliche Einwände: Rückwirkungsverbot und Siegerjustiz

Aber auch einige grundsätzliche Einwände gegen den Prozess nimmt Jackson schon in dieser Eröffnungsrede auf.

Zu diesen zählt, dass die Anklagepunkte gegen das Rechtsprinzip des „nulla poena sine lege praevia“, also gegen das „Rückwirkungsverbot“ verstießen. Er fragt, ob die Täter denn nicht gewusst hätten, dass sie nicht morden dürfen? Haben sie nicht die Unterlagen ihrer Verbrechen vernichtet, um sie zu vertuschen? Warum haben sie Geheimbefehle erlassen?60 Im Übrigen kennt das angelsächsische Recht, das sich weniger auf der Basis von geschriebenen Gesetzen als von Gerichtsentscheidungen (“case law”) entwickelt, kein so formales Verbot, ohne zum Zeitpunkt der Tat geschriebenes Gesetz zu urteilen.61 Beim Völkerrecht – und hier schließt er offensichtlich das Völkerstrafrecht mit ein – gebe es dieses Rückwirkungsverbot ohnehin nicht, denn Völkerrecht sei, so führt Jackson in einer längeren Passage aus, „mehr als eine gelehrte Sammlung abstrakter und unveränderlicher Grundsätze.“ Es bilde sich aus Vertrags- und Gewohnheitsrecht, und beides entwickle sich aus der Notwendigkeit, auf konkrete Situationen mit den Mitteln des Rechts zu reagieren. Das sei in der Geschichte des Völkerrechts so gewesen und heute nicht anders. Das Völkerrecht, so schließt Jackson sein Argument, „wächst, wie das gemeine Recht (“Common Law”)62 in Entscheidungen, die von Zeit zu Zeit getroffen werden, um festgelegte Grundsätze neuen Lagen anzupassen. Das Völkerrecht muß sich, soll es sich überhaupt entwickeln, wie das gemeine Recht (“Common Law”) von Fall zu Fall entwickeln, und zwar schreitet es immer auf Kosten derer fort, die es verkannt und ihren Irrtum dann zu spät bemerkt haben.“63

Ein zweiter grundsätzlicher Einwand richtet sich gegen die Legitimität des Gerichts selbst. Wie kann ein von den Siegermächten aus eigener Macht eingesetztes Sondergericht beanspruchen, dem Rechtsanspruch auf ein ordentliches Verfahren zu genügen? Dieser unter dem Stichwort „Siegerjustiz“ geläufigen Kritik, die bereits am ersten Tag des Prozesses von der Verteidigung vorgebracht und vom Gericht zurückgewiesen wurde, begegnet Jackson mit der Frage, welche Alternativen es denn gebe? Welche Neutralen seien denn übrig geblieben, um ein solches Verfahren durchzuführen? Und der Versuch, die Deutschen selbst zu Richtern über ihre Kriegshandlungen zu machen, sei schließlich nach dem Ersten Weltkrieg kläglich gescheitert.64 1945 musste nicht ausdrücklich gesagt werden, dass damit die Prozesse vor dem Leipziger Reichsgericht ab 1921 gemeint waren. Nach Artikel 227 und 228 des Versailler Vertrages sollte der deutsche Kaiser Wilhelm II. als Alleinverantwortlicher vor einem zu bildenden Internationalen Strafgericht verurteilt werden, erhielt aber von den Niederlanden Asyl. Frankreich hatte darüber hinaus eine Liste von deutschen Beschuldigten erstellt, die ebenfalls angeklagt werden sollten. In insgesamt 17 Verfahren kam es zu zehn Verurteilungen und sieben Freisprüchen, Hunderte weiterer Verfahren wurden eingestellt.65 Diese im Friedensvertrag geforderten deutschen Prozesse wurden von den Kriegsgegnern Deutschlands als inadäquat beurteilt.66

Dass staatliche Repräsentanten und Militärs nicht über dem Gesetz stehen, war somit für Deutschland keine neue Erfahrung. Jackson unterstrich das mit der Maxime, dass der Gedanke des Rechts nicht nur das Verhalten kleiner Leute beherrschen dürfe, sondern dass „auch die Mächtigen, die Herrscher selbst ‚Gott und dem Gesetz Untertan sind‘“, die schon ein oberster englischer Richter im 17. Jahrhundert gegen seinen König vertreten hatte67 – ein seltener Ausflug des Juristen in die Geschichte. Aber auf welches Recht und Gesetz kann sich die Anklage in dieser Situation berufen? Jacksons letztbegründende Instanz ist die „Weisheit, das Gerechtigkeitsgefühl“ einer überwältigenden Mehrheit aller zivilisierten Menschen, die sich hier im Willen von 21 Regierungen ausdrücke.68 Der amerikanische Jurist beansprucht damit universelle Legitimität für das Verfahren, jenseits aller rechtstechnischen Einwände.

So wirkungsvoll diese rhetorischen Höhenflüge bis heute sind, sie enthoben Jackson nicht der Notwendigkeit, sein schon im ersten Satz der Rede formuliertes Hauptziel, die Verurteilung der Angeklagten wegen „Verbrechen gegen den Frieden“, mit soliden völkerstrafrechtlichen Argumenten zu untermauern. Das sollte sich als schwieriger herausstellen als es im Frühjahr 1945 aussah.

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