Kitabı oku: «Die Jutta saugt nicht mehr & Voll von der Rolle», sayfa 2
Ich zuckte mit den Schultern.
Bisher hatte ich ihnen noch nichts davon erzählt, dass ich meinen Liebsten schon jetzt fürchterlich vermisste – und ich würde es auch nicht tun. Jedenfalls heute nicht.
Ich atmete tief durch. »Tut mir leid, Jungs. Ist heute einfach nicht mein Tag.«
Erwin lachte. »Dann geh mal wacker zu meinem Täubchen und bitte sie um ihr Schminktäschchen, damit du dir ein freundliches Gesicht aufpinseln kannst.«
»Pfff. Wozu? Am Telefon kann keiner sehen, ob ich eine Fresse ziehe. Das mag ich an dem Job ja so.«
»Nix Telefon«, warf Dennis ein. »Du wirst gleich mit Erwin diese Frau empfangen. Und du wirst so sanft wie ein Lämmchen sein. Wir wollen doch einen guten Eindruck machen, oder?«
Ach, so war das. Ich sollte Miss Moneypenny geben.
»Und das stellt ihr euch genau wie vor? Kaffee servieren und dann mit dem Stenoblock auf den Knien dasitzen?«
»Quatsch«, sagte Erwin, »ich hätte dich einfach gerne dabei. Ich schätze dein Einfühlungsvermögen, das weißt du doch. Frau Berger hörte sich am Telefon ziemlich … ich weiß nicht … verzagt an, das trifft es wohl am besten. Ich hatte den Eindruck, dass es sie enorme Überwindung gekostet hat, mich anzurufen. Sie schien mir sehr unsicher. Und ich will sie nicht gleich wieder verjagen.« Er sah mich bittend an und fuhr fort: »Am liebsten wäre mir, du würdest mit ihr reden, und ich halte mich ein bisschen zurück, weißt du?«
»Befürchtest du etwa, dass du in deine alten Muster zurückfällst und die Ärmste einem hochnotpeinlichen Verhör unterziehst? Gestehen Sie, Sie sind entlarvt!« Ich kicherte. »Und dann sehen wir von ihr nur noch den Kondensstreifen.«
»Wer hätte es gedacht – es kann ja doch lachen.« Dennis schüttelte grinsend den Kopf. »Ich dachte echt schon, die Körperfresser hätten über Nacht von dir Besitz ergriffen.«
»Genau!« Ich hob die Hand und klatschte mit ihm ab. »Wer sind Sie, und was haben Sie mit Loretta gemacht?«, fügte ich mit Grabesstimme hinzu.
Erwin beobachtete unser albernes Gegacker einen Moment lang, dann sagte er: »Fertig mit euren Film- und Fernsehzitaten?« Er blickte auf die große Bahnhofsuhr, die – wie ich erst jetzt bemerkte – ebenfalls neu in unseren heiligen Hallen war. »Frau Berger kommt um neun. Wir haben also noch eine Viertelstunde, um uns vorzubereiten.«
Ich war so glücklich über meine Stimmungsaufhellung, dass ich am liebsten weiter herumgealbert hätte. Aber ich riss mich zusammen. Jetzt ging es um Business.
»Hat diese Frau Berger denn schon verraten, worum es bei ihrem Auftrag geht?«, fragte ich.
Erwin schüttelte den Kopf. »Nicht so richtig. Sie braucht Hilfe, hat sie gesagt, und dass es um jemanden geht, den sie schon lange nicht mehr gesehen hat.«
»Also ist alles möglich: von einem Vater, der kurz nach ihrer Geburt das Weite gesucht hat, bis zum entflogenen Wellensittich«, erwiderte ich.
Dennis stand auf und wandte sich der Tür zu, die ins Callcenter führte. »Ich werde dann mal.« Grinsend hob er beide Daumen. »Toi, toi, toi. Ihr macht das schon.«
Tür auf, Dennis weg.
»Was meinst du – soll ich mal Kaffee machen?«, fragte ich. Erwin zuckte mit den Achseln. »Könnte nicht schaden.«
Wie man sieht: Weder er noch ich hatten auch nur die geringste Vorstellung, wie man sich als Detektiv verhielt, wenn Kundenbesuch anstand. Handbücher zu diesem Thema gab es meines Wissens nicht. Detektiv werden für Dummies – das wäre doch mal eine Idee, oder? In den alten Hollywoodschinken hatte der hartgesottene Privatermittler immer eine Pulle Whisky aus seiner Schreibtischschublade gezaubert, um die obligatorische Dame in Nöten zu beruhigen. Das erschien mir irgendwie nicht angemessen. Außerdem waren wir ja auch nicht in Schwarz-Weiß.
Bereits wenige Minuten später ging die Türglocke. Praktischerweise verfügte dieses Büro über eine Tür zum Parkplatz, und Erwin hatte dort ein glänzendes Schild mit der Aufschrift Detektei Schneider angebracht.
Als ich öffnete, sah ich mich einer Dame von circa Mitte fünfzig gegenüber, die mich von Kopf bis Fuß musterte.
»Bin ich hier richtig? Ich habe einen Termin mit einem Herrn Schneider«, sagte sie.
Ich widerstand dem Impuls, auf das Schild zu zeigen, und bat sie mit einer Geste hinein.
»Frau Berger, nicht wahr? Schönen guten Morgen, Sie sind hier absolut richtig. Herr Schneider erwartet Sie bereits. Mein Name ist Luchs.«
Sie ging an mir vorbei ins Büro, und der zweifelnde Ausdruck in ihrem Gesicht verstärkte sich noch. Ihr Blick flog über den Teppich und die abgewetzten Ledersessel. Erwin tauchte hinter der Grünpflanzenwand auf und streckte die Hand aus.
»Erwin Schneider, guten Morgen.«
»Herr Schneider.« Frau Berger schüttelte ihm beinahe geistesabwesend die Hand und sah an ihm vorbei auf die Glasscheibe, durch die man ins Callcenter und somit auf die eifrig telefonierenden Damen gucken konnte.
Ach du Schande – wir Idioten hatten vergessen, die Jalousie zu schließen!
Mit einem beherzten Schritt war ich am Fenster und stellte die Lamellen auf blickdicht. Dann drehte ich mich zu unserer Besucherin um. »Wie Sie sehen, arbeiten wir Tür an Tür mit einem Dienstleister, an den wir zuweilen Rechercheaufträge weiterreichen. Uns fehlt meist die Zeit, stundenlang am Telefon zu hängen.«
Innerlich dankte ich auf Knien der Tatsache, dass Wände, Fenster und Türen schalldicht waren. Ich wollte mir erst gar nicht Frau Bergers Gesicht vorstellen, wenn sie gewahr wurde, welcher Art die Dienstleistungen der Damen waren, auf die sie einen kurzen Blick erhascht hatte. Ziemlich unwahrscheinlich, dass man bei Recherchetätigkeiten laut stöhnte und versaute Dinge sagte.
Erwin warf mir einen erleichterten Blick zu. »Aber nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Berger. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«
Zögernd und beinahe widerwillig trennte sie sich von ihrem schützenden Kleidungsstück, das Erwin erst auf einen Bügel – Doris dachte wirklich an alles – und dann an einen der rustikalen Garderobenhaken beförderte.
»Ein Käffchen für Sie?«, fragte er dann.
Sie nickte und ließ sich von Erwin zu einem Sessel geleiten. Ich goss zwei Tassen Kaffee ein – auf dem Tisch stand schon alles bereit. Mir selbst nahm ich ein Glas Wasser.
Dann setzte ich mich zu den beiden und nahm Block und Stift zur Hand. Miss Moneypenny wäre dann so weit.
Kerzengerade saß Frau Berger auf der Sesselkante, die Knie unter ihrem schmalen Kostümrock eng zusammengepresst. Ihre Kleidung war bieder, aber keineswegs billig, ihre bereits ergrauten Haare tadellos frisiert. Schräg oberhalb der linken Braue hatte sie ein kleines, dunkles Muttermal. Es wirkte wie ein verirrter Schönheitsfleck, der vom Wangenknochen aus – wo er eigentlich hingehörte – einfach mal frech auf Wanderschaft gegangen war.
Nervös nippte sie an ihrem Kaffee; Zucker und Milch hatte sie nicht angerührt.
Erwin ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, dann fragte er in seinem sanftesten, vertrauenerweckendsten Exbullen-Bariton: »Was führt Sie zu uns, Frau Berger?«
Unsere Besucherin stellte die Tasse mit einem lauten Klirren auf die Untertasse zurück. Sie atmete tief durch, und die Augen hinter der randlosen Brille füllten sich mit Tränen.
»Die Jutta saugt nicht mehr«, sagte sie.
Kapitel 3
Wenn man denkt, ein Tag könnte nicht mehr schlimmer werden, kommt bestimmt irgendjemand des Wegs und zieht eine Kleinanzeige aus der Tasche
Ich bin nicht stolz darauf, aber in mir brandete unbändiges Gelächter hoch. Rasch ließ ich meinen Stift fallen, damit ich unter den Tisch kriechen und mein zuckendes Gesicht verbergen konnte. Am liebsten hätte ich in den Teppich gebissen.
Ich meine: Die Jutta saugt nicht mehr?
So ein Satz, in dieser Umgebung? Schlagartig waren mir gut zwei Dutzend Knaller-Gags durchs Hirn geschossen, die natürlich samt und sonders vollkommen unangemessen waren. Unter Callcenter-Kolleginnen – okay. Aber vor den Frau Bergers dieser Welt? Niemals.
Miss Moneypenny wusste, was sich gehörte.
Mein Gesicht brannte, als ich endlich wieder so weit war, mich vernünftig hinzusetzen; höchstwahrscheinlich hatte ich eine knallrote Birne.
Erwin schleuderte mir einen warnenden Blickblitz zu, dann fragte er unsere Besucherin: »Wer ist Jutta?«
Sie suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und schnäuzte sich dezent. »Jutta Dengelmann: meine Freundin. Und Nachbarin. Sie wohnt über mir. Und sie saugt jeden Morgen um Punkt neun die Wohnung. Danach konnte ich immer die Uhr stellen. Seit Jahren. Bis vor drei Wochen.« Sie sah erst Erwin, dann mich flehend an. »Bitte, ich mache mir schreckliche Sorgen um Jutta. Können Sie sie finden?«
»Aber vielleicht ist Frau Dengelmann nur verreist?«, sagte Erwin.
Frau Berger schüttelte heftig den Kopf, aber kein einziges Haar ihrer Beton-Frisur geriet in Bewegung, was mich irgendwie faszinierte. »Jutta würde niemals verreisen, ohne mich zu informieren.«
»Hm«, machte Erwin nachdenklich und runzelte die Stirn. »Sie haben also bei Frau Dengelmann geklingelt, und niemand hat geöffnet?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Oh nein, Gerhard war natürlich da.«
»Und Gerhard ist …?«
»Gerhard Dengelmann, Juttas Gatte. Seit drei Monaten im Vorruhestand.«
Gerhard Dengelmann, Ehemann, krakelte ich auf meinen Block.
»Und der Herr Dengelmann – was hat der Ihnen gesagt, wo Jutta sich aufhält?«, fragte Erwin.
Frau Berger sah uns empört an. »Sie hätte ihn verlassen, stellen Sie sich das mal vor. Dieser unverschämte Kerl. Blafft mich an, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, und knallt mir die Tür vor der Nase zu. Als würde die Jutta das Weite suchen, ohne mir Bescheid zu sagen!« Sie zögerte und fuhr fort: »Und selbst wenn, dann hätte sie sich längst bei mir gemeldet. Seit geschlagenen drei Wochen habe ich kein Sterbenswörtchen von ihr gehört. Da muss was passiert sein, ich bin ganz sicher.«
»Aber er hat Ihnen gesagt, sie habe ihn verlassen?«, wollte Erwin wissen.
Frau Berger nickte. »Die Jutta ist mir abgehauen, wenn Sie es genau wissen wollen, hat er gesagt, und jetzt kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck und lassen mich gefälligst in Ruhe! In einem so unverschämten Tonfall, da ist mit glatt die Spucke weggeblieben. Bumm, war die Tür zu. Dann hat er sie noch einmal aufgerissen und mir hinterhergeschrien: Das Gute daran ist, dass ich Sie jetzt nicht mehr sehen muss, Frau Berger!« Sie schnaufte entrüstet. »Das muss man sich mal vorstellen. Gott, war mir das unangenehm. Wenn das jemand von den Nachbarn gehört hätte! Ich wäre vor Scham im Boden versunken. Wir sind ein ordentliches Haus.«
»Wie alt ist Ihre Freundin Jutta?«, fragte ich.
»Sie ist fünfundfünfzig, genau wie ich«, erwiderte Frau Berger. »In unserem Alter macht man keine Experimente mehr. Oder packt seine Koffer und verschwindet bei Nacht und Nebel. Wohin sollte sie denn auch gehen? Sie hat mir immer alles anvertraut, absolut alles. Über ihre Ehe, wie unglücklich sie mit ihm war …«
Erwin horchte auf. »Unglücklich? Inwiefern?«
»Gerhard war … ist ein verknöcherter Beamter. Ein Erbsenzähler, wie er im Buche steht. Für sie war es einigermaßen zu ertragen, solange er noch im Dienst war. Ordnungsamt, wissen Sie? Er war den ganzen Tag im Amt, und abends musste halt das Essen pünktlich auf dem Tisch stehen. Danach hat er sich meistens in seinen Hobbyraum im Keller verzogen, und sie hatte wieder ihre Ruhe. Aber seit er im Vorruhestand war, wurde es für die arme Jutta unerträglich. Ständig hat er sie kontrolliert und ihr in die Hausarbeit gefunkt. Ihr Vorschriften machen wollte er, wie sie den Haushalt zu organisieren hätte. Ausgerechnet er, der selbst keine Hand gerührt hat. Natürlich war es mit Juttas und meinem traditionellen Vormittagskäffchen irgendwann auch vorbei. Ständig scharwenzelte er um uns herum. Jutta, wird es nicht allmählich Zeit, das Bad zu putzen? Oder: Jutta, das Mittagessen kocht sich nicht von alleine. Frau Berger hat doch bestimmt zu tun. Und wenn sie unten bei mir war, klingelte alle fünf Minuten das Telefon. Schließlich haben wir damit aufgehört und uns nur noch dann gesehen oder miteinander telefoniert, wenn Gerhard unterwegs war.«
»Kam das häufig vor?«, fragte ich.
»Viel zu selten. Er verschwand natürlich weiterhin im Keller, dann konnte sie mich anrufen. Aber das hat er auch kontrolliert. Anhand der Telefonrechnung. Heutzutage wird ja jedes Telefonat aufgelistet, wann, mit wem, wie lange. Also habe ich ihr ein altes Handy von mir geschenkt, mit so einer Prepaid-Karte.«
»Nicht leicht, mit einem Kontrollfreak zu leben, der alles überwacht«, sagte ich.
Erwin hob fast unmerklich die Augenbraue, und ich schluckte nervös. Er hatte natürlich recht – der Begriff Kontrollfreak war unangemessen gewesen. Diese Bewertung stand mir nicht zu. Nicht der Klientin gegenüber. Selbst wenn sie ihn einen Erbsenzähler genannt hatte.
»Ich mache mir wirklich Sorgen«, fuhr sie fort. »Wenn Sie Jutta persönlich kennen würden, dann würden Sie mich ganz sicher verstehen.«
»Was glauben Sie denn, was passiert ist?«, fragte ich sie.
Sie starrte mich erschrocken an, als hätte ich damit eine ganze Reihe von Horrorfantasien von der Leine gelassen, die sie sich bisher nicht erlaubt hatte.
»Ich weiß es nicht«, wisperte sie schließlich. »Irgendetwas furchtbar Schlimmes, fürchte ich.«
»Zum Beisp…«, wollte ich sofort nachhaken, aber Erwin stoppte mich mit einer Handbewegung.
»Frau Berger«, sagte er dann, »sind Sie bei der Polizei gewesen und haben Ihre Sorgen dort vorgetragen? Eventuell sogar eine Vermisstenanzeige erstattet?«
Sie sah ihn an, als hätte er eine Schraube locker. »Wie bitte? Selbstverständlich nicht. Glauben Sie, ich will mich dort von einem jungen Schnösel in Uniform abkanzeln lassen, dass ich zu viele schlechte Krimis lese? Andererseits bekomme ich genug von der Welt mit, um zu wissen, dass volljährige Menschen ein Aufenthaltsbestimmungsrecht haben.«
Alle Wetter – mir schlackerten die Ohren, als sie plötzlich in die Kiste mit Fachbegriffen griff.
»Nun ja, dass Jutta plötzlich fort ist, reicht der Polizei tatsächlich nicht für einen begründeten Anfangsverdacht aus, um Ermittlungen aufzunehmen. Da braucht es schon klare Indizien, dass es sich um ein Verbrechen handeln könnte. Zumal, wenn Herr Dengelmann als nächster Angehöriger nicht selbst aktiv wird …«, murmelte Erwin. »Wenn, dann müsste eigentlich er Vermisstenanzeige erstatten.«
»Sehen Sie? Das hat er nicht getan. Denn sonst wären doch irgendwann Polizisten bei mir aufgetaucht, um mich zu befragen, oder? Und deshalb glaube ich auch, dass etwas nicht stimmt. Ich bleibe dabei: Jutta büxt nicht einfach aus. Wie hätte sie das heimlich vorbereiten sollen? Ohne eigenes Geld? Verstehen Sie? Sie hätte mich nur fragen müssen, und ich hätte ihr ein Flugticket nach sonst wo gebucht. Oder eine Zugfahrkarte gekauft. Sie hat sich doch nicht mit einem Köfferchen an die Straße gestellt und den Daumen rausgehalten!«
Nun, wer wollte das beurteilen? Jedes Jahr verschwinden Hunderte Menschen, ohne dass ein Verbrechen dahintersteckt. Erst kürzlich waren die Zeitungen voll mit der Geschichte von einer Frau gewesen, die seit mehr als dreißig Jahren vermisst und nur durch einen dummen Zufall entdeckt wurde. Nicht etwa, weil sie es wollte, sondern weil sie in einen banalen Verkehrsunfall geraten war, eigentlich eine Bagatelle. Aber dann stellte sich heraus, dass ihre Papiere nicht in Ordnung waren, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Und selbst danach verweigerte sie jeglichen Kontakt mit ihrer Familie, die jahrzehntelang um sie getrauert hatte. Längst hatte man sie für tot erklärt. Sie war einfach plötzlich weg gewesen.
Genau wie jetzt Jutta Dengelmann.
So etwas kam tatsächlich vor.
»Vielleicht hat Ihre Freundin seit Jahren heimlich gespart, könnte das eventuell sein?«, fragte ich.
Wieder schüttelte sie entschieden den Kopf. »Unmöglich. Sie bekam ein bestimmtes Haushaltsgeld und hatte jeden ausgegebenen Pfennig zu belegen. Wenn ein Kassenbon fehlte oder eine Summe nicht belegbar war, selbst wenn es nur um ein paar Euro ging, machte Gerhard Theater. Nicht, dass er sie schlug oder so …«, erschrocken hielt sie inne. »Zumindest weiß ich nichts davon. Aber wenn sie einen Bon verloren hatte, half ich ihr mit der Summe aus, damit sie sich nicht wieder seine endlosen Litaneien anhören musste.« Sie beugte sich vor und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Ganz unter uns: Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie ihm irgendwann mal eine Pfanne über den Schädel gehauen hätte. Und ich hätte es verstanden. Nicht nur das: Ich hätte ihr sogar dabei geholfen, ihn irgendwo zu verbuddeln.« Sie verzog das Gesicht. »Dann hätte sie behaupten können, er hätte sie verlassen. Aber man kann auch jemanden terrorisieren, ohne die Hand zu erheben, wissen Sie? Und Gerhard hat sie seit mehr als dreißig Jahren terrorisiert, die Ärmste. Sicher fragen Sie sich, warum sie nicht längst gegangen ist, warum sie das all die Jahre ertragen hat. Nun, das will ich Ihnen sagen: Jutta ist eine ehrbare Frau. Für sie hat das Ehegelöbnis noch eine Bedeutung. Bis dass der Tod euch scheidet.« Sie hielt erschrocken inne und biss sich auf die Unterlippe. »Denken Sie ... denken Sie, dass er ... oh mein Gott.«
Fahrig nestelte sie am Verschluss ihrer Handtasche. Endlich, als ich bereits kurz davor war, helfend einzugreifen, weil ich das Elend nicht mehr mit ansehen konnte, kriegte sie ihn auf. Sie kramte ein blütenweißes Stofftaschentuch heraus und schnäuzte sich geräuschvoll.
»Nun, vielleicht sollten wir nicht gleich vom Allerschlimmsten ausgehen«, brummte Erwin. »Zumindest, solange wir keine Beweise oder wenigstens starke Indizien für ein Verbrechen haben. Ich frage mich allerdings, wie wir unauffällig an diesen Gerhard Dengelmann herankommen sollen, um etwas herauszufinden.«
»Ach, das ist kein Problem!«, sagte Frau Berger zu unserer Verblüffung und kramte erneut in ihrer Handtasche. »Das war heute Morgen in der Zeitung. Die relevante Anzeige habe ich markiert.«
Sie gab Erwin das ausgeschnittene Stück einer Zeitungsseite. Ich stand auf und setzte mich auf die Armlehne seines Sessels, um mitzulesen. Mit grünem Textmarker hatte sie eine Kleinanzeige eingekreist. Hilfe für leichte Tätigkeiten im Haushalt gesucht, las ich dort, drei Vormittage pro Woche. Dann folgte eine Telefonnummer.
»Das ist Juttas Telefonnummer«, sagte Frau Berger. »Also die von den beiden, natürlich.« Sie schnaubte. »Natürlich ist Gerhard jetzt, wo Jutta nicht mehr da ist, vollkommen hilflos. Vermutlich kann er sich gerade mal eine Stulle schmieren.« Erneutes verächtliches Schnauben. »Wenn überhaupt. Ohne Hilfe würde der Mann in seinem eigenen Dreck untergehen. Jeden Tag steht der Pizzaservice vor der Tür. Und mindestens vier Haushaltshilfen hat er schon verschlissen.«
»Das haben Sie alles während der letzten drei Wochen mitbekommen?«, fragte ich.
Sie zuckte schuldbewusst zusammen. »Nicht, dass Sie denken, ich würde den lieben Tag lang hinter der Gardine lauern. Oder mit dem Ohr an der Wohnungstür kleben.«
Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich?
»Unser Haus ist sehr hellhörig, müssen Sie wissen. Da bekommen Sie alles mit. Natürlich höre ich es, wenn der Pizzaservice liefert. Und eine von den Haushaltshilfen habe ich im Hausflur getroffen, als ich meine Post reingeholt habe.«
Oder du hast zufällig genau in dem Moment deine Post reingeholt, als du die Haushaltshilfe im Flur gehört hast, dachte ich.
»Und mit der haben Sie sich unterhalten?«, hakte Erwin nach.
Frau Berger nickte. »Unterhalten ist vielleicht zu viel gesagt, sie sprach kaum Deutsch. Sie hatte gerade gekündigt. Kann diese Mann da oben nicht aushalten, hat sie gesagt.«
»Wie viele Mietparteien wohnen bei Ihnen im Haus?«, wollte ich wissen.
»Vier«, entgegnete sie. »Die Dengelmanns und ich links, rechts unten Professor von Rabenstein, ein sehr höflicher älterer Herr, und über ihm ein kinderloses Lehrerehepaar. Sehr ruhige und gediegene Leute. Aber man hat nicht viel miteinander zu tun. Man grüßt sich im Hausflur und wünscht sich einen guten Tag und einen guten Weg.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das reicht mir auch vollkommen aus.«
»Wie kam es, dass Frau Dengelmann und Sie sich angefreundet haben, wenn Sie ansonsten Distanz zu Ihren Nachbarn halten?«
Sie sah mich an und lächelte. »Nachdem sie und Gerhard über mir eingezogen waren, fünfzehn Jahre ist das jetzt her, liefen wir uns immer mal wieder im Flur über den Weg. Oder an der Mülltonne. Und eines Tages lud ich sie spontan zu einer Tasse Kaffee ein, weil ich gerade Kuchen gebacken hatte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich zwischen uns eine echte Freundschaft. Anfangs besuchten wir sogar mal eine Matineevorstellung im Kino, verschiedene Museen und einen Literaturzirkel, bis Gerhard zu nörgeln begann, weil das Geld kostete. Danach bildeten wir unseren eigenen kleinen Literaturzirkel. Wir lasen gemeinsam einen Klassiker und diskutierten dann darüber.« Bei der Erinnerung daran seufzte sie. »Sie war mir gleich sympathisch gewesen, die Jutta. So eine höfliche und ruhige Frau, hatte ich gleich bei unserer ersten Begegnung gedacht. Immer angemessen gekleidet. Sehr adrett und überaus geschmackvoll.«
›Höflich‹ und ›ruhig‹ schienen eindeutig Kriterien zu sein, mit denen man bei Frau Berger punkten konnte. Ach so, ›gediegen‹ natürlich auch. Auf den ersten Blick nichts, das auf Erwin und mich zutreffen würde.
Vermutlich waren wir für sie – rein optisch – auch nicht unbedingt vertrauenswürdig, sinnierte ich. Es sei denn, sie hielt Ringelpulli und Jeans für adrett, was ich stark zu bezweifeln wagte. Aber welche Wahl hatte sie? Sie war auf der Suche nach Hilfe, und wir boten Hilfe an.
Wie lautete der Text von Erwins Anzeige so schön: Sie suchen – ich finde. Sie haben Fragen – ich biete Antworten. Sie wollen Diskretion – ich schweige wie ein Grab. Vielleicht hätte sie niemals angerufen, wenn daneben ein Foto von ihm abgedruckt gewesen wäre. Oder von mir.
Hätte, hätte, Fahrradkette.
Jetzt war sie hier und kam aus der Nummer nicht mehr raus. Und immerhin schienen wir auf sie einen leidlich akzeptablen Eindruck gemacht zu haben, da sie keine Ausreden hervorgezaubert hatte, um sich wieder zu verkrümeln. Die Dame musste wirklich verzweifelt sein.
»Diese Anzeige, die Sie uns mitgebracht haben«, ich deutete auf den Zeitungsausschnitt, der zwischen uns auf dem niedrigen Tisch lag, »äh ... hätten Sie gern, dass wir zur nächsten Person, die sich auf die Anzeige meldet, Kontakt aufnehmen?«
Sie sah mich verdutzt an und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Sie müssen doch in seine Wohnung, um dort nach Spuren zu suchen, nicht wahr? Und deshalb bin ich ja so froh, dass Herr Schneider in Ihnen eine passende Mitarbeiterin hat.«
Passende Mitarbeiterin? Passend wozu?
Ich verstand kein Wort.
Ehe ich nachfragen oder mich über Erwins wissendes Grinsen wundern konnte, fuhr Frau Berger fort: »Ich dachte, dass Sie sich auf die Anzeige bewerben.«
»Das könnt ihr vergessen, Herrschaften«, blökte ich, während ich mit großen Schritten durchs Büro tigerte. »Ich werde auf keinen Fall als Putze bei diesem Blödmann anheuern, der vielleicht ein brutaler Meuchelmörder ist!«
Frau Berger hatte sich für heute verabschiedet, und nun hielten die Mitarbeiter der Detektei Schneider Kriegsrat.
»Wieso denn?«, fragte Dennis. »Undercover kannst du doch super. Das hast du doch überaus eindrucksvoll bewiesen, als du damals ...«
»Hör bloß auf!«, fiel ich ihm brüsk ins Wort. »Hast du schon vergessen, wie Frank und ich danach ausgesehen haben? Und wie lange es gedauert hat, bis alles verheilt war? Und jetzt wollt ihr mich schutzlos einem Kerl ausliefern, der vielleicht Frauen killt?«
Erwin lachte leise. »Du neigst zu Übertreibungen, meine Liebe. Von Frauen in der Mehrzahl kann keine Rede sein, von Mord ebenfalls nicht. Bisher ist nur eine Frau verschwunden, und das auch nur vielleicht. Frau Berger macht sich Sorgen um ihre Freundin Jutta, von der sie seit drei Wochen nichts gehört und gesehen hat. Deren Gatte gibt an, von Jutta Dengelmann verlassen worden zu sein. Noch haben wir keinerlei Grund, daran zu zweifeln. Andersherum kann Frau Dengelmann Dutzende Gründe haben, ohne ein Wort und spurlos zu verschwinden. Und ihrer Freundin nichts davon zu verraten. Vielleicht hatte sie einfach keine Lust, ihren Plan vor Frau Berger zu rechtfertigen oder zu begründen? Wissen wir, ob die gute Jutta nicht jedes Mal, wenn sie einkaufen war, in ein Internetcafé gehuscht ist und über irgendeine Singlebörse jemanden kennengelernt hat, mit dem sie sich gerade vergnügt?«
Nein, das wussten wir nicht.
Dennoch ...
»Würde das etwa zu dem Bild passen, das Frau Berger von ihrer Freundin gezeichnet hat?«, gab ich zurück. »Wer glaubt denn so was?«
»Du musst dringend an deinen Vorurteilen arbeiten.« Erwin schüttelte amüsiert den Kopf. »Unter so mancher biederen Seidenbluse schlägt ein feuriges Herz. Vielleicht sehnte sie sich seit Jahren nach der Leidenschaft, die ihr Gerhard ihr nicht gegeben hat? Das muss Frau Berger nicht zwangsläufig wissen, Freunde. Für dieses Thema würde ich sie mir auch nicht unbedingt als Gesprächspartnerin aussuchen. Gemeinsam Klassiker lesen und über unerfüllte Träume und Bedürfnisse reden – dazwischen liegen Welten. Kann doch sein, dass Jutta Angst davor hatte, ihre einzige Bezugsperson zu verlieren, wenn sie ein derartiges Thema anschneidet?«
»Pfff. Reichlich spekulativ«, fauchte ich.
»Aber doch auch nicht viel spekulativer als deine Fantasievorstellung vom brutalen Frauenmörder, oder?«, warf Dennis ein, der Erwins und meine leidenschaftlich geführte Diskussion fasziniert verfolgt hatte.
Ich funkelte ihn böse an. »Vielen Dank auch, Chef. Schön, dass du mir in den Rücken fällst. Jetzt sag bloß noch, du bist auch dafür, dass ich mich bei diesem Honk um die Stelle bewerbe. Das könnt ihr vergessen!«