Kitabı oku: «Das Konzerthaus», sayfa 3
Freundlich schaute er Nora durch seine silberfarbene Brille an. „Frag den Richter, was er an Infos benötigt, Telefonnummer findest du im Outlook.“
***
Das Klingeln des Telefons riss Ermittlungsrichter Markus Hirsch aus seinem Aktenstudium.
„Hirsch“, hörte Nora am anderen Ende der Leitung.
„Guten Tag, Herr Hirsch, Nora Kardinal, vom LKA 41. Wir haben eine vermisste Person, und ich benötige eine Handyortung für sie. Die Sache ist wirklich sehr eilbedürftig, da die Person schon seit Sonntagabend vermisst wird und die Akkukapazität des angeschalteten Handys sich immer weiter verringert!“, erläuterte Nora ihr Anliegen und beantwortete noch einige seiner Fragen, bis sie ihn endlich sagen hörte: „Ich benötige einen schriftlichen Antrag mit Begründung. Wann können Sie den faxen?“
„In einer halben Stunde haben Sie alles, vielen Dank“, beendete Nora das Telefonat.
Eine Stunde später hatte sie die richterliche Anordnung und ließ über die Technische Abteilung des LKA mittels einer sogenannten „Stillen SMS“ oder „Stealth Ping“ das Handy der Vermissten orten.
Es klingelte, und während Nora den Telefonhörer aufnahm, setzte sie sich seitlich auf den Tisch. Pieter Struck beobachtete ihr Mienenspiel, während sie zuhörte. Nachdem sie aufgelegt hatte, sprang sie auf und ging zu ihrem Bürostuhl. „Hey, wir haben Glück. Wir haben ein Signal, obwohl das Handy schon seit Sonntagabend durchgehend in Betrieb ist“, rief sie ihrem Kollegen über die gegeneinander aufgestellten Schreibtische zu.
„Zuletzt hat es sich in der Funkzelle in der Borsigstraße eingeloggt.“
„Dort ist eine Müllverbrennungsanlage“, bemerkte Pieter, der dort vor Kurzem einen Einsatz gehabt hatte und sich nur zu gut an den Straßennamen erinnern konnte, da seine Lieblingslehrerin in der Grundschule Borsig hieß. Wenn man es genau nahm, war er als kleiner Bub in seine hübsche, junge Lehrerin verliebt, aber das war eine andere Geschichte.
„Okay, worauf warten wir?“
„Muss noch mein Butterbrot aufessen“, entgegnete Pieter kauend.
„Häh?“
Missbilligend und ohne jedes Verständnis blickte Nora ihn an. Sie wollte gerade zu einem Vortrag über effiziente und schnelle Polizeiarbeit ansetzen, da kam ihr Pieter zuvor.
„Mann, das war ein Spaß!“, stieß er belustigt, aber auch irritiert darüber aus, dass sie tatsächlich geglaubt hatte, er wolle jetzt weiteressen. Sie musste ihn eben noch besser kennenlernen. Er legte sein Brot zurück in die Tupperdose, wischte sich seine fettigen Hände an den Hosenbeinen ab und folgte Nora zum Parkplatz des Präsidiums.
Während sie mit Blaulicht zum Zielort fuhren, klappte Nora den Laptop auf, um das Signal des Handys verfolgen zu können. Gleichzeitig rief sie bei der Müllverbrennungsanlage an, kündigte ihr Kommen an und ordnete gegenüber dem Leiter der Schicht an, die Arbeiten sofort einzustellen. Sie beschlich ein ungutes Gefühl. Würden sie dort nur ein weggeworfenes Handy finden oder mehr?
„Fahr schneller“, herrschte sie Pieter an. Sie war noch sauer über seinen Spaß, den er sich mit ihr erlaubt und den sie nicht verstanden hatte.
Als sie eilig das Werksgelände und den Müllbunker betraten, war Nora von dem Anblick, dem Lärm und vor allem dem Gestank der Müllverbrennungsanlage wie erschlagen. Sie standen in einer riesigen Halle, und die grauen Wände des tiefen Betonraums wirkten wie das Parkdeck der Imperialen Raumflotte „Millennium Falcon“ von „Star Wars“. Das Quietschen des Greifarms, der sich in den bunten Müll bohrte, riss Nora aus ihrer Starre. Aus der in dem Greifarm eingequetschten Müllmasse löste sich eine PET-Flasche und fiel in die Tiefe, während die Schaufel direkt auf den Verbrennungsofen zuhielt. Nora wurde übel. Nicht nur von dem beißenden Gestank, sondern auch von der Tatsache, dass die Schaufel sich genau an der Stelle in den Müllberg eingegraben hatte, an der ihr das Laptop ein Signal anzeigte. Sie fuhr den Schichtleiter an: „Maschinen aus, sofort! Sagen Sie mal, was genau verstehen Sie nicht, wenn ich Sie auffordere, die Arbeiten einzustellen?“ Nora bellte unbeherrscht in den Hörer und vergaß dabei den Lärm und den Gestank, der sich langsam in ihren Klamotten festsetzte.
„Maschinen aus!“, wiederholte sie. „Wir suchen eine vermisste Person, und wir würden sie gerne finden, bevor ihr sie verbrennt“, schrie sie.
Nora ließ weder den Greifarm noch den Signalpunkt des Handys auf ihrem Laptop aus den Augen, bis die Maschine nach Anweisung des Schichtleiters endlich stoppte und erlösende Stille einkehrte. Rasch organisierte sie sich eine Schaufel, suchte zusammen mit Pieter einen Einstieg in den Betonraum und grub an der durch das Signal vorgegebenen Stelle.
„Worauf wartest du?“, herrschte sie Pieter an. „Besorge dir auch eine Schaufel und hilf mir beim Graben! Oder willst du bloß rumstehen und mir zuschauen? Zur Not müssen wir weitere Kollegen anfordern.“
Plötzlich hörte Nora auf zu graben, denn ihr Spaten stieß dumpf auf etwas Großes. Sie räumte die oberste Schicht aus Tüten, Konserven und Flaschen beiseite und schaufelte etwas in der Größe eines erwachsenen Menschen frei, das in eine blaue Plastikfolie verpackt war. Nora erstarrte, denn ihre Vorahnung hatte sich bewahrheitet. In dieser Verpackung würde nicht nur das Handy der Vermissten gefunden werden. Als sie das Ende der Plastikmumie anfasste, erfühlte sie durch das knisternde Plastik ein Paar feste Schuhe. Sie öffnete das Paket vorsichtig am anderen Ende, um sich zu vergewissern, ob sie das gefunden hatten, was sie vermuteten. Verwundert musste sie jedoch feststellen, dass sie keine weibliche, sondern eine männliche Leiche mit einem Kopfschuss entdeckt hatten.
„Ich informiere die Spurensicherung und den diensthabenden Rechtsmediziner“, spulte Pieter die Arbeitsschritte ab.
Nachdem die hinzugerufenen Kollegen der Spurensicherung, die alle in weißen Ganzkörperanzügen steckten und kaum zu unterscheiden waren, die Spuren auf dem Plastikpaket gesichert und den Leichnam aus dem riesigen Betonraum getragen hatten, beobachtete Nora den Laptop am Rande des Beckens, während sie darüber grübelte, wieso das Handy der Vermissten bei der männlichen Leiche lag.
Als Pieter ein weiteres Telefonat beendet hatte und mit Nora die nächsten Schritte besprechen wollte, verwirrte ihn ihr verblüfftes Gesicht.
Nora hatte vor wenigen Sekunden das Ortungssignal des Laptops beobachtet und registriert, dass es seine Position nicht geändert hatte, obwohl das geborgene Paket schon außerhalb des großen Betonbeckens bewegt wurde und dieser Standortwechsel hätte angezeigt werden müssen. Den Bruchteil einer Sekunde später rief Nora: „Das Handy liegt immer noch im Müllbecken, wir müssen zurück und weitergraben! Vielleicht liegt da noch eine zweite Leiche!“
Nach zehn anstrengenden Minuten fanden Pieter und Nora ein zweites blaues Paket, öffneten es und stellten fest, dass es eine weibliche Leiche enthielt. Auch dieses Opfer, bei dem es sich mutmaßlich um die Vermisste handelte, war mit einem Kopfschuss getötet worden.
Beide Leichen wurden ins Institut für Rechtsmedizin verbracht, und Nora und Pieter verabschiedeten sich von dem Schichtleiter, der etwas Unverständliches knurrte, weil er verärgert war, dass er seine Arbeit erst jetzt wiederaufnehmen durfte.
***
„Ich fahre gleich noch in den Puff, um die Anzeigeerstatterin zu informieren und zu befragen. Begleitest du mich?“, fragte Nora.
Pieter öffnete die Fahrertür des VW Passat Variant, schaute hoch und winkte ab. „Wenn du mich nicht unbedingt dabeihaben musst, würde ich gerne nach Hause fahren, hab schon so viele Überstunden.“ Er lächelte schief und setzte Nora in der Nähe des Etablissements ab, wo sie auf den Concierge zuging.
Goldene Knöpfe blitzten auf seiner roten Uniform, und weiße Locken guckten unter der farblich abgestimmten Schirmmütze hervor. Eine Montur, wie sie auch von Portiers des „Vier Jahreszeiten“, „Atlantik“ oder anderer gehobener Luxushotels getragen wurde, um – unter Ausschluss des Alltages – jeden einzelnen Gast schon vor der Tür zuvorkommend zu empfangen.
Heute war es anders.
Nora zeigte ihren Dienstausweis, fragte, ob sie Lotta Kardinal sprechen könne, und erklomm die Treppenstufen des Lokals.
Lotta Kardinal stand hinter dem Tresen, lächelte den einzigen Gast freundlich an, während sie ihm eine Zigarette anzündete. Geschäftig und flink drehte sie sich zu der schummrig beleuchteten Bar, nahm eine Flasche Wodka aus dem verspiegelten Regal und begann, den bestellten „Sex on the beach“ zu mixen. Ihr blonder, lockiger, zu einem Pferdeschwanz gebundener Zopf sprang dabei hin und her. Sie maß 1,70 Meter, hatte eine sportliche Figur, warme, freundliche blaue Augen und eine kleine Nase. Jedoch hatten sich um ihre Mundwinkel bereits tiefe Falten gesammelt, die ihrem Gesicht insgesamt etwas Hartes, Unnahbares gaben. Lotta trug ein schneeweißes Hemd mit einer Fliege, eine schwarze Weste, und um die schwarze Hose hatte sie eine gestärkte weiße Schürze gebunden. Mit beiden Händen und ausgestellten Ellenbogen schüttelte sie den kühlen Cocktailshaker in fließenden Bewegungen schwungvoll nach oben und unten. Währenddessen blickte sie in den Barspiegel, und das Rascheln der kleinen Eisstücke endete abrupt, als Nora Kardinal den Barbereich betrat. Lotta erkannte ihre Schwester sofort. Es war still im Lokal, denn im Hintergrund lief nur leise Musik. Lotta spürte ihr pumpendes Herz. Adrenalin spülte durch ihr Blut, ihr wurde heiß, und ihr Magen rebellierte. Er fühlte sich an, als würde er sich stetig mit einer heißen, flüssigen Lauge füllen und jeden Moment überlaufen, wie ein vergessenes Tiegelchen in einer Alchemistenküche, welches mit einer gluckernden, brodelnden Substanz gefüllt war, die jeden Moment über den Rand zu schwappen drohte. Ihrem Impuls, aus dem Lokal zu fliehen, gab sie nicht nach. Das war keine Option.
„Hallo“, sagte Nora und trat an den Tresen heran. Sie hatte sich zur Einleitung einen Satz zurechtgelegt, den sie mechanisch aufsagte.
„Lotta, das ist ein unglücklicher Moment für ein Wiedersehen, den habe ich mir anders vorgestellt, aber ich muss dir einige Fragen stellen.“
Unsicher kramte Nora in ihrer Hosentasche nach ihrer Polizeimarke.
„Ich bin hier wegen deiner Vermisstenanzeige. Es tut mir wirklich sehr leid, wir haben das Handy deiner Kollegin orten können und dabei eine weibliche Leiche entdeckt. Du müsstest sie noch identifizieren, aber wir gehen davon aus, dass es sich um die Vermisste handelt. Und wir haben auch noch eine weitere Leiche gefunden. Beide lagen im Betonraum der Müllanlage vergraben.“ Nora machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln.
„Erzähl doch bitte einmal, wie es zu deiner Anzeige kam.“
Durch Lottas Kopf flitzten so viele Gedanken, dass sie sie kaum zu bändigen vermochte.
Ihre Simone tot? Das durfte nicht sein! Das musste ein Irrtum sein! Aber wenn sie es doch war? Das würde sie nicht ertragen können. Und ausgerechnet ihre verhasste Schwester Nora stand vor ihr. Hätte nicht ein anderer Polizist kommen können? Ausgerechnet Nora! Und nun wusste sie auch noch, wo Lotta arbeitete.
Bisher hatte Lotta ihren sündigen Job in der Bar gut verheimlichen können, und nun kam alles zusammen. Vor ihr stand ihre jüngere Schwester, die ihr so großes Leid angetan und verhindert hatte, dass sie ihr anvertrautes Liebstes hatte beschützen können.
Über Lottas Augen legte sich ein leichter Glanz, bloß nicht weinen, dachte sie, bloß nicht weinen, nicht hier, nicht vor ihr. Ihr Blick verfinsterte sich wieder. „Ich habe dir nichts zu sagen“, entgegnete sie. „Alles, was ich weiß, habe ich bei meiner Anzeige erzählt, dem habe ich nichts hinzuzufügen.“
Lotta überlegte einen Moment.
„Wisst ihr schon, wie sie gestorben ist?“, wollte sie doch wissen.
Nora fiel auf, dass Lotta zutiefst getroffen war und sich der Glanz in ihren Augen hartnäckig hielt.
„Nein, noch nicht, die Leichen sind im Institut und werden erst noch obduziert. Warst du mit der Frau befreundet?“
„Wofür ist das wichtig?“
Lotta reagierte trotzig und wollte die Unterredung so kurz wie möglich halten.
„Hör mal, Lotta, du hast die Pflicht, Auskunft zu erteilen, zwar nicht mir gegenüber, aber spätestens bei der Staatsanwaltschaft. Es ist nicht an dir, mir Fragen zu stellen.“
Nora biss sich auf die Lippen, wie dumm von ihr, so würde sie ihre Schwester nicht dazu bewegen können, Fragen zu beantworten.
„Es tut mir leid, Lotta, ich bin gerade überwältigt von unserer Begegnung und …“
Noras Unterkiefer bebte, weil sie ihre Wut und Tränen unterdrückte. Lotta hatte Nora schon immer für alles Schreckliche, was in der Familie Kardinal passiert war, verantwortlich gemacht. Unvorhergesehen stand die alte Wut zwischen ihnen, aber verdammt, sie musste sich auf die Ermittlungen konzentrieren.
„Ich habe dir nichts zu sagen“, wiederholte Lotta.
„Ich denke, die Tote war eine Freundin von dir, willst du nicht wissen, wer sie umgebracht hat?“
„Ich habe dir nichts zu sagen!“
Mit eisigen Augen blickte Lotta über Nora hinweg, die beharrlich nachsetzte.
„Mensch, Lotta, denk doch an Mone. Meinst du nicht, sie würde wollen, dass du mit uns zusammenarbeitest? Uns hilfst, ihren Mörder zu finden?“
Als Nora den Spitznamen Mone aussprach, senkte Lotta ihren Kopf und kämpfte erneut mit den aufkommenden Tränen. „Woher weißt du, dass ich sie Mone nannte?“
Nora antwortete nicht und zuckte mit den Schultern. Sie wusste es nicht sicher, aber sie hatte das Feuerzeug an der Leiche mit dem Aufdruck Mone gefunden und es vermutet.
Über Lottas Gesicht rann eine Träne, und ihre Augen bekamen einen samtigen Ausdruck. Dann begriff Nora.
„Ihr wart ein Paar!“, stieß sie aus.
„Ja“, schluchzte Lotta, deren abweisende Haltung in sich zusammenbrach. Sie schob ihre Hand unter den Tresen, kramte in einer Schublade und übergab Nora ein Handy.
„Hier, das hat ihr letzter Gast bei mir liegen gelassen. Vielleicht hilft euch das weiter.“
Lotta fand schnell ihre Fassung wieder und beendete das Gespräch. „Ich muss jetzt weiterarbeiten. Bitte geh, sonst kriege ich Ärger mit meinem Chef.“
Sie begleitete Nora zum Ausgang und verabschiedete sich kühl.
Nora machte keinen Versuch mehr, sich ihrer Schwester zu nähern. Traurig verließ sie den Laden und ließ eine ebenso verzweifelte Lotta zurück.
Kapitel 5
Akoya-Perle
Sevinc Berend war aufgeregt. Ein ähnliches Gefühlschaos hatte sie durchlebt, als sie ihren Ex-Mann, den berühmten Architekten Albert Berend und Vater ihrer Kinder, geheiratet hatte. Wenn sie diesen heutigen Abend nur schon gemeistert hätte. Aber er hatte gerade erst begonnen. Allein stieg sie aus dem nagelneuen Taxi aus, welches vor ihrem Stammlokal „Da Massimo“ hielt. Es musste perfekt werden. Der reservierte Bereich war extra für sie mit weißer Tischdecke, Teelichtern und grünen Zweigen geschmückt. Die unzähligen roten Pfefferkörner, die sich im Zusammenspiel mit der weißen Tischdecke zu einem feurigen Punktemuster formierten, gaben der Tischdekoration zusammen mit den grünen Zweigen einen weihnachtlichen Zauber. Nur ein Gedeck der Tafel war noch zusätzlich mit zarten, rosafarbenen Blüten und Schwarzkümmel besonders liebevoll verziert. Sevinc verweilte trotz der eisigen Kälte einen Moment vor der Glastür und entdeckte Massimo, die immer freundlich lächelnde Seele des Lokals. Sie beobachtete ihn, wie er quirlig zwischen den Tischen hin und her lief, Wein nachschenkte und kleine Späße machte, die den Gästen ein Lächeln über das Gesicht huschen ließen und die Augen zum Leuchten brachten. Fast verliebt schien sie ihn anzusehen – so ging es im Übrigen den meisten seiner weiblichen Stammgäste – und betrat das italienische Lokal. Massimos Lieblingslied von Zucchero „Così celeste“ klang durch den Raum. Als er sie erblickte, brachte seine Freude perfekte Zähne zum Vorschein. Er schob seine schwarze Brille auf den kahlen Kopf und nahm sie in den Arm.
„Buon compleanno, mia cara Sevinc.“ Wie es die Italiener gerne machten, deutete er zweimal einen Wangenkuss an. Sevinc bedankte sich für die guten Wünsche und plauderte noch einen Moment mit ihm, bis sie ihre Tochter Julia am Geburtstagstisch zusammengekauert und mit hängenden Schultern sitzen sah. Sevinc ging langsam zum Tisch und setzte sich neben sie. Julia sah trotz des vom Weinen verquollenen Gesichtes sehr hübsch aus. Klein war sie und zierlich, ein Ebenbild ihrer Mutter. Ihr akkurater, brauner Pony reichte ihr bis zu den Augenbrauen und schmeichelte ihrem länglichen Gesicht.
Sevinc überlegte, seit wann es für sie möglich war, ihre Tochter ohne Verschleierung außerhalb der vier Wände treffen zu können. Sie konnte es nicht genau sagen und merkte, wie sehr sie sich bereits daran gewöhnt hatte. Der Schreck war ihr damals, als sie ihre Tochter zum ersten Mal verhüllt in einem Hijab auf der Straße gesehen hatte, in die Glieder gefahren. Und dies, obwohl – oder musste man sagen, weil? – Julia Islamwissenschaft studierte. Sevinc jedenfalls machte Julias Ehemann Ercan mit seinen strengreligiösen Ideen für ihre damalige Wandlung verantwortlich. Erst sehr viel später konnte sich Julia von ihren Fesseln befreien. Heute empfand Sevinc Stolz auf ihre einzige Tochter, die mit Energie und Herzblut als Dozentin im Institut für Islamwissenschaften arbeitete.
„Unveränderlich erscheinende Dinge können sich wandeln, Mama“, hatte sie Julia oft sagen gehört. „Meistens bedarf es hierfür nur eines Wechsels der Perspektive und viel Muts.“
Leise lächelte sie über die Klugheit ihrer Tochter. Heute würde Sevinc, die selber nicht gläubig war, den Auslöser für Julias Veränderung nicht ergründen können, aber vielleicht eine Antwort auf die Frage finden, warum ihre Tochter weinte.
„Ach Mama.“ Julia riss Sevinc aus ihren Erinnerungen.
„An deinem Ehrentag wollte ich nicht weinen, aber ich habe mich so mit Ercan gestritten“, klagte sie.
„Er will nicht akzeptieren, dass ich ein anderes Leben führe, ohne Hijab und ohne Einschränkung. Immer wieder wirft er mir vor, ich sei keine gute Muslima und würde gegen Mohammeds Gebote verstoßen.“
Sevinc hörte diese Vorwürfe nicht zum ersten Mal. Auch Ercans Mutter mischte sich regelmäßig ein und warf ihr ebenfalls vor, Julia würde sie und Ercans Familie entehren.
„Mama, er hat mir sogar gedroht, mich aus der Wohnung zu werfen. Den Jungen will er mir wegnehmen.“
Als sie diese Worte aussprach, begann sie erneut zu schluchzen und begrub ihren Kopf an der Schulter ihrer Mutter. Ihre Tränen liefen unaufhörlich, und sie holte immer wieder tief Luft, sodass ihr zarter Körper bebte.
„Ach, meine Julia, Dinge können sich ändern. Du musst mutig sein und die Perspektive wechseln“, versuchte Sevinc Julia mit ihren eigenen Worten zu trösten und nahm sie fest in den Arm. Sie hielt ihre verzweifelte Tochter für lange Zeit fest umschlossen.
Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, als Julia die Stille durchbrach. „Mama, ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Ich werde Ercan verlassen.“
Sie löste sich aus der tröstlichen Umarmung und schaute ihre Mutter an.
Julia war so klar, als wären ihr befreiender Entschluss und ihr Mut zum Handeln über lange Zeit gereift, wie eine kostbare Akoya-Perle im tiefen Ozean. Ein wenig traf es Sevinc, dass sie an diesem Teil ihres Lebens nicht teilhaben durfte. Aber war es so? Wieso glaubte sie eigentlich, von Julias Entwicklung ausgeschlossen gewesen zu sein? Vielleicht hätte sie nur fragen müssen? Aber das hatte sie nicht getan. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie sogar selten Fragen gestellt. Sie hatte Angst davor, mit den Antworten nicht umgehen zu können, sodass der Blick hinter die Fassade ihre eigene heile Welt erschüttern würde. Das Zentrum ihres Handelns war, darauf zu achten, dass dies nicht würde geschehen können.
Sevincs nur zurückhaltend geschminktes Gesicht hellte sich wieder auf, als sie die Bedeutung von Julias Worten erfasste. Julia hatte sich nicht nur dauerhaft ihres Textilgefängnisses entledigt, welches – so Julia – einige der muslimischen Glaubensmänner erfunden hatten, um ihre Frauen zu beherrschen, sondern sie würde auch ihren Ehemann verlassen. Sevinc bewunderte ihre Tochter für ihre Furchtlosigkeit und freute sich darüber, da sie ihren Schwiegersohn sowieso nicht richtig leiden konnte.
„Ich versichere dir, Julia, dass ich dich unterstütze, wo immer es mir möglich sein wird.“ Während sie Julia auf die Stirn küsste, winkte sie Massimo zu, der gerade zwei Gläser Prosecco Spumante brachte.
„Ich glaube, das wird euch guttun. Salute!“
„Mohammed wird es dir nachsehen“, sagte Sevinc augenzwinkernd, und gemeinsam stießen sie auf ihren Geburtstag an.
Währenddessen betrat Albert Berend mit einem Blumenstrauß in der Hand das Lokal, eilte zielstrebig auf Sevinc zu und gratulierte ihr mit einem flüchtigen Kuss. Mit großer Anspannung in der Stimme überbrachte er seiner Ex-Frau eine enttäuschende Nachricht. „Ich kann nicht lange bleiben, es tut mir leid, aber ich habe nachher noch einen Termin mit einem der Akustiker.“ Während er sprach, entfernte er ungeschickt das knisternde Blumenpapier und legte es gedankenlos auf den liebevoll geschmückten Tisch. „Es geht um die ‚Weiße Haut‘, diese komplizierten besonderen Decken und Wände für das Konzerthaus.“
Julia und Sevinc hörten interessiert zu. Insbesondere Julia wurde regelmäßig von ihrem Vater über die neuesten Entwicklungen informiert. Sie fieberte aus ganz persönlichen Gründen der baldigen Eröffnung des Konzerthauses entgegen. Aber sie hatte ihr Geheimnis ihrem Vater noch nicht offenbart. Es sollte eine Überraschung werden.
„Ich habe euch sicher von dem Computerprogramm erzählt, mit dem für jede einzelne Gipsplatte eine individuelle Oberflächenstruktur berechnet worden ist?“
„Ja, Papa, diese Gipsplatten sollen einen fantastischen Klang an jeder Stelle des Konzertsaals gewährleisten.“
Albert wischte sich mit einem Taschentuch über seine feuchte Stirn.
„Von wegen ‚fantastischer Klang‘. Nun sind Probleme beim Einbau aufgetreten. Mein Gott, hoffentlich wird das kein Desaster. Erst diese Dauerprobleme mit Melzer und nun das!“
Er unterbrach seinen Redefluss, setzte sich und sah in Sevincs enttäuschtes Gesicht. Also wollte er ihr entgegenkommen.
„Einen schnellen Spumante kann ich aber wohl mit euch trinken. Wo sind denn Alexander und Denis?“
„Alexander hat geschrieben, dass er wegen einer Besprechung im LKA später kommen würde.“ Sevinc schwieg für einen Moment und sprach mit leiser Stimme: „Vielleicht kommt er sogar gar nicht … Dabei habe ich mir doch so gewünscht, dass wir heute alle zusammen sind.“
Es war nicht irgendein Geburtstag. Sie wurde fünfzig Jahre alt, und dieses Ereignis wollte sie mit ihren Kindern, Albert und vor allem mit ihrem neuen Freund im ganz kleinen Kreis feiern. Sie war sehr gespannt, wie ihre Kinder ihren Lebenspartner wohl aufnehmen würden.
„Aber ich bin doch da, Mama!“, hörte Sevinc eine Stimme in ihrem Rücken. Sie drehte sich um und versank glücklich in den Armen ihres Sohnes Denis.
Denis Berend war groß gewachsen und stämmig. Er hatte längeres, glänzendes Haar, welches jedoch an den Seiten sehr kurz rasiert war. Er trug einen Kinnbart und hatte eine Narbe, die den Schwung seiner Augenbraue durchbrach. Eine Tätowierung zierte seinen teilrasierten Schädel mit „OE“, eine Abkürzung für Osman Eternal. Sevinc küsste ihren Sohn und strich mit ihrem Finger über seine Kette. Die Hand der Fatima. All ihren Kindern hatte sie zum zehnten Geburtstag diese Kette geschenkt. Zwischen dem drängenden Bedürfnis nach Spiritualität und der lenkenden Kraft ihres Verstandes hin und her gerissen, glaubte sie trotz allem an die Energie der schützenden Hand vor dem Bösen.
Gegenüber seiner Familie hatte Denis aus der Mitgliedschaft im Verein der OE, dem Konkurrenzclub der Thunder Devils, ebenfalls eine Rockergruppe, die sich im Rotlichtmilieu verdingte und einträgliche Geschäfte machte, kein Geheimnis gemacht. Zum Thema wurde es aber trotzdem nicht gemacht, damit kein Streit aufkam. Dennoch war Denis froh, seinem Bruder Alexander heute noch nicht begegnet zu sein. Die Brüder waren sich nicht „grün“, wie man so sagt. Denis setzte sich neben seine Schwester und seine Mutter an den runden Tisch und wirkte an dem sagenhaft hergerichteten Geburtstagstisch mit seiner plumpen Massigkeit fehl am Platze, so als säße er mit seiner Rockerkutte zwischen Ritter Sir Lancelot und Percival an der Tafelrunde.
Abrupt begannen Sevincs Augen zu leuchten, als ein hochgewachsener Mann mit gepflegtem Äußeren und weißem, vollem Haar die Glastür öffnete. Er ging freudig auf Sevinc zu, die sich sofort erhob, kaum dass sie ihn erblickte. Den Arm um ihn legend, sprach sie mit feierlichem Unterton in der Stimme. „Endlich kann ich euch meine neue Liebe vorstellen. Matthias Schmitz.“
Der Neuankömmling begrüßte alle mit Handschlag, stieß dabei beinahe ein gefülltes Sektglas vom Tisch und setzte sich verlegen auf einen der rot gepolsterten Stühle.
Sevinc löste auf ihre natürliche, warmherzige Art schnell die Anspannung ihres Freundes, registrierte aber an Denis’ abweisender Körperhaltung, dass ihr Freund es mit Denis schwer haben würde. Julia hingegen schien Matthias zu mögen, und Sevinc freute sich, dass sie mit ihm angeregt plauderte.
Bereits nach einer Stunde verabschiedete sich Albert von der inzwischen gelockerten und fröhlichen Runde. Als er sein Auto aufschloss, nahm er aus dem Augenwinkel einen südländisch aussehenden Mann wahr, der wütend das Restaurant betrat und sich dort suchend umschaute.
Als er Sevinc entdeckt hatte, stampfte er über die hellen Pitchpine-Dielen des Lokals mit großen Schritten auf sie zu. Sie erkannte den Mann, es war Mesut Aslan, und ihr Gesicht verfinsterte sich.
„Was willst du hier? Du darfst dich mir bis auf hundert Meter nicht nähern! Verschwinde!“
Mesut gratulierte Sevinc ungerührt und übertrieben herzlich, als wäre er der letzte fehlende Gast gewesen, auf den alle gewartet hätten.
Er baute sich vor ihr auf und flüsterte in einem unterdrückt aggressiven Tonfall: „Sevinc, du wirst nie glücklich werden ohne mich, deswegen werde ich immer da sein, wo du bist und dich nie vergessen lassen, dass man einen Aslan nicht so behandelt ...“
Weiter kam er nicht, da packte Denis ihn am Kragen und zog ihn aus dem Lokal. Mit einem kräftigen Stoß brachte er Mesut zum Taumeln, der, über seine eigenen Füße stolpernd, endgültig das Gleichgewicht verlor.
„Wenn du meine Mutter noch einmal nervst, polier‘ ich dir richtig die Fresse. Leg dich nicht mit mir an, du Wichser. Ey, ich fick dich und deine Mutter.“ Dabei warf er ruckartig seinen Kopf in den Nacken.
Mesut Aslan rappelte sich auf und verschwand schnellen Schrittes in der ersten Seitenstraße, während Denis wieder zu seiner Familie zurückging. Lange blieb er jedoch nicht mehr, sondern erhob sich gegen dreiundzwanzig Uhr, klopfte kurz auf den Tisch und verabschiedete sich von der Runde. Seine Mutter nahm er in den Arm, drückte sie, hob sie einmal kurz hoch und setzte sie dann ab, wie er es immer beim Abschied tat.
„Feier noch schön, Mama, ich habe noch einen wichtigen Termin, du weißt, die Geschäfte rufen.“ Er zwinkerte Sevinc zu und verließ das Lokal. Sevinc wusste nicht, welchen Geschäften er jetzt nachgehen wollte. Darüber machte sie sich keine Gedanken. Sie war stolz auf ihren Erstgeborenen und darauf, was er erreicht hatte. Mit einer Speditionsfirma hatte er sich selbstständig gemacht und führte sein kleines Unternehmen sehr erfolgreich. Immerhin konnte er sich ein teures Auto leisten und sich sein verrücktes Motorradhobby in seinem Männerclub finanzieren.
Denis drückte den Knopf der Fernbedienung, vernahm ein zweifaches, kurzes, helles „Klack-Klack“ und entriegelte die Fahrerseite seines roten Mercedes Benz AMG Coupé mit gold lackierten 22-Zoll-Felgen. Er ließ sich in seine Ledersitze fallen und fuhr mit aufheulendem Motor auf die Reeperbahn, wo er eines seiner „Pferdchen“ treffen wollte.
Lisa Fels schaffte neben anderen „Freundinnen“ für Denis an und war inzwischen bis unten an der Ecke der Davidstraße aufgerückt. Sie fror und sah aus, wie die meisten Prostituierten aussehen. Große Silikonbrüste, die die Haut zum Bersten brachten, falsche lange Nägel, aufgepumpte Lippen und bis zur Unkenntlichkeit geschminkt. Als sie Denis sah, glänzten ihre Augen.
„Du, Schatz“, sagte er, und seine Stimme ließ erkennen, dass er ein Nein nicht akzeptieren würde. „Ich brauch dringend Kohle, wie viel hast du gerade da?“
Enttäuscht kramte sie in ihrer Bauchtasche und übergab ein Bündel Scheine.
„Sei nicht immer so wählerisch und mach‘, was die Kunden wollen. Du stehst ja in der Poleposition. Morgen will ich mehr Kohle sehen. Ich fahre nachher zu mir nach Hause, brauchst also nicht auf mich zu warten, Schatz.“
Mit diesen Worten verließ er die Davidstraße und betrat angespannt den legendären Club „Ritze“, um sich in einem Hinterraum mit dem Mann zu treffen, der ihm – so seine Vermutung – wegen des geplatzten Kokaindeals eine Menge Ärger machen würde.
Albaner-Klaus richtete sich auf und ging Denis mit großen Schritten entgegen, als dieser den kleinen, von Nebelschwaden durchzogenen Raum betrat. Er baute sich vor ihm auf.
„Ich hab es schon gehört, Denis, aber es ist mir scheißegal, dass die Bullen das Kilo sichergestellt haben. Ich will meine Kohle, 35000 Euro schuldest du mir.“
Ohne darauf einzugehen, schimpfte Denis über die einige Tage zurückliegende Polizeiaktion. „Irgendeiner von den Schweinen hat den Deal an die Bullen verpfiffen, wir waren so vorsichtig, Scheißdreck, wenn ich den Verräter erwische, ist der tot, ich schwör‘...“
„Heute war deine letzte Chance zu bezahlen. Ich habe die Thunder Devils im Nacken, die wollen ihre Kohle.“
„Ich scheiß auf die Wichser, sollen die doch kommen, wenn sie was wollen. Ich bin ein Osmane. Wir Osmanen haben keine Angst.“