Kitabı oku: «Taubenblut. Die Siedler», sayfa 8

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Von da an verschlechterte sich die Lage für die im Königreich Polen lebenden Deutschen dramatisch. Am schlimmsten traf es die erst in der preußischen Zeit eingewanderten Kolonisten, die in rein deutschen Dörfern lebten und oft kein Wort Polnisch sprachen. Angespornt durch den katholischen Klerus, verjagten die Polen die deutschen Siedler von ihren Höfen und leerten deren Speisekammern und Ställe. Anfang 1816 kam es zu einer Vielzahl dermaßen brutal durchgeführter Enteignungen, dass sich die russische Obrigkeit zum Einschreiten genötigt sah. Die Duldung derartiger Willkür unterster polnischer Verwaltungsbeamter gegen deutschstämmige protestantische Untertanen könnte in Preußen Missfallen erregen. Schließlich war man mit dem protestantischen Preußen nicht nur verbündet, sondern auch eng verwandt. Außerdem hatte die russische Seite nicht vergessen, dass erst vor gut zwei Jahren 100 000 Polen, gemeinsam mit Frankreichs Grande Armée, in Russland eingefallen waren. Und Zar Alexander I. hatte noch nicht verwunden, dass der polnische General Fürst Józef Poniatowski Napoleon bis zum letzten Atemzug diente, obwohl er ihm mehrfach einen Seitenwechsel angetragen hatte. All dies veranlasste den Zaren, die im Wiener Vertrag zugesicherte Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des polnischen Staates noch kräftiger zu beschneiden. Der seit dem Thronfolgekrieg von 1734 schwelende und nach dem »Ewigen Vertrag« von 1768 offen zutage tretende Hass zwischen Russen und Polen rettete erneut vielen Deutschen und Deutschstämmigen Besitz und Leben. Dem grausamen Treiben der Polen, das in einigen Gegenden ganze Dörfer entvölkert und hunderte Höfe vernichtet hatte, war nun ein Ende gesetzt. Doch die Auswirkungen ließen sich nicht per Verordnung beheben, waren doch die meisten der neuen polnischen Hofbesitzer unfähig oder sogar unwillens, das erbeutete Land zu bestellen. Zudem gab es kaum noch Zugtiere, und die wenigen Bauern, denen ein Pferd blieb, ließen es lieber im Stall. Viel zu groß war die Gefahr, dass marodierende Banden, die sich in den Wäldern herumtrieben, ihnen die Pferde wegnahmen. Und wozu sollte man überhaupt noch ein Feld für die Aussaat vorbereiten, war doch der letzte Sack Saatgetreide längst aufgegessen. In diesem Jahr blieben aber auch die Speisekammern derer leer, die ihre Äcker bestellt hatten. Der Sommer 1816 war so kalt und nass, dass es kaum etwas zu ernten gab. Das Getreide schimmelte bereits auf dem Halm, und das Kartoffelkraut starb schon vor der Blüte ab. Hatten sich doch ein paar kleine Knollen gebildet, faulten sie von innen her. Die fehlenden Erträge verursachten hohe Lebensmittelpreise. Heerscharen besitzloser Landarbeiterfamilien hungerten entsetzlich, nirgends gab es etwas zu verdienen. Wer konnte, verließ die heimische Kate, suchte in der Fremde nach Arbeit und Auskommen.

Das war sehr zum Nutzen der vielen kleinen Fabriken, die in den Städten entstanden. Diese benötigten unzählige billige Arbeitskräfte, und die gab es unter den ehemaligen Landarbeitern zuhauf. Man benötigte aber auch besser ausgebildete Leute, die lesen und schreiben konnten. Doch gerade diese einigermaßen gebildeten jungen Leute, hauptsächlich nicht erbberechtigte Söhne und unverheiratete Töchter Deutscher und Deutschstämmiger, verließen der kaum nachlassenden Verfolgung wegen Polen. Sie fanden in schlesischen, sächsischen und preußischen Fabriken gut entlohnte Arbeit und somit bessere Lebensbedingungen. Selbst Hoferben verließen das Land, zogen den in den Fabriken regelmäßig gezahlten Lohn der Unsicherheit und Wetterabhängigkeit des bäuerlichen Einkommens vor.

Wierzeje 1815

Auch in Wierzeje spürte man die Auswirkungen dieser neuen Zeit. Etliche Kinder verließen den elterlichen Hof, weil er die großen Familien nicht mehr ernährte. Gestohlen wurde schon immer. Doch nun war die Not so groß, dass Diebe nicht mal mehr das schützende Dunkel der Nacht abwarteten. Die ärmsten Städter schickten ihre Kinder zum Stehlen auf Felder und Höfe. Oft wurden sie ertappt. Nicht jeder Bauer ließ beim Anblick der Kleinen den Hund an der Kette. Die große Vertreibungswelle ging zum Glück am Dorf vorbei. Das lag vor allem daran, dass es im Ort keine Gemeinschaft nationalistisch eingeschworener Polen gab. Zudem galten die Wierzejer Lutheraner seit Stanislaus II. als Polen und hatten ihre Zugehörigkeit zur polnischen Heimat auf dem Schlachtfeld bewiesen. Ein weiteres Zeichen der neuen Zeit war, dass die ins Soldatenalter gekommenen jungen Männer auswanderten, um nicht in den unmenschlichen Drill des zaristischen Militärdienstes gepresst zu werden. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben liefen sogar die halbwüchsigen Häuslerkinder weg. Selbst diese gerade mal zwölf Jahre alten Kinder hofften darauf, in den Tuchfabriken in Ozorków und Kalisch ihr Glück zu machen. Diese Abwanderung bewirkte einen enormen Arbeitskräftemangel. Dazu kam, wegen fehlender Zugtiere mussten sogar die Pflüge von Menschen gezogen werden. Auf Höfen, die sich keine Tagelöhner leisten konnten, blieben viele Äcker unbestellt oder weiterhin in der Brache liegen. Das waren enorme Verluste, denn gerade jetzt kletterten die Getreidepreise in nie da gewesene Höhen. Wohlhabende Städter lechzten nach feinem Weizenmehl, Honig und Eiern, und die wachsende Arbeiterschaft der Fabriken verlangte nach Brot und Kartoffeln.

Die in Wierzeje verbliebenen Frauen begegneten dieser Misere, indem sie selbst den letzten im Hausgarten herangewachsenen Gemüsestrunk und selbst verkrüppeltes oder madiges Obst auf dem Petrikauer Markt feilboten. Des guten Verdienstes wegen wurde vieles verkauft, was eigentlich den eigenen Kochtopf füllen sollte. Zudem streiften die Kinder unermüdlich durch die Wälder, suchten Beeren und Pilze. Das beste Geschäft machten jedoch jene Familien, die während der Preußenzeit, vor allem wegen der Schnapsbrennerei, ihre Obstgärten vergrößert und zusätzlich Kirschen, Pflaumen und Birnen angepflanzt hatten. Selbst das aus angefaulten oder von Maden durchlöcherten Griebschen gekochte Mus fand reißenden Absatz. Es kamen aber auch Leute ins Dorf, die etwas Entbehrliches wie ein schönes Bild, einen Pelz oder Porzellan im Tausch gegen Lebensmittel anboten. Doch die meisten kamen mit leeren Händen in der Hoffnung, wenigstens ein paar Ähren aufzulesen oder Kartoffeln zu stoppeln. Anfang September lieferten Wierzejer Bäuerinnen erstmals wieder Körbe mit Lebensmitteln in die Häuser der für sie wichtigsten städtischen Beamten. Neben wenigen Polen waren das inzwischen hauptsächlich Russen, die auf Geheiß ihres Zaren hier Dienst taten. Diese Verkäufe bewirkten, dass die bis dahin herrschende Willkür der Verwaltungsangestellten gegenüber den Wierzejer Evangelischen nachließ. Auch wenn in den Ämtern manches Grundbuch verschwand und damit rechtmäßig erworbener Besitz Deutschstämmiger infrage gestellt werden konnte: In Wierzeje wurde niemand enteignet.

Gertraud, die in ihrer Kindheit nicht nur Französisch, sondern auch etwas Russisch gelernt hatte, kam mit dem neuerdings herrschenden Sprachengewirr am besten zurecht und machte gute Geschäfte. Auf den Ämtern verstand ebenfalls kaum einer den anderen. Vor allem die Polen bestanden aus Widerwillen gegenüber der russischen Obrigkeit auf ihrer Sprache. Das in Wierzeje in fast allen Familien seit langem Deutsch und Polnisch gesprochen wurde, erleichterte jetzt vieles, vor allem bei Behördenangelegenheiten. So erhielt Magda ziemlich schnell und ohne größere Zuzahlungen einen Pass für die Reise nach Freiberg. Luise erwartete die junge Mutter schon sehnsüchtig, damit sie ihr in dem großen Haus Gesellschaft leistet. Ihre zwei Töchter hatten inzwischen geheiratet und waren weggezogen. Herold, der Nachzügler, einziger Sohn und ganzer Stolz, war seit wenigen Wochen im Internat der Dresdner Kreuzschule untergekommen. Und Hermann, Luises Ehegatte, bereiste mit einer Expedition Südamerika.

Magda erwartete in Freiberg eine völlig neue Welt. Damit sie nicht wie eine Bittstellerin reisen musste, hatte ihr Georg einige Goldstücke zugesteckt. Ein Sammelsurium aus sächsischen Sechsfach- und Doppeldukaten, preußischen Dukaten und doppelten Friedrichsdór – genug Geld, um sich von einem guten Schneider in städtischer Mode einkleiden zu lassen. Dabei hatte ihr Georg ans Herz gelegt, einen ausreichenden Betrag zurückzuhalten, um im Notfall jederzeit die Heimreise antreten zu können.

Magda war noch keinen Monat weg, da starb Georg. Es schien, als habe er nur noch auf die Nachricht von Magdas sicherer Ankunft in Freiberg gewartet. Für Gertraud ein schwerer Schlag. Obwohl Georg kaum noch das Haus verlassen hatte und in seiner Gebrechlichkeit mehr Last als Hilfe war, fehlte ihr sein Rat und dem Hof der Hofherr. Gertraud traf zwar bereits seit zwanzig Jahren sämtliche Entscheidungen, doch nie ohne diese mit ihrem Vater abzusprechen. Dietrich, ihr Ehemann, hatte ihnen nie dazwischengeredet. Er half nach Kräften bei allen Arbeiten, doch am liebsten ging er auf die Jagd. Dann saß er tagelang auf der Lauer und schoss die Wildschweine ab, sobald sie auf den Feldern zu wühlen begannen. Manchmal besuchten ihn zwei hohe preußische Beamte, um gemeinsam mit ihm auf die Pirsch zu gehen. Dietrich kannte mehrere Stellen, an denen die kapitalen Hirsche wechselten, nach deren Trophäen die beiden Herren gierten. Dieser Dienst wurde ihm reich vergütet, vor allem, wenn ein besonders stattliches Tier zur Strecke gebracht werden konnte.

Gertraud hatte sich schnell damit abgefunden, dass ihr Mann lieber Jäger als Bauer war. Aus diesem Grund gab es zwischen Georg und seinem Schwiegersohn keinen Streit über die Belange des Hofes. Im Gegenteil, Dietrich war froh, dass Georg ihm diese Last abnahm. Dass Dietrich überdies lieber zur Jagd als zur Andacht ging, fand Georg zwar nicht so gut, doch er konnte es ihm nicht verdenken.

Georg war als junger Mann auch nicht gern zur sonntäglichen Andacht gegangen. Ihn ärgerte damals maßlos, dass der Dorfschulze nach der Predigt ans Lesepult trat und jedes noch so kleine Vergehen der Kinder vor der versammelten Gemeinde aufzählte, es als schwere Sünde darstellte und von den Eltern eine entsprechende Bestrafung einforderte. Dabei war der Dorfschulze selbst nicht ohne Sünde. Der Habgier und des Diebstahls beschuldigt, ließ er mittels falscher Aussage und der Macht seines Amtes den von ihm selbst Geschädigten hart bestrafen. Damals beschwerte sich ein Kleinbauer beim Gemeinderat darüber, dass der Dorfschulze den als Gemeindeland geltenden Feldweg zugunsten seines Ackers um drei Pflugbreiten geschmälert habe. Seitdem fuhren alle mit der halben Breite ihrer Wagen über seinen Acker, was beträchtlichen Schaden anrichtete. Nach einer kurzen Befragung des Dorfschulzen, in der dieser alles bestritt, beschuldigte der Gemeinderat den Bauern der Lüge und üblen Nachrede und verurteilte ihn zur Lieferung von zwei Sauen an die Glaubensgemeinschaft. Dieses Urteil verursachte unter der Jugend großen Unmut, denn der Diebstahl war nicht nur am veränderten Verlauf des Weges gut zu erkennen, die unterschiedliche Bodenbeschaffenheit trat deutlich zutage.

Beim nächsten Konfirmandenunterricht wollten die Jungen dem Petrikauer Pfarrer über das falsche Urteil berichten und ihn bitten, sich der Sache anzunehmen. Doch Georgs Großvater Johann riet ihnen damals davon ab. Sie seien noch nicht volljährig, und ihre Aussage habe deshalb keinen Wert. Es sei besser, wenn er selber, als vollwertiges Gemeindemitglied, den Pfarrer bitte, sich bei Gelegenheit und wie rein zufällig, den Landdiebstahl vor Ort anzusehen, um die Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen. Gegen das Wort des Pfarrers kam der Dorfschulze nicht an, er musste ordentlich Entschädigung zahlen. Später kam dann doch heraus, dass Johann dem Pfarrer den Tipp gegeben hatte. Es dauerte Jahrzehnte, ehe die Angelegenheit in Vergessenheit geriet. Nun war mit Georg der Letzte gestorben, der diesen dreisten Amtsmissbrauch miterlebt hatte.

Wenige Tage nach Georgs Beerdigung sprach einer der jetzigen Dorfräte bei Gertraud vor. Der Dorfrat habe gestern getagt, und man wolle keine Zeit verlieren, ihr die Beschlüsse mitzuteilen: Es betreffe hauptsächlich den Torfstich. Dieser Besitz stehe im Widerspruch zur alten Willkür, nach der das Moor, so es nicht trockengelegt und zum Ackerbau genutzt werde, der Gemeinde gehöre.

Ihre Familie habe den Torfstich zwar angelegt und den ganzen Bereich über die Jahre mühevoll entwässert, aber mit Ackerbau habe das nichts gemein. 1793 habe ihr Großvater Johann dem königlichen Makler zwar einen großen Teile des Sumpfes abgekauft und den Erwerb im Grundbuch eintragen lassen, doch ohne die dafür notwendige Zustimmung des Gemeinderates einzuholen. Damit sei das ganze Geschäft ungültig. Deshalb wurde gestern festgelegt, dass sie die Hälfte vom Verkaufserlös des Torfes an die Gemeindekasse abführen müsse. Angesichts ihres dreifachen Verlustes komme man ihr wohlwollend entgegen und lasse ihr deshalb die Hälfte des Gewinns. Man trauere mit ihr. Und damit sie sich voll und ganz der Trauer hingeben und dem Gebet widmen könne, werde sie der Gemeinderat bei der Bewirtschaftung des großen Anwesens unterstützen.

Sehr wohl überlegte, mitfühlend und besorgt klingende Worte, mit denen die Ratsmitglieder der Trauernden zur Kenntnis gaben, dass sie ihr Anwesen bereits unter sich aufgeteilt hatten. Gertraud wusste im Dorf niemanden, der ihr beim Kampf um ihr Erbe beistehen könnte. Keiner würde es wagen, diese gütig und fürsorglich klingende Entscheidung zu hinterfragen oder gar dagegen aufzubegehren. Die Gemeinderäte hatten viel Macht und legten jeden Widerstand als Verstoß gegen die Gebote aus, selbst wenn es in der Heiligen Schrift ganz anders geschrieben stand. Auch Georg, ihr Vater, hatte sich deswegen oft mit den Ratsmitgliedern gestritten und manchmal sogar über die amtliche Gerichtsbarkeit eine Änderung zugunsten Beschuldigter erwirkt. Und nun konnten sich diese alten Männer endlich dafür rächen. Doch ganz ohne Gegenwehr wollte sich Gertraud den Familienbesitz nicht wegnehmen lassen.

Ein freundlicher Beamter

Am nächsten Morgen fuhr Gertraud nach Petrikau aufs Amt. Sie brauchte dringend einen Beschützer, der diese scheinheiligen Räuber in die Schranken wies. Die russische Obrigkeit hatte bereits viele deutsche Höfe vor der Missgunst der Polen bewahrt, warum nicht diesmal eine Witwe vor der Habgier der eigenen protestantischen Landsleute! Gertraud hatte Glück. Trotz russischer Besatzung arbeiteten in den Ämtern immer noch einige der ehemals preußischen Staatsdiener, die aus Mangel an russischen oder geeigneten polnischen Beamten in den russischen Staatsdienst übernommen worden waren. Der Verwalter der Grundbücher war einer dieser Unentbehrlichen. Im Jahre 1796, als die preußische Kriegs- und Domänenkammer nach Kalisch verlegt wurde, blieb das Archiv des Grundbuchamtes wegen des aufwendigen Transports in Petrikau. Für ein oder zwei Jahre, wie es damals hieß, doch dann ist es dabei geblieben.

Der Portier führte sie bis vor eine Tür im zweiten Stockwerk. Er klopfte recht forsch an und bevor sich Gertraud versah, öffnete er die Tür und schob sie in das Büro. Hinter einem riesigen Schreibtisch saß ein ergrauter Herr und blätterte in einer Akte. Unwirsch über die Störung blickte er auf. Gertraud, die nur einen Schritt hinter der Tür stehen geblieben war, stellte sich vor und schilderte kurz ihr Anliegen. Daraufhin stand der Mann auf, schob einen Lehnstuhl vor den Schreibtisch und bat sie Platz zu nehmen. Er nickte mehrmals verständnisvoll, als sie ihm das Vorgehen der Gemeinderäte und ihre damit verbundenen Ängste schilderte.

Die Notariatsakten und Grundbücher aus der Zeit König Stanislaus August Poniatowskis wären alle noch vorhanden, versicherte ihr der Beamte. Und tatsächlich, es dauerte nur ein paar Minuten, bis er mit den alten Unterlagen aus dem Archiv zurückkam. Ein gewisser Johann Schlüter hatte 1765 sogar eine notarielle Beurkundung anfertigen lassen, in der nicht nur das eben erworbene Land, sondern sämtlicher Grundbesitz aufgelistet und beschrieben war. Als Alleinerbe stünde ein 1750 in Warschau geborener Georg Schlüter in den Papieren. Das sei ihr eben verstorbener Vater, versicherte Gertraud dem Beamten.

Sie selbst habe als Erstgeborene den Hof bereits 1794, anlässlich ihrer Hochzeit, vom Vater überschrieben bekommen. Ihrer Schwester Luise zahlte der Vater das ihr zustehende Erbteil aus, als sie einen aus dem sächsischen Freiberg stammenden Studiosus heiratete. Seitdem lebe die Schwester in Sachsen. Gertraud staunte, als ihr der Mann die Abschrift einer Urkunde aus dem Jahr 1799 vorlegte, auf der Luise und ihr Mann im Beisein eines Notars den Erhalt einer ansehnlichen Summe quittiert hatten. Der Beamte riet ihr, auch wenn es einiges koste, von den Grundbucheinträgen Abschriften anfertigen zu lassen. In der letzten Zeit seien vielerorts Grundbücher verschwunden, und dann wäre es unmöglich, die Unrechtmäßigkeit einer gegnerischen Forderung zu beweisen. Vor Gericht würde so ein Streit in einem Vergleich enden und er sei überzeugt, dass die Gegenseite darauf setzte. Für ein paar Zloty Gerichtskosten gewänne der Kläger dann ein schönes Stück Land. Es sei außerdem sinnvoll, einen Satz der Abschriften der in Freiberg lebenden Schwester zukommen zu lassen. Nur zur Sicherheit, für den Fall, dass ihr als Erstgeborene, ein Unglück zustoße oder, Gott behüte, der Hof abbrenne.

Gertraud war auf dem Stuhl zusammengesunken. Wofür habe sie denn ihr ganzes Leben gearbeitet, wenn ihr nun alles weggenommen werden kann? Doch am meisten erschütterte sie, dass Gott und die ganze Gemeinde billigend zusahen, wenn Angehörige der eigenen Glaubensgemeinschaft die Gebote missachteten, um sich zu bereichern. Wut und Kampfesgeist stiegen in ihr auf. Ganz so einfach, wie die glaubten, wollte sie es diesem habgierigen Bauernvolk nicht machen! Sie wird Hermann und Luise bevollmächtigen, für den Fall ihres Todes die Verwaltung des Hofes und die Vormundschaft über den von Magda geborenen Hoferben Johannes und ihre eigenen unmündigen Töchter Katharina und Elisabeth zu übernehmen. Dazu wird sie sogar beeiden, dass Johannes Hagens Kind sei und Magda die während des Krieges rechtmäßig angetraute Braut. Im Krieg verschwinden nun mal alle möglichen Papiere, nicht nur Grundbücher! Gertraud entschloss sich zu dieser Aussage, um auszuschließen, dass Magda das Brandmal einer der Unzucht verfallenen Magd aufgedrückt bekommt. Denn so ein »sündiges Stück Mensch« hatte in den Augen der Gemeinderäte und des Dorfschulzen nicht das geringste Recht auf Anhörung, geschweige ihr Bankert Anspruch auf einen so großen Hof. Nur mit dem vor Gott geschlossenen Ehebund und einem von ihr, Gertraud, bereits zu ihren Lebzeiten bestimmten Vormund sowie vollständigen Papieren bestand die Aussicht, Georgs Erbe zu retten. Gertraud kannte Luises Ehemann Hermann zwar nur aus Georgs Erzählungen. Doch so wie er Magda und den kleinen Johannes aufgenommen hatte, musste er ein guter Mensch sein. Dieser Gedanke gab ihr wieder Zuversicht. Sie fasste sich und kehrte in das unterbrochene Gespräch zurück.

Der freundliche Beamte hatte ihre Erregung bemerkt und gewartet. Nun erkundigte er sich, ob der Hof die unruhigen Zeiten gut überstanden habe und ob sie mit der Bestellung ihrer Felder vorankomme. Gertraud erzählte, dass sie, wie alle Bauern, kein einziges Pferd mehr besitze. So bliebe ihr nichts weiter übrig, als einen Großteil der Felder brach liegen zu lassen. Sie habe zwar drei Kühe, doch die möchte sie nicht vor den Pflug spannen. Kühe seien langsam, und wenn sie so schwer arbeiten müssen, versiege die Milch. Als der Beamte daraufhin fragte, ob sie sich überhaupt neue Pferde leisten könne, wurde sie misstrauisch und verneinte. Mit einem Fremden und dazu noch einem Staatsdiener, würde sie nie und nimmer über ihre Rücklagen reden. Wieder zu Hause, ärgerte es sie, sich nicht nach dem Grund seiner Frage erkundigt zu haben. Als sie einige Tage später die Abschriften vom Amt abholen fuhr, packte sie einen Korb mit zwei Räucherwürsten, einem gut faustgroßen Stück Schinken, einem Glas Honig, einem Pfund frisch geschlagener Butter und einem Leinenbeutel mit getrockneten Apfelringen und brachte es dem freundlichen Herrn als kleinen Dank für seine Hilfe. Sie sagte ihm, dass sie sich zwei Pferde leisten könnte, wenn der Preis nicht zu weit über dem Üblichen läge. Er wolle nichts versprechen, erwiderte der Beamte, aber er würde seinen Neffen Ferdinand um Hilfe bitten. Der stehe in preußischen Diensten und handele mit allem, was das Militär benötige. Dabei komme er viel herum, manchmal bis nach Trakehnen. Auf dem dortigen Hauptgestüt kaufe er von der preußischen Remontekommission ausgemusterte Pferde, um sie an befreundete Gutsbesitzer weiterzuverkaufen. Sein Neffe könne bestimmt zwei brave und nicht allzu teure Tiere auftreiben. Und wenn nicht, würde er seinen ehemaligen Vorgesetzten und jetzigen Oberpräsidenten der preußischen Provinz Posen, Joseph von Zerboni, um zwei oder drei ausgediente Armeepferde bitten. Früher bekam man solche Tiere fast umsonst, holte die meisten dieser abgehalfterten Geschöpfe der Abdecker. Doch dieser Krieg kostete zu viele Pferde. Sie sind so rar, dass selbst die gebrechlichsten Klepper umhegt und gepflegt werden. Der Mann atmete geräuschvoll aus. Und so kurz nach Kriegsende, fuhr er fort, sei ein wirklich gutes Gespann kaum zu bekommen und koste richtig viel Geld. Wenn sie es möchte, würde er seinen Neffen bitten, ihr die Hälfte des Preises bis nach der Ernte zu stunden.

Dieses Stundungsangebot war für Gertraud ein Zeichen des Himmels. Nicht des Geldes wegen, davon hatte sie genug im Sparstrumpf. Ihr gefiel der Mann, er schien einen Sinn für Gerechtigkeit zu besitzen, und sie war sich sicher, mit ihm könnte sie den Hof retten. Dazu müsste er sie in Wierzeje besuchen. Das würde die Gemeinderäte verunsichern, war sie doch immer noch eine recht ansehnliche Frau und außerdem im Witwenstand. Sie nahm all ihren Mut zusammen und fragte, ob er sich denn nicht ihr Anwesen ansehen möchte, um sicher zu sein, dass sie den Kaufpreis tatsächlich aufbringen könne. Das werde er, wenn sie es unbedingt möchte.

Es vergingen nur ein paar Tage, und der Beamte kam mit einem Einspänner auf den Hof gefahren. Gertraud gefiel, dass er den Wagen ohne fremde Hilfe führen konnte. Er war von der Sulejówskaer Straße her ins Dorf gekommen. Vor dem Gemeindehaus hatte er gehalten und sich bei einigen Halbwüchsigen nach ihrem Hof erkundigt. Dabei hatte er einen der Jungen sogar einsteigen geheißen, um nicht den abzweigenden Weg zu verfehlen. Als Gertraud ihrem Besucher den Torfstich zeigte, gewahrte sie zwischen den Kiefern zwei Gemeinderäte, die sich flugs ins Gebüsch duckten, um nicht entdeckt zu werden. Ihr Plan war also aufgegangen. Die heimlichen Späher konnten nur darüber rätseln, warum die Schlüterin ihren Gast über das Anwesen führte. Ihnen war zwar zugetragen worden, dass Gertraud das Amt aufgesucht hatte, aber nicht weshalb. Es musste in Erwägung gezogen werden, dass sich der stattliche Beamte und die vermögende Witwe als Paar zusammengefunden hatten.

Die Pferde brachte Ferdinand Höfer höchstpersönlich nach Wierzeje. Zugfeste Oldenburger Stuten und im besten Alter, lobte er die Tiere. Er war auf dem Weg nach Kielce und hatte noch weitere Pferde dabei, Reitpferde für einen Oberbergrat und vier überaus edle Kutschpferde für einen hohen russischen Beamten. Gertraud sah sich ihre Stuten genau an, gesunde, ruhige Tiere mit kaum abgeriebenem Gebiss. Die Pferde waren ihren Preis wert und Gertraud zahlte, ohne zu feilschen. Der junge Herr Höfer fragte, ob sie auch Kühe kaufen möchte. Eigentlich handele er nur mit Pferden, doch ein befreundeter Gutsbesitzer im Schlesischen habe ihn gebeten, auf der nächsten Tour ein paar gute Zuchttiere, möglichst Schwarzbunte, aus dem Holsteinischen oder dem Danziger Umland mitzubringen. Ob er nun zwölf oder zwanzig Tiere treiben lasse, mache nichts aus. Schwarzbunte kämen auch mit den hiesigen feuchten Wiesen gut zurecht. Und mit Butter sei gutes Geld zu verdienen, sodass sich die Ausgabe schnell rentiere. Gertraud hätte beinah sofort zugestimmt, doch ihr anerzogenes Misstrauen mahnte sie zur Vorsicht. Sie jammerte, eben ihre ganzen Ersparnisse für die Pferde ausgegeben zu haben und deshalb könnte sie sich höchstens eine Kuh leisten. Erst wenn die Ernte unter Dach und Fach sei, habe sie wieder Geld in der Kasse.

Nach einem Moment des Schweigens bot ihr der junge Mann einen besonderen Handel. Er brächte ihr die Kühe, er denke an vier gedeckte Färsen, ohne jede Bezahlung, wenn sie dafür in Zukunft seine Pferde und Knechte bei der Durchreise für einen oder zwei Tage auf ihrem Hof rasten ließe. Dann könnten die Knechte nachts schlafen, brauchten keine Wache schieben. Und er selbst hätte Gelegenheit für einen Abstecher nach Petrikau, um wenigstens ab und an mit seinen Onkel ein wenig zu plaudern.

So kam es dann auch, wenngleich mit zwei kleinen Änderungen. Neben den vier Färsen brachte Ferdinand Höfer noch einen Bullenfresser mit, ein fast einjähriges, kräftiges, reinrassiges Tier. Ein Jungbulle, der in wenigen Monaten für besten Nachwuchs sorgen würde. Vorerst hätte er jedoch nur Fressen im Sinn, liefe gehorsam mit der Herde mit, ohne Kühen und Färsen allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Die zweite Änderung betraf den Onkel, Christian Scheibler. Jedes Mal, wenn der Neffe mit seinen Männern und Tieren auf Gertraudes Hof rastete, stand auch des Onkels Einspänner vor dem Haus. Im selben Jahr kaufte Gertraud noch zwei Schleswiger Kaltblut. Eine kräftige Pferderasse, bestens geeignet zum Pflügen des schweren Bruchbodens und zum Holzrücken.

Der Mühen Lohn

Geschäftstüchtig wie Gertraud war, verlieh sie die Pferde gegen Pflugdienste auf ihren Äckern. Dabei war ihr egal, ob sich ein deutscher oder ein polnischer Bauer die Tiere auslieh. Ihr war wichtig, dass ihre eigenen Felder nicht brach liegen blieben. Auf den höher gelegenen trockneren Äckern mussten zudem dringend Mist und Jauche ausgebracht werden, denn der sandige Boden war völlig ausgemergelt. Im Herbst bescherte eine besonders reiche Kartoffelernte außerordentlich hohe Einnahmen. Wer klug war, kaufte Pferde, auch wenn die Preise beträchtlich waren und die Tiere oft den einen oder anderen Mangel aufwiesen. Hauptsache, sie zeigten keinen widerwilligen oder gar steifen Gang, denn das bedeutete kranke Hufe, und die ließen sich nicht kurieren. Der Mangel an Arbeitskräften blieb jedoch das größte Problem. Auch wenn sich die Frauen und ihre halbwüchsigen Söhne noch so mühten, sie waren zu schwach, um den Pflug gerade und in gleichmäßiger Tiefe über den Acker zu führen.

Im Frühjahr 1816 verlangten die wenigen Landarbeiter, die den Krieg heil überstanden hatten, deutlich mehr Lohn, als bisher üblich. Die Männer wussten, dass die größeren Höfe letzten Herbst gut verdient hatten, und nun wollten sie wenigstens einen kleinen Teil davon abhaben. Statt lange zu feilschen ging Gertraud auf ihre Forderung ein. Feldarbeit musste nun mal zu bestimmten Zeiten erledigt werden, schmälerte doch jeder Tag Verzögerung den Ertrag. Dabei erinnerte sie sich der Art ihres Vaters, mit den Landarbeitern zu verhandeln. Georg hatte die Männer stets nach der Güte ihrer Arbeit bezahlt und nie zu knapp. Für besonders sorgfältiges Arbeiten stellte er sogar Zulagen in Aussicht. Und weil er den zugesagten Lohn über all die Jahre tatsächlich ohne Abzüge auszahlte, fragten die Männer auch dieses Frühjahr zuallererst auf dem Schlüterhof nach Arbeit. Für Gertraud war es die größte Freude zuzusehen, wie die blanken Pflüge das Erdreich umbrachen und sich der Boden unter den Eggen in ein weiches, feinkrümeliges Saatbett verwandelte. Auf ihren Feldern grünte bereits die Saat, als bei ihren Nachbarn gerade mal mit dem Pflügen begonnen wurde. Vor der Heumahd wiederholte sich die Feilscherei. Gertraud konnte es sich mit ihrem vollen Kuhstall und vier Pferden nicht leisten, das Gras auf den Wiesen zu lange stehen zu lassen. Sie brauchte unbedingt noch den spätsommerlichen Grummetschnitt, um ausreichend Winterfutter auf dem Heuboden liegen zu haben. Nicht auszudenken, wenn sie drei oder vier Kühe wegen Futtermangels verkaufen oder schlachten müsste. Auch wenn sie die Lohnforderung der Landarbeiter als unverschämt empfand, sie zahlte. Doch nun sah sie viel genauer hin, wie die einzelnen Leute arbeiteten. Sie ermahnte, wo notwendig, kürzte allerdings niemandem den Lohn. Aber sie merkte sich jede Kleinigkeit. Es könnte einige Zeit dauern, doch spätestens in drei oder vier Jahren wird es sicher wieder mehr Arbeiter als Arbeit geben. Und dann bestimmt sie wieder die Höhe des Lohnes und auch, wer auf ihrem Hof sein täglich Brot verdient. Bis dahin heißt es sich dreinzufinden und Gott zu danken, dass es nicht noch schlimmer gekommen war.

Den halben Mai und den ganzen Juni regnete es keinen Tropfen. Durch die späte Aussaat erreichten die Getreidewurzeln nicht die notwendige Tiefe, um die Trockenheit ohne Schaden zu überstehen. Auf vielen Feldern trugen die Ähren Schmalkorn oder waren sogar im Halm stecken geblieben. Auf den wenigen Feldern, auf denen die Ähren volle Körner trugen, verhinderte der oft nur schlecht gepflügte Boden eine gleichmäßige Reife. Ausgereifte gelbe Ähren mischten sich mit grasig grünen. Solche Felder waren der größte Gräuel eines Bauern, denn dieses Farbspiel bedeutete hohe Verluste. Auch wenn die Schnitter sich noch so mühten, inzwischen überreife Ähren verloren den Großteil ihrer Körner bereits während der Mahd und des Bindens der Garben. Das sollte nicht das einzige Übel dieser Ernte bleiben. Niemand rechnete damit, dass die üblichen Sommergewitter in einen nicht enden wollenden Regen übergingen und die auf den Feldern stehenden Puppen schimmeln ließen.

Nicht so Gertrauds Weizen. Rechtzeitig gesät und gleichmäßig aufgelaufen, hatte ihm die spätere Trockenheit kaum geschadet. Die kräftigen Halme trugen schwer an den vollen Ähren. Gut eine Woche vor den ersten Gewittern war auch das letzte der gelbgolden wogenden Felder gemäht. In der Sommerhitze trockneten die zu Puppen aufgestellten Garben innerhalb weniger Tage restlos aus, sodass mit dem Einfahren begonnen werden konnte. Es war noch kein einziges Wölkchen zu sehen, da war die letzte Fuhre eingebracht. Jetzt hätte Gertraud mit ihren Gespannen anderen Familien helfen können, doch die meisten hatten gerade erst mit der Mahd begonnen. Außerdem mussten die aufgestellten Garben noch austrocknen, schon wegen des hohen Anteils unreifen Getreides. Ansonsten setzte man sich der Gefahr aus, dass sich die zu feucht eingelagerten Garben erhitzen und entzünden. Dann wären nicht nur die Ernte, sondern auch Haus und Hof verloren.

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