Kitabı oku: «Stein mit Hörnern», sayfa 8

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Es erschienen noch viele Menschen, alte und junge, die sonst nie auf der King-Ranch und auf der Booth-Ranch gesehen wurden. Mary Booth wurde geehrt. Würdig wurden ihre blutigen Reste zu Grabe getragen, und nun lag sie in der Erde neben ihrem Bruder, der ein Lügner und Dieb gewesen war und den Queenie King erschossen hatte.

Die Würmer und die Erde machten keinen Unterschied. Sie verzehrten und vernichteten alles, und alles wurde wieder neu, wenn die Gräser wuchsen und die Blumen wurzelten.

Als der Mond aufging, lagen die Gräber einsam.

Am Grab von Mary Booth aber saß Queenie Tashina King und weinte. Es schüttelte sie, und sie schluchzte erbärmlich. Sie weinte über alles, was sie Mary Booth im Leben nicht zugute getan hatte, und sie weinte, weil sie einsam und verlassen war. Ihr Pflegesohn Wakiya-knaskiya – Geheimnisträchtiger Donner –, lang gewachsen, in dreizehn Jahren seiner Kindheit älter geworden, als die Zahl der Jahre sagte, kam langsam zum Friedhof herbei und blieb für sich allein an dem Grabe des alten Häuptlings Inya-he-yukan stehen, der hier seine Ruhestatt gefunden hatte. Als er aber sah, dass Tashina sich nach ihm umwandte, ging er zu ihr hin und setzte sich zu ihr. Der Mond schien über den weißen Felsen. Früher hatten zu Füßen der Berge die Büffel geweidet. Sie weideten dort nicht mehr. Die Fenster des Hauses, das Mary Booth bewohnt hatte, schimmerten dunkel. Es war verlassen.

Im Wohnhaus der Schulranch blieb es still und finster. Keiner der Schüler wusste, was nun aus ihm werden sollte. Joe King war gelähmt. Mary Booth war tot.

»Mutter Tashina!«

»Wakiya-knaskiya, unser Sohn.«

Das war alles, was die beiden an dem Grabe von Mary Booth miteinander sprachen. Tashina erhob sich. Ihre Augen waren trocken geworden und taten weh. Sie ging mit Wakiya zu der Hütte, wo der Junge mit seinem Bruder Hanska und mit Robert zusammen schlief. Queenie ging weiter, in das neue Haus, in dem ihre Zwillinge, das Jüngstgeborene und nun auch Marys Kind aufwuchsen. Sie stillte die Säuglinge und legte sich schlafen. An Joe hatte sie geschrieben. Er sollte das Unglück von keinem anderen früher erfahren als von ihr.

Der Patient

Der Patient Joe King bewies eine von Ärzten und Pflegepersonal bewunderte, für alle aber ebenso fremdartige Geduld. Gleich weit entfernt von Langeweile oder Angeregtsein, von Wohlgefühl oder Missbehagen, schien sein Geist den Körper verlassen zu haben und die Gestalt, die im Bett lag, nur von fern zu betrachten. Wurde King nach seinem Befinden befragt, so antwortete er sachlich und genau und hatte sich selbst offenbar immer mit großer Aufmerksamkeit beobachtet. Doch klagte er nie, nahm alles, was ihm angeboten wurde, als richtig an, wobei im Grunde niemand zweifelte, dass er das Entgegengesetzte ebensowohl als geeignet anerkannt hätte. Er äußerte Wünsche, wenn dies gewünscht wurde. Ganz im Unterschied zu dem, was meist über Indianer erzählt wurde, hatte er sich den amerikanischen Grundsatz keep smiling in ausreichendem Maße zu eigen gemacht, und die Schwestern fanden sich auf diese Weise stets angemessen begrüßt. Soweit Joe King überhaupt imstande war, etwas zu tun, tat er, was sie erwarteten. Er war noch nie auf den Gedanken gekommen, die Nachtschwester in Anspruch zu nehmen oder überhaupt jemanden von sich aus zu rufen.

Er galt bei dem Pflegepersonal zunächst als ein sehr angenehmer Patient. Er verzog keine Miene, wenn er des Morgens aus dem Schlaf geholt wurde, den er gerade erst gefunden hatte. Er sagte nichts, wenn er durch Röntgenaufnahmen, Bestrahlungen, Massagen oder das Betten stärkere Schmerzen haben musste. Er versuchte stets mit Energie, diejenigen Bewegungen auszuführen, die ihm vorgeschrieben wurden, und unternahm keine anderen.

Er war, alles in allem, eine gehorsame und stille Puppe, und wenn dies auch von jedermann als annehmlich empfunden wurde, so wirkte es auf die Länge der Zeit und in seiner unverbrüchlichen Folgerichtigkeit allmählich doch kalt und unzugänglich. Assistenzärzte, Masseur und Schwestern versuchten nun unwillkürlich, aus Joe King irgendeine menschliche Anteilnahme, irgendeine ungleichmäßige Reaktion herauszulocken dadurch, dass sie freundlicher oder unfreundlicher als gewöhnlich wurden, und als sie hiermit keinen Erfolg hatten, zogen sie sich auf eine ebenfalls sehr kühle, wenn auch lächelnde Korrektheit zurück und sagten sowohl zu sich selbst als auch gelegentlich untereinander: »Er ist eben ein Red Indian – eine Rothaut.«

So kam es, dass Joe King aus seiner Geduld auf die Dauer keinen Vorteil zog, sondern dass man ihm diese mehr und mehr als eine Art Hochmut oder eine Art Primitivität anrechnete, jedenfalls als einen Nonkonformismus in Bezug auf menschliches Verhalten überhaupt und insofern als eigenbrötlerisch, ja anstößig.

Die einzige, die behauptete, dass sie diesen Patienten verstehe, war die rotblonde, stupsnasige, sommersprossige Schwester Kay, die von Natur überwältigend naiv lächeln konnte, Indianer für Menschen wie andere auch nahm und einem anerkannt aufgeschlossenen Verhalten von Seiten des unzugänglichen Patienten begegnete.

Joe war sich im übrigen der Wirkung seines Benehmens mit allen positiven und negativen Folgen durchaus bewusst. Es schien ihm der einzige Weg, sich die andern vom Leibe zu halten, selbst wenn sie ihn anfassten, und insofern unvermeidlich, obgleich es ihn einen nicht geringen Aufwand an Nervenkraft kostete. Er musste sich von sich selbst abhängen und sich selbst tatsächlich wie einen anderen beobachten. Er musste dahin gelangen, dass ihm Schmerzen, Abhängigkeit, Eintönigkeit und Verlassenheit als etwas Fremdes, von außen zu Studierendes erschienen, sonst wäre ihm vor allem die Abhängigkeit unerträglich geworden. Er musste auch die anderen Patienten wie Lebewesen ansehen, die ihn nur in der Weise angingen wie ein Studienobjekt einen neugierigen Forscher.

Das letzte war das relativ Leichteste für ihn. Die Belegung der Betten wechselte. Nicht einer hatte ein so langes Krankenlager durchzumachen wie Joe King. Die meisten Patienten, die er erlebte, erholten sich von einem Unfall, unter ihnen wiederum die Mehrzahl von einem Autounfall. Sie waren vermögende Geschäftsleute, gut verdienende Rechtsanwälte oder Ärzte oder Söhne reicher Väter. Sie kamen aus einer Welt, in der Joe King nie gelebt hatte, weder als Reservationsindianer noch als Gangster, noch als Häftling. Sie sprachen meist von Dingen, die Joe King gleichgültig ließen, von Wagen, großen Sportveranstaltungen, Frauen, Reisen, von ihrem Unfall, von ihren Leiden.

Es gab wenige Ausnahmen.

Einmal hatte Joe als Bettnachbarn einen Studenten. Dem jungen Menschen war das Gesicht zerbissen und ein Ohr abgebissen worden. Er gehörte nicht in eine vorwiegend orthopädische Klinik, aber der ihn behandelnde Chirurg hatte ihn neben anderen seiner Patienten zu Dr. Miller gelegt. Es war der zweite Fall dieser Art. Es sickerte durch, dass er das Opfer eines Sexualverbrechers geworden war. Die Polizei kam dem Unhold nicht auf die Spur, da die Geschädigten keine Anzeige erstatteten. Der junge Bursche fand sich mit seinem Erlebnis, wie Joe spürte, innerlich nicht zurecht, konnte nicht davon reden wie die anderen Patienten über ihre Unfälle, war tief bedrückt, als Außenseiter der Gesellschaft zu gelten, witterte in dem Indianer insofern einen Leidensgenossen und suchte nach Gesprächsstoffen, die vom Persönlichen scheinbar entfernt, objektiviert waren. In diesem letzten Punkt traf er sich mit Joe, zu dessen zugespitzter Männlichkeit er sich überhaupt hingezogen fühlte, während Joe von den weiblichen Neigungen seines Mitpatienten bis zu einem unüberwindlichen körperlichen Ekel abgestoßen wurde. Joes Bettnachbar bemühte sich in seinem Studium um die Geheimnisse der Soziologie und behauptete zum Beispiel, dass es keinerlei prinzipielle Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten der Bevölkerung gebe, insbesondere keinen grundsätzlichen Unterschied des Glücksgefühls, da sich dieses nicht auf den Lebensinhalt bezöge, sondern auf die Lebenserwartungen, die aus dem jeweiligen Milieu heraus wüchsen. Der junge Mensch fand mit seinen psychologischen Spekulationen bei den anderen Insassen des Zimmers wenig Echo und richtete das Wort immer wieder an Joe, auch dann, wenn er dessen eigene Gedankengänge ganz offensichtlich störte.

»Was erwarten Sie vom Leben, Mr King?«

»Was nennen Sie Leben, was ist das?«

»Ein biologischer Prozess.«

»Was ist das, biologisch?«

»Lebensgesetzlich.«

»Was ist das Leben?«

»Wie meinen Sie diese Frage, Mr King?«

»Wo ist das Leben, von dem ich etwas erwarten soll? Wo kann ich es finden, wie kann ich es ansprechen, hat es überhaupt Macht über mich? Wodurch ist es zu dem zu bewegen, was ich will?«

»Sie selbst sind ein Stück davon.«

»Sie wollen also wissen, was ich von mir selbst erwarte?«

»Ja, bitte, beantworten Sie mir erst einmal diese Frage.«

»Nun, ich erwarte von mir, wieder bewegungsfähig zu werden.«

»Wozu?«

»Wozu? Um das Bett zu verlassen.«

»Das ist doch kein Lebenszweck.«

»Nein? Was ist Ihr Lebenszweck?«

»Ich wünsche die Lebenstendenzen so zu analysieren, dass ich den Menschen wissenschaftlich zu seinem Glück lenken kann. Sie sind zum Beispiel unglücklich.«

»Ich? Wie kommen Sie denn darauf?«

»Sie sind doch nicht glücklich.«

»Aber selbstverständlich.«

»Wieso?«

»Ich habe mir immer gewünscht, nicht arbeiten zu müssen. Jetzt ist mein Wunsch erfüllt.«

»Ein verrückter Wunsch, typisch indianisch. Aber Sie bestätigen meine Theorie. Ihre Lebenserwartung ist erfüllt; daran gemessen, sind Sie glücklich, obgleich Sie gelähmt sind. Ausgezeichnet. Das ist ausgezeichnet.«

Der Student-Patient, der die fünfte Operation hinter sich gebracht hatte, um wieder menschlich auszusehen, holte sein wissenschaftliches Notizbuch hervor und machte eine Eintragung.

»Sie müssen sich nur einreden«, sagte Joe, »dass Sie zerschnitten aussehen wollen, dann sind Sie auch glücklich.«

»Das kann ich mir doch nicht vormachen.«

»Warum nicht? Es hat Leute genug gegeben, die auf ihre Narben stolz waren.«

»Sind Sie es auf die Ihren?«

»Ja. Natürlich.«

»Sie sind glücklich, weil Ihre Brust einmal zerfetzt war und irgendjemand irgendwann versucht hat, Ihnen den Schädel einzuschlagen?«

»Ja, ich bin stolz.«

»Phantastisch. Ich möchte Ihre indianische Einbildungskraft haben. Leider fehlt sie mir. Die Lebenserwartungen sind von Erziehung und Milieu abhängig.«

»Da ich in ein verdammt unfruchtbares Stück Prärie eingesperrt und hineingeboren bin, was soll ich überhaupt anderes machen als meine Erwartungen dem anpassen?«

»Wieso eingesperrt?«

»Reservation.«

»Ach, Sie sind Reservationsindianer?«

»Ja.«

»Hätte ich nicht gedacht. Aber Sie können das Gefängnis verlassen, wenn Sie wollen.«

»Ja. Aber wenn meine Erwartungen nun schon angepasst sind?«

»Sie haben recht. Dann bleiben Sie.«

»Wenn ich aber bleibe und dabei andere Erwartungen entwickle?«

»Das können Sie nur, wenn Sie die Umwelt außerhalb der Reservation kennengelernt haben.«

»Oder wenn ich die Geschichte meines Stammes kenne.«

»Sie können sich doch nicht wünschen, wieder primitiv zu leben – ich meine, ohne Bad, ohne elektrisches Licht, ohne Staubsauger.«

»Aber so leben doch die meisten von uns.«

»Tatsächlich?«

»Tatsächlich.«

»Dann sind Sie glücklich, weil Ihnen Ihr altes Leben erhalten geblieben ist.«

»Sie können es auch so auffassen. Es fehlt nur etwas: die Freiheit.«

»Sie leben im freiesten Lande der Welt.«

»Ja, das merken wir jeden Tag.«

»Wie wundervoll, sich dessen immer wieder bewusst zu sein.«

Joe hatte mit dem Studenten gespielt; das Spiel hatte ihm ein gewisses, wenn auch sarkastisches Vergnügen gemacht. Als sein Bettnachbar entlassen und ein neuer Patient hereingelegt wurde, veränderte sich auf einmal die Atmosphäre.

Es ging nicht nur darum, dass Mr Emilio Stott sich das von Dr. Miller ausdrücklich genehmigte Öffnen der Fenster verbat und nur mit Klimaanlage leben konnte, was Joe verhasst war. Der neue Patient gehörte überhaupt zu der anspruchsvollen und unleidlichen Art von Menschen. Die Schwestern wurden in besonderem Maße durch ihn beschäftigt. Die Assistenzärzte genügten ihm nicht; er wünschte sich täglich die Visite des Chefarztes und setzte sein Verlangen durch. Er wusste zumeist besser Bescheid als die Mitpatienten, und dies in jeder Hinsicht, und er wünschte sich überhaupt stets alles anders, als es war. Darin schien seine Selbstbeschäftigung zu bestehen. Bei einem schweren Unfall war ihm ein Knie zerschmettert worden. Er hatte ein langes Krankenlager vor sich und keine Aussicht darauf, wieder vollständig beweglich zu werden. Doch konnte dies nicht der Grund seiner Verhaltensweise sein, die als Resultat eines langen Trainings wirkte und durch den besonderen Anlass nur zu ihrem eigenen Extrem gesteigert war. An den Besuchstagen, wenn die Ehefrauen, sonstige Verwandte sowie Freunde kamen, versammelte sich ein großer Kreis um ihn, der seine Auffassungen aufmerksam anhörte. Er war regelmäßig anderer Meinung als seine Frau, aber diese, gut angezogen, hübsch geschminkt, mit wechselnder Haarfarbe nach wechselndem Modell frisiert, nahm ihren Mann als Sport und verlor die Laune nicht. Sie war als Briefkastenredakteurin einer Zeitschrift mit Millionenauflage tätig. Als sie den Indianer im Zimmer bemerkte, gab sie ihrer Verwunderung Ausdruck, dass die beliebte Zeitschrift von Indianern keine Leserbriefe erhielt.

»Keine Lust, Englisch zu lesen. Kein Geld, ein Magazin zu kaufen. Das ist es, Mrs Stott.«

»Aber Sie selbst zum Beispiel und Ihre Frau?«

»Sollen wir schreiben: früher Tod, große Armut, zu wenig Arbeit, zu wenig Brunnen?«

»Unvorstellbar.«

Der Ehegatte der Redakteurin hatte von Joe zunächst keine Notiz genommen. Eines Tages jedoch gab er vor zu entdecken, dass neben ihm ein Indianer lag, und er stellte sich darüber überraschter, als die Europäer in dem Augenblick gewesen sein konnten, in dem sich das entdeckte Indien als Amerika entpuppte. Er behauptete von Stund an, dass ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase steige, dass Indianer in schmutzigen Behausungen lebten, sich nicht gerne wüschen und ihnen dies auch dann anhafte, wenn sie von anderen regelmäßig gewaschen würden – kurz …

Joe tat, als ob er nichts gehört habe. Aber er war nicht mehr fähig, sich von sich selbst zu entfernen. Der Zorn trieb ihm den Schweiß aus den Poren.

»Schweiß riecht unangenehm«, bemerkte der Mann, der von Beruf ein großer Manager war, zu seinem Gegenüber.

Joe sagte noch immer nichts.

Wenn Joe, der Indianer, schwieg, so lag es nicht daran, dass er gegenüber einem Weißen schüchtern oder in der englischen Sprache ungewandt gewesen wäre wie manche seiner Stammesgenossen nach drei Generationen des Knechtschaftslebens und der Absperrung; er hatte gelernt, die Zunge als Waffe zu gebrauchen wie einst die großen Redner unter seinen Ahnen. Aber Emilio Stott schien ihm einer Antwort nicht wert; es war unter seiner Manneswürde, hier ein Wort zu verlieren. Zugleich drückte ihn jedoch das Gefühl, dass er nicht Gleich auf Gleich antworten konnte oder wollte.

Der nicht ausgetragene Zwist zwischen den beiden Männern spitzte sich am folgenden Sonntag zu.

Mr Emilio Stott belehrte die ihn umgebende Besucherrunde, dass sich Gangster und andere minderwertige Subjekte tätowieren ließen, bislang sei er jedoch noch nie gezwungen gewesen, sich in derartiger Gesellschaft zu bewegen.

Joe mochte nicht mehr in Schweigen ausweichen, hatte kein Publikum, um indirekt zu erwidern, und keine Lust, Mr Stott anzusprechen; daher wählte er die Form des Selbstgesprächs zum Gegenschlag.

»Es ist erstaunlich, wenn ein amerikanischer Bürger das Symbol des Sternes verunglimpft, das auf unserem Banner überall Achtung verlangt – es fehlt zu den fünfzig Sternen nur der einundfünfzigste, der Stern des Indianers. Er war der erste Stern der Menschen, der über Amerika aufging, aber da er heute die Ordnung stören würde, trage ich ihn separat auf meiner Haut. Weniger erstaunlich ist es bei dem genannten Bürger allerdings, dass er über ein zweites Symbol redet, ohne das geringste davon zu verstehen. Ich habe gesprochen.«

Diesmal tat Mr Emilio, als ob er nichts gehört habe, und tadelte mit gedämpfter Stimme seine Frau, die nicht genug Nachrichten über die Wege und Schliche der Geschäftskonkurrenzen mitgebracht habe.

Am folgenden Tag wurde Emilio Stott in ein anderes Zimmer gelegt, und in dem Krankenraum, in dem Joe lag, durfte das Fenster wieder geöffnet werden. Nach außen hin war die Angelegenheit damit abgeschlossen. Aber Joe, der der bezeigten Verachtung nicht zum ersten Mal in seinem Leben begegnete, war dagegen in seinem Empfinden nicht immun. Er kam über die Beleidigungen nicht hinweg, sein Gedächtnis wiederholte sie und sie wühlten in ihm. Er beobachtete alle seine Mitpatienten, auch das Pflegepersonal noch schärfer als bisher und glaubte sich von ihnen stets mit der Frage angegriffen: »Wie verhält sich der Indianer?« In seiner Muttersprache hießen die Weißen nicht Menschen, sondern Geister. Sie rückten ihm fern als fremde und feindliche Gestalten; er hatte aber keinen Abstand mehr zu seinem eigenen elenden Leben. Er war auf einmal ganz bei sich selbst, und er sehnte sich heim. Er hörte den Wind, der über die endlosen Wiesen und in den Kronen der Kiefern heulte, er roch Erde und Gras, er vernahm das Stampfen der Pferde und das Brüllen der Büffel – er sah Tashina – Robert – Wakiya-knaskiya – Hanska – Mary, die Menschen mit brauner Haut, zu denen er, der Braunhäutige, als Mensch unter Menschen gehörte.

Er war unruhig geworden und nur mit der äußersten Anstrengung konnte er seine alte, scheinbar ausgeglichene Verhaltensweise beibehalten. Er versuchte zuweilen eine Bewegung, die nicht erlaubt war. Die Schwestern warnten.

Joe war unzufrieden mit sich selbst, weil er solche Warnungen herausgefordert hatte. Aber es wurde Frühling, die Luft war mild und feucht. Der Sommer, den er als Gelähmter zu verbringen hatte, stand bevor, und noch gab es keine Gewissheit, ob er wieder als ein Mann würde leben können – oder ob er ein Krüppel blieb, auf Hilfe angewiesen wie ein kleines Kind. Alle seine Erinnerungen waren wach, auch wenn er es nach wie vor leugnete. Der Hass stieg in ihm auf, wenn seine Gedanken zu denen irrten, die ihn hatten ermorden wollen und halb ermordet hatten. Mit Wollust hatten sie ihn beseitigen wollen, da sie ihn gemeinsam hassten – den abtrünnigen Gangster, Störenfried ihrer dunklen Geschäfte, Ziel ihrer Verleumdungen, den Mann, der Esmas Vater beim Pferdediebstahl angetroffen und erschossen hatte. Vielleicht wäre der Tod leichter zu ertragen gewesen als das, was sie ihm nun angetan hatten. Rosina-Esma hatte den Angriff heimtückisch geführt. Sie hatte nicht nur dafür gebüßt. Eine alte Rechnung war beglichen.

Alex Goodman war gerächt. Esma hatte mit ihren Lügen und ihrem Brandy die Seele dieses jungen Menschen vergiften helfen, während sein Leib noch lebendig blieb, um andere Unschuldige zu töten. Alex hatte seinen Stamm und seine Stelle als Cowboy-Lehrling der King-Ranch verlassen und war Ranger geworden. Niemand hörte mehr von ihm, doch musste er wohl noch am Leben sein, da dem Vater weder eine Todesnachricht noch eine Vermisstenanzeige zugestellt worden war. – Alex war gerächt. Esma war nicht mehr. Ob Leo Lee lebendig davongekommen war, konnte Joe nicht sagen. Lee war von seinen beiden Kumpanen abgeschleppt worden, kampfunfähig, ja – tot? Joe wusste es nicht.

Wenn über die Vorgänge in der Nacht etwas bekannt wurde, glaubte wahrscheinlich kein Richter und kein Geschworener, dass Joe in Notwehr gehandelt hatte. Er hatte sich den Gegnern freiwillig gestellt. Hätte er aber dem Gesindel nicht gezeigt, dass er dem Kampf gewachsen war, hätte er keine ruhige Minute mehr gehabt. Gegen Gangsterrache war die Polizei noch immer machtlos. Unbewusst wartete Joe jeden Tag darauf, dass das Forschen, Fragen, Urteilen sich fortsetzen würde. Für diese Last auf den Nerven gab es keine Vertrauten. Stonehorns Schwester Margret war die einzige, mit der er hätte sprechen können, aber sie kam nicht zu dem Gelähmten; sie hatte weder Wagen noch Geld, und die junge Frau Queenie Tashina dachte bei den seltenen Besuchen nicht daran, die Schwägerin mitzunehmen. Joe konnte Queenie nicht einweihen; an solchen Geheimnissen zerbrach die Willenskraft der im Elternhaus wohlbehütet Herangewachsenen; das hatte er schon früher erfahren müssen.

Joe war allein, und er war unruhig. Die Verachtung des weißen Mannes hatte ihn noch weiter aufgestört. In solcher Stimmung traf ihn die Nachricht von Marys Tod.

Der Brief, den Queenie ihrem Mann geschrieben hatte, kam eines Vormittags an. Joe hatte gefrühstückt, er lag frisch gebettet, und er konnte den Brief schon in einer Hand halten, um ihn zu lesen. Langsam faltete er ihn wieder zusammen. Es merkte ihm zu nächst niemand an, was für eine Nachricht er erhalten hatte. Mary war tot.

Es war keiner da gewesen, der mit dem Büffelstier fertig wurde. Robert war jung und unvernünftig. Queenie war jung, und sie war eine Malerin. Auf eine Büffel- und Pferderanch gehörte ein Mann, ein Reiter, ein Schütze, gehörte mehr als ein Cowboy, gehörte ein Buffaloboy. Joe wollte heim.

Die Nachricht von Marys Tod wühlte in ihm. Er hatte Mary Booth nicht als Frau geliebt, obgleich das Kind lebte, das er in einer Zeit großer Einsamkeit und Verlassenheit mit ihr gezeugt hatte. Sie war sein Arbeitskamerad gewesen, immer zuverlässig; sie hatte einen festen Platz in seinem Leben gehabt, schon seit den Tagen, als sie beide Nachbarskinder gewesen waren. »Der Gangster und seine Hure«, hatte Esma geschrieben; der Pfeil hatte eine schwärende Wunde verursacht. Aber Esma war nicht mehr.

Marys Tod riss in Joe etwas entzwei. Er wollte heim. Der Wunsch war übermächtig.

Aber er sagte niemandem etwas davon, denn sonst brachten sie ihn in das Indian Hospital, in den Machtbereich von Roger Sligh, und Sligh, M. D., stand vielleicht mit Leo Lee in Verbindung. Wie war Leo zu Slighs Adresse gekommen? Joe wollte sich vor Sligh in acht nehmen. Dieser Arzt hatte kein gutes Gewissen. Warum …? Unsicher. Jede Unsicherheit konnte in solchem Umkreis Tod bedeuten.

Der Tag neigte sich, es wurde Abend. Das ausgesucht delikate Dinner ging vorüber. Joe wurde in der Klinik abwechslungsreicher und gesünder ernährt als je in seinem Leben, aber das Essen widerstrebte ihm, weil er sich noch immer dabei helfen lassen musste.

In den ersten Nachtstunden schliefen niemals alle Patienten im Zimmer gleichzeitig. Immer war oder wurde der eine oder der andere wach. Joe aber wollte für sein Vorhaben unbeobachtet sein. Wenn es ihm gelang, zu stehen und zu gehen, konnte er mit Vernunft verlangen, nach Hause entlassen zu werden. Der Entschluss aufzustehen war ein überstürzter Gedanke; vielleicht war er durchaus unwirklich, verrückt. Aber Joe hatte seinen Körper immer auf erstaunliche Art in der Hand gehabt. Er bewegte und beherrschte ihn nicht nur wie jedermann; er konnte reiten, kämpfen, Träume und Schmerzen regieren. Er wollte einen Versuch mit sich selbst machen, wenn es niemand sah. Mary war tot. Er wollte heim. Er musste heimgehen, ehe auf dieser Frauenranch noch mehr Unglück geschah. Er wollte Marys Grab besuchen. Die Träume packten ihn, er wurde ihnen untertan. Er war wie ein Holz, das an zwei Enden brannte. Das Leben in zwei Welten hatte ihn aufgezehrt. Als es schien, dass es endlich aufgehoben werden konnte, hatte es ihn noch einmal gefasst und nahezu vernichtet.

Mary war das Opfer geworden. Sie war tot, niemand brachte ihr Leben wieder. Er wollte heim. Er wurde gebraucht.

Als Mitternacht vorüberging und endlich alle Mitpatienten fest schliefen, auch kein Besuch der Nachtschwester mehr erwartet werden konnte, machte Joe King den gewagten Versuch mit seinem Körper. Er führte alle Bewegungen aus, die ihm erlaubt waren, einige, die ihm nicht erlaubt waren, die er aber schon hin und wieder versucht hatte, und endlich wälzte er sich aus dem Bett und gelangte auf die Knie und Ellenbogen. Es war für ihn ein Augenblick der köstlichsten Befreiung, obgleich er wie ein Tier auf allen vieren stand.

Er war aus dem Bett hinausgelangt, aus eigener Kraft und ohne zusammenzubrechen. Kein Arzt hätte ihm das schon zugetraut oder es ihm erlaubt. Sein Herz klopfte, sein Puls ging rasch, er atmete hastig. Aber er durfte sich keine Zeit lassen. Wenn jemand im Zimmer erwachte, würde sein Experiment abgebrochen und zuschanden gemacht werden.

Er wollte sich aufrichten und auf den Füßen stehen.

Was für ein Gedanke, wieder ein Mensch zu sein.

Traum – phantastischer Traum –, wieder auf den Füßen zu stehen. Heimgehen. Joe bot alle Phantasie und alle Willenskraft auf, um seinen Nerven und seinen Muskeln zu befehlen, was sie zu tun hätten. Es gelang ihm, sich aufzurichten. Er atmete tief. Mit Vorsicht hielt er das Gleichgewicht. Vom ganzen Körper rann ihm der Schweiß. Während er die Tropfen laufen fühlte, musste er daran denken, dass Schweiß roch. Doch würde davon niemand aufwachen.

Joe versuchte zu gehen. Er hielt sich nicht fest. Er schaute geradeaus auf die Tür, fasste einen Punkt ins Auge und wagte den ersten Schritt … die Gewalt der Hoffnung zog ihn … den zweiten Schritt … den dritten Schritt.

Ein Schmerz wie ein elektrischer Schlag durchzuckte ihn. Er stürzte, fiel ausgestreckt zu Boden und spürte, dass sein Kopf gegen etwas Hartes geschlagen war. Doch blieb er bei Bewusstsein und konnte seine Schmerzen empfinden. Während er am Boden lag, ohne sich zu rühren und ohne zu rufen, dachte er: Jetzt kommen sie wieder, sie fassen mich wieder an, sie werden mich schelten und mir gute Lehren erteilen wie einem ungezogenen Kind. Ich bin ihr Gefangener. Es ist schlimmer als Gefangenschaft. Ich weiß nicht, ob ich es noch einmal ertragen kann.

Durch den Korridor kamen eilige Schritte näher. Das dumpfe Geräusch des Falls war zu hören gewesen. Die Tür wurde geöffnet, die Nachtschwester erschien.

Sie stieß einen kleinen Ruf der Überraschung und des Schreckens aus und holte Hilfe.

Der Assistenzarzt kam.

»Mr King! Was machen Sie nur! Warum klingeln Sie nicht, wenn Sie etwas brauchen?«

Der Assistenzarzt alarmierte zwei Krankenwärter.

Der wieder hilflos gewordene Körper wurde auf eine Trage gehoben und in das Operationszimmer gebracht. Er wurde geröntgt und neu geschient. Chefarzt Miller selbst kam; er war von seinem Patienten enttäuscht und zeigte sich ungehalten. Aus der Hülle wortkarger Autorität, mit der Miller Patienten und Personal zu regieren pflegte, brach eine ungewohnte wortreiche Rücksichtslosigkeit.

»Wir haben geglaubt, dass Sie ein Mann und vernünftig seien, Mr King. Werden Sie nicht ein hysterisches Weib. Sollen wir Sie anbinden? Ich habe schon Unannehmlichkeiten genug durch Sie gehabt – keine weiteren mehr, bitte, sonst muss ich Sie an das Indian Hospital zurücküberweisen, das für Sie als Reservationsindianer zuständig ist. Was für ein Unverstand! Seien Sie froh, dass der Ausflug Sie nicht das Leben gekostet hat.«

Joe war versucht zu sagen: Hätte er’s doch. Aber er schwieg, um nicht weitere Predigten in Gang zu bringen.

Wenn er hätte tun dürfen, wonach ihm zumute war, so hätte er geweint. Seine Nerven waren nach der Höchstspannung schlaff. Aber er erlaubte sich selbst nicht, Reue und Schwäche zu zeigen. Genug, dass er wieder in der großen Schiene liegen und am nächsten wie an den folgenden Tagen nicht nur bedient werden musste wie zu Beginn, sondern dass dies unter der Begleitmusik vieler Worte der Mitpatienten und der Schwestern geschah: »Wie kann man denn …«

Man hatte gekonnt.

Es war schwer für Joe, sich so weit aufzuraffen, dass er den Willen zur Genesung noch einmal fand.

Joe galt von diesem Zeitpunkt an nicht mehr als ein angenehmer, auch nicht nur als ein unangenehm unzugänglicher Patient. Er hatte sich als hintergründig, unverständig und aufsässig erwiesen und den Heilerfolg gefährdet, der das Ansehen der Ärzte und der Klinik heben sollte. Die lange Zeit seiner Geduld war vergessen, der letzte Eindruck haftete. Nach dem Zornesausbruch des Chefarztes war es notwendig, den Patienten streng zu beobachten und genaue Regeln aufzustellen. Die Nachtschwester, die wegen mangelnder Aufmerksamkeit getadelt worden war, wurde korrekt bis zum Unerträglichen. Die normale Vernunft schien nach allgemeiner Auffassung dem Patienten King nicht gegeben. Sein Experiment hatte bewiesen, dass er psychisch wie körperlich zum Unerwarteten, ja für unmöglich Gehaltenen fähig war. Man musste ihn eher wie einen Wilden behandeln. Von irgendwoher begann das Flüstern, dass dieser Patient schon zweimal polizeilich vernommen worden und krimineller Delikte verdächtig sei. Der Ton änderte sich.

Die einzige, der das Geschehen weder Worte des Bedauerns noch der tadelnden Belehrung, noch der laufenden Bevormundung entlockte, war die rotblonde, naiv lächelnde Schwester Kay.

Wie Joe erfuhr, war sie die Tochter eines Bibliothekars und auf eigenen Wunsch Krankenschwester geworden. Sie brachte ihrem indianischen Patienten jetzt hin und wieder ein Buch mit, das weder in der Klinik noch in der Stadtbibliothek zu haben war, und sie verstand es so einzurichten, dass Joe ohne Hilfe und ohne sich zu schaden, umblättern konnte. Er interessierte sich für Geschichte und Sagen, Geographie und Ökonomie, auch für Betriebswirtschaft, und es gelang ihm beim Lesen, zeitweise in eine andere Welt zu entrinnen und seine Gedanken, die Marys Tod und der Hoffnungslosigkeit des eigenen Lebens verhaftet gewesen waren, wieder auf andere Gegenstände zu richten.

Da er sich keine Aufzeichnungen machen konnte, lernte er ganze Abschnitte aus Büchern, die ihm wichtig erschienen, auswendig. Er freute sich, wenn durch die offenstehende Tür Schwester Kay hereinkam; es ermutigte ihn, dass seine geistigen Leistungen einen anderen Menschen überraschten und beglückten. Hin und wieder kam Schwester Kay eine halbe Stunde, um sich mit Joe King und den anderen Patienten zu unterhalten. Es fiel nicht auf, und die Patienten durchschauten nicht, dass Kay ihre Freizeit darangab. Aus allen vier Betten schien ihr Freundlichkeit entgegen wie eine milde, verschwimmende, nichts aufdeckende Helle.

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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
691 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783938305645
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