Kitabı oku: «Taubenblut. Die Siedler», sayfa 9
Die eigene schlechte Getreideernte nahmen etliche alte Männer zum Anlass, mit übler Nachrede über die Besitzerin des Schlüterhofes herzuziehen. Ihres Wissens nach konnte es nicht mit rechten Dingen zugehen, dass der Weizen auf manchen Feldern dicke Ähren trug und woanders im Halme stecken blieb. Die allen gut bekannte Bäuerin wird wohl einen Pakt mit den Ungläubigen eingegangen sein, die neuerdings in großer Zahl auf ihrem Hof ein- und ausgingen.
Damit meinten die Alten zum einen die Katholiken, denen sie ihre Pferde lieh und die dafür auf ihren Feldern arbeiteten. Ihr Hauptärgernis waren jedoch die Petrikauer Juden, denen sie Gemüse, Kartoffeln und Butter verkaufte. Dabei deuchten ihnen zwei dieser Nachkommen Abrahams von besonderem Übel. Der erste war der jüdische Wollhändler, der stets um die Pfingstzeit mit irgendwelchem Gesindel einige Tage auf ihrem Hof Quartier nahm und dem Schäfer bei der Schafschur zur Hand ging. Der zweite war ein Viehhändler, der für deren Pessachfest die überzähligen Lämmer der Schlüterschen Schafherde aufkaufte. Dieser Mann war für sie der Durchtriebenste, Gierigste, Brutalste und deswegen Verachtungswürdigste unter all dem schmierigen Gelichter, das sich auf dem Schlüterhof herumdrückte. Jeder anständige Christ wüsste, dass dieser Unmensch den armen, unschuldigen Tieren in der Nacht vor dem Fest den Hals in Höhe der Kehle aufschnitt, damit alles Blut aus ihnen herausflösse. Als ob sie es selbst gesehen hätten, beschrieben die alten Männer, wie entsetzlich es anzuschauen sei, bis die Lämmchen mit aufgerissenem Maul, hervorquellenden Augen und herausgestreckter Zunge tonlos blökend verendeten. Nicht umsonst bezeichnete bereits der Reformator dieses Volk als Natterngezücht und schlimmsten höllischen Abschaum.
Dieses Geschwätz bewirkte, dass die kleineren Kinder vor Gertraud davonliefen, um sich hinter den Röcken ihrer Mütter zu verbergen. Die Halbwüchsigen versteckten sich jedoch auf dem Hof, wollten den Grusel mit eigenen Augen sehen. Selbst während der sonntäglichen Andacht wurde unvermindert hinter Gertraud getuschelt. Am liebsten wäre sie nicht mehr ins Gemeindehaus gegangen und stattdessen zum Gottesdienst nach Petrikau gefahren. Doch damit hätte sie auch noch den bislang schweigenden Rest der Gemeinde gegen sich aufgebracht.
Der Heiratsantrag
Zu Erntedank rastete Ferdinand Höfer erneut auf ihrem Hof. Wie jedes Mal kam sein Onkel Christian mit seinem Einspänner nach Wierzeje. Nach dem Abendessen erzählte Gertraud von den offenen Anfeindungen und dass man ihr vorhielt, sich nicht wie eine Witwe zu verhalten. Dabei sei ihr Mann im Mai 1813 gefallen und selbst ihr Vater schon ein ganzes Jahr unter der Erde. Für einige Minuten kehrte Stille ein. Doch dann stand Herr Christian Scheibler von seinem Stuhle auf und kniete vor Gertraud nieder. In dieser Haltung bat er sie, mit ihm vor den Altar zu treten und damit ihr Witwendasein in aller Öffentlichkeit zu beenden. Er selbst sei schon seit Längerem verwitwet und scheide in wenigen Jahren mit einer guten Pension aus dem Staatsdienst aus.
Nach dieser Erklärung trat wieder Stille ein, denn nicht nur Gertraud hatte es die Sprache verschlagen, auch dem weltgewandten Ferdinand stand großes Staunen im Gesicht. Nachdem sich Herr Scheibler wieder gesetzt hatte, erzählte er, dass er schon seit Gertrauds erstem Besuch im Amt tagtäglich darum gebetet habe, dass Gott ihm diese große Gnade gewähre. Er habe sie sofort wiedererkannt. Vor vielen Jahren, sie war damals gerade guter Hoffnung, war er mit einem Freund auf ihrem Hof zu Gast gewesen. Ihr Mann Dietrich hatte gut angefüttert, und sie erlegten einen ansehnlichen Keiler. Seitdem habe das Gewaff des prächtigen Tieres im Herrenzimmer seiner Wohnung einen Ehrenplatz und erinnere an den Besuch.
Am zweiten Advent 1816 wurden Gertraud und Christian getraut. Trauzeugen waren Christians Neffe Ferdinand und dessen Freund Franz Ziller aus Breslau, Kanzleiassistent am schlesischen Oberbergamt. Während der Befreiungskriege hatten beide in der gleichen Kompanie des preußischen Garde-Jäger-Bataillons gedient. Während der Schlacht bei Leipzig erwarben sich Ferdinand und Franz am Katzbach große Verdienste, weswegen sie nach dem Ende des Krieges in den Staatsdienst übernommen wurden. Während Franz sich dem Bergbau zuwandte, blieb Ferdinand dem Militär verbunden, indem er mit Militärbedarf handelte.
Die Willkür hoher und niedriger Obrigkeit
Obwohl in Kongresspolen offiziell Frieden herrschte, versuchten adelige polnische Gutsbesitzer, sich den rechtmäßig erworbenen Grund und Boden der aus deutschen Ländern zugewanderten Kolonisten anzueignen. Die Gesetze ausnutzend, nahmen sich die in den Behörden sitzenden Landadeligen gleich ganze Höfe, indem sie die Besitzer eines Vergehens, meist der Steuerhinterziehung, beschuldigten. Dabei wurden sie von den örtlichen katholischen Kirchenoberen moralisch unterstützt. Diese werteten die Enteignung von Protestanten als besonders gottgefällig, sahen darin die Rückführung guten polnischen Heimatlandes. In ihren Predigten sprachen sie davon, dass die Kolonisten einstmals mit kaum mehr als ein paar schäbigen Habseligkeiten ins Land gekommen waren. Und dass es aller Gerechtigkeit entbehre, wenn sie nun über mehrere Morgen Pachtland oder gar Erbland verfügen, nur weil der damalige Grundherr sie ihr Haus darauf bauen ließ. Altansässigen polnischen Bauern sei keine derartige Großzügigkeit zuteil geworden, denen hat man kaum das täglich Brot gelassen. Dass auch die katholische Kirche für die Nutzung ihres Landes von eben diesen alteingesessenen polnischen Bauern hohe Abgaben forderte, wurde in den Predigten nicht erwähnt. Auch nicht, dass die deutschen Siedler, protestantische wie auch katholische, die Flächen unter größten Mühen erst urbar gemacht hatten. Viele dieser Siedler fürchteten nun um ihr Leben und zogen weiter ostwärts, nach Bessarabien und sogar bis hin zur unteren Wolga. Der große Krieg hatte in Russland ganze Landstriche entvölkert, die neu besiedelt werden mussten. Die aus Polen flüchtenden deutschen Bauern wurden deshalb nicht nur mit Land und Steuerfreiheit beschenkt, der Zar versprach ihnen sogar eine auf ewig geltende Befreiung vom Militärdienst. Im Petrikauer Umland kam es nach dem Ende der Befreiungskriege nur zu einzelnen gewalttätigen Ausschreitungen. Die meisten Deutschen, egal ob protestantisch oder katholisch, waren schon vor Jahrzehnten eingewandert, sprachen Polnisch und galten sogar offiziell als Polen.
Anders in der Stadt, hier zog der aufgepeitschte Mob hauptsächlich durch die Judenviertel und schlug auf jeden ein, der ein Jude sein konnte. Seit 1700 hatten sich in Petrikau besonders viele und auch sehr wohlhabende Juden angesiedelt, die nun ausgeraubt und manchmal sogar aus ihren Häusern vertrieben wurden. Meist verliefen diese Raubzüge ohne größeres Aufsehen, da sich die Juden nur selten wehrten. Sie hofften, dass sich die Plünderer mit ihrer Beute begnügen und der Hass nicht in tödliche Gewalt umschlägt. Da in der Stadt fast die gleiche Anzahl Juden wie Polen lebten und sich längst nicht alle Polen an den Raubzügen beteiligten, stellte sich bald ein gewisser Plünderungsüberdruss ein. Das einfache Volk zog vollgepackt mit Beute wieder ab, während Beamte und Advokaten die Gelegenheit nutzten und eiligst in die vordem von Juden bewohnten Häuser zogen. Für den katholischen Klerus ein äußerst unbefriedigendes Ergebnis. Die Vertreibung der Juden galt zwar ebenfalls als gutes Werk, doch die Protestanten waren für ihn die viel schlimmeren Feinde. Erneut wurde in den Gottesdiensten die Vernichtung dieser Ketzer gefordert. Doch mit einer so offenen Gewalt wie gegen die Juden traute sich niemand gegen die Deutschstämmigen vorzugehen, denn gerade die Protestanten hatten es verstanden, sich bei der russischen Obrigkeit anzudienen.
Im Allgemeinen schritten russische Behörden bei Reibereien zwischen Deutschen und Polen nicht ein. Trotzdem befürchtete man in den unteren von Polen besetzten Verwaltungsebenen, dass die Protestanten bei Beschlagnahmung ihres Eigentums die russischen Behörden zu einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Vorgangs veranlassen könnten. In der Bestrafung von Amtsmissbrauch waren die Russen gegenüber polnischen Verwaltungsangestellten nicht zimperlich. Schneller als gedacht, landete der Betreffende in Sibirien.
Die erzwungene Zurückhaltung vergrößerte jedoch den Hass auf die Lutheraner und führte zu vielerlei Schikanen. Etliche Verordnungen und Gesetze ließen sich so gestalten, dass keine böse Absicht nachgewiesen werden konnte. So forderte der neue polnische Ortsvorsteher die Wierzejer Lutheraner auf, die deutschsprachige Bibel aus dem Bethaus zu entfernen. Das Bethaus sei ein öffentlicher Ort und in solchen dürfen Schriften nur in den geltenden Amtssprachen ausgelegt und verlesen werden. Die Einhaltung der Anordnung wurde des Öfteren während der Andachten kontrolliert. Aus den Gesangbüchern riss er die Seite mit dem Lutherlied »Ein feste Burg ist unser Gott« heraus und verbot das Singen dieser ketzerischen Hymne. In der Schule durfte nur noch in den Amtssprachen Russisch und Polnisch unterrichtet werden. Da der deutsche Lehrer angeblich weder die russische noch die polnische Sprache ausreichend beherrschte und sich kein anderer Lehrer fand, wurde die Schule geschlossen.
Der Ortsvorsteher war der Ansicht, um ein guter Untertan zu sein, müsse man nicht Lesen und Schreiben können. Lesen und Schreiben sei Sache der Obrigkeit und alles Wichtige, was ein Untertan wissen muss, erfährt er vom Ausrufer. Da wegen der Schulpflicht der Unterricht jedoch nicht gänzlich ausfallen durfte, unterrichtete ein katholischer Priester Religion. Alle Kinder, also auch die Lutheraner, Juden und Orthodoxen, mussten daran teilnehmen. Sprach ein Kind in der Schule Deutsch, hatte es der Priester dem Ortsvorsteher zu melden, damit die Eltern mit einem Bußgeld belegt werden konnten. Am liebsten hätte dieser Mann die Häuser der Evangelischen nach deutschen Schriften durchsuchen lassen. Er vermutete darin schlimmstes Teufelszeug, das die Menschen vom rechten Glauben abbringe und deshalb vernichtet werden müsse. Zum Glück hatten die Lutheraner die kostbare Hauspostille längst wieder versteckt. Außerdem war der Ortsvorsteher der Ansicht, Lesen und Schreiben mindere die Gottesfürchtigkeit. Das sähe man an den Universitäten, wo man Gottes Schöpfung mit angeblicher Wissenschaft zu widerlegen versuche. Ein wahrhaftig gottesfürchtiger Untertan habe einzig und allein seinem weltlichen sowie dem Herrn im Himmel zu dienen, deren Gesetze und Verordnungen einzuhalten und regelmäßig zur Beichte und zur Heiligen Messe zu gehen. Mit dieser Einstellung war er keine Ausnahme. Auch der niedere Landadel betrachtete selbst einfachste Bildung als unnütz, kaum einer konnte lesen oder gar schreiben. Eines Herren Wort galt, und war ein Schreiben unabdinglich, ritt man ins nächste Kloster.
Obwohl die Schule geschlossen wurde, verlangte der Ortsvorsteher weiterhin von den Familien Schulgeld. Einem neuen Lehrer müsse er schließlich Vorschuss und Reisegeld bieten. Und es könne niemand verlangen, dass er diese Kosten aus der eigenen Tasche vorschieße. Dabei war im Dorf längst bekannt, dass er die freie Stelle noch nicht mal bei der Schulbehörde gemeldet hatte.
Boris, der Hauslehrer
Aus diesem Wissen heraus nutzten die Lutheraner ihre guten Kontakte und erwirkten die Genehmigung, zumindest Russisch und Französisch durch Hauslehrer unterrichten zu dürfen. Für die inzwischen gut verdienenden Familien der evangelischen Gemeinde war das keine allzu große finanzielle Belastung. Die Suche nach einem Lehrer übernahm eine Warschauer Agentur, die im Auftrag des Zaren württembergische Bauern für Bessarabien warb. Der junge Mann, der im Frühjahr 1817 in Wierzeje eintraf, hieß Boris Haller und stammte ursprünglich aus Elsass-Lothringen. Neben Deutsch und Französisch sprach er zur Verwunderung aller recht gut Russisch. Die Sprache seiner Mutter, einer russischen Adeligen. Auf dem Weg nach Paris verloren seine Eltern in einer Badener Spielbank alles, wovon sie in Frankreich zu leben gedachten. Der Mann erschoss sich. Die Witwe bettelte reiche Russen an, um sich und ihr Kind zu ernähren. Als Boris sechs Jahre alt war, gab ihn seine Mutter in eine katholische Klosterschule und verschwand. In dem Kloster lebten fast ausschließlich Knaben aus Fehltritten adeliger und reicher bürgerlicher Familien. Sich ihrer Lage bewusst, stopften diese hinter Klostermauern versteckten Abkömmlinge alles verfügbare Wissen in der Hoffnung in sich hinein, später vielleicht doch noch anerkannt und in den Kreis der Familie aufgenommen zu werden. Das geschah jedoch höchst selten. Mit der Volljährigkeit mussten diese Zöglinge eine kirchliche Laufbahn antreten oder die Schule verlassen. Für ein Leben im Zölibat fühlte sich Boris nicht stark genug. Er war mehr Freigeist als gläubiger Katholik und richtete sein Augenmerk bereits als Heranwachsender lieber auf die Mädchen als auf die Heilige Schrift. Gerade erst Zwanzig geworden, hatte er den Ernst seiner Lage soweit verinnerlicht, dass er lieber das Angebot des polnischen Vermittlers annahm, als um Arbeit bettelnd von einer schwäbischen Schreibstube zur anderen zu ziehen. Boris lebte sich unter den Wierzejer Lutheranern gut ein. Sogar so gut, dass er schon im Jahr darauf zum Protestantismus konvertierte. Nun konnte er auch seine Liebste heiraten, eine junge Frau aus der Petrikauer Gemeinde.
Neben den Sprachen unterrichtete der Herr Lehrer die Jugend auch in der französischen Manier, um sich in vornehmer Gesellschaft, so sie irgendwann darin Eingang fänden, nicht wie die sprichwörtlichen Bauerntrampel aufzuführen. Mit großer Begeisterung erlernten seine Schüler zudem die neuesten Tänze und wie man dabei mit dem Tanzpartner kokettierte. Bisher galt ein Mädchen als unzüchtig, wagte sie es, ihren Tanzpartner während des Tanzes erhobenen Hauptes anzulächeln. Ebenso galt es als Heiratsversprechen, berührte ein junger Mann mit seinen Lippen beim Handkuss die Fingerspitzen einer ledigen jungen Frau. Und nun sollte all dies Tanz sein und nicht mehr Sünde. Für die Gemeinderäte war das eine Entgleisung der Sitten, die der Unzucht Tür und Tor öffne. Und noch schlimmer, der Gehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern würde infrage gestellt. So hatte sich doch vor wenigen Wochen eine zu verheiratende Tochter geweigert, den ihr zugedachten Bräutigam zum Manne zu nehmen, und einige der jungen Mädchen und Frauen gingen lieber zum Tanzen als zur Andacht. Die alten Männer und etliche Familienväter waren sich einig, sollte die Jugend nicht in Sittenlosigkeit und Unzucht enden, musste dieser anstößige Zeitvertreib schnellstens unterbunden werden. Schon am Tag darauf wurden sämtliche Tanzvergnügen verboten. Für viele Eltern eine Erleichterung, lebten sie doch in ständiger Angst, dass ihre Töchter durch diese losen Manieren verführt und zur Unzucht verleitet werden könnten. Nicht auszudenken, welche Kosten und welche Schande dann die Familie träfe. Doch die jungen Leute hatten an den fröhlichen Nachmittagen Gefallen gefunden und suchten Wege, das Verbot zu umgehen. Nun traf man sich halt zu Musizierstunden, sang Kirchenlieder und sagte Gedichte auf. Zwischendurch wurde weiterhin getanzt, doch nicht so lärmend und ausgelassen wie vorher, und sie hüteten sich, davon zu Hause zu erzählen. Es bedrückte sie nicht allzu sehr, damit gegen das vierte Gebot zu verstoßen, denn bei diesem Gebot bestimmten zuallererst die Eltern die Höhe der Strafe und nicht die Gemeinderäte oder gar der Herr Pfarrer. Zu Unzucht war es bei ihren Zusammenkünften noch nie gekommen. Das könnte jeder von ihnen auf das Kreuz Christi schwören. Deshalb hielt sich bei den jungen Leuten die Angst vor einer Bestrafung in Grenzen. Außerdem hörte man in letzter Zeit immer wieder von Menschen, die es in der Fremde zu Wohlstand und Ansehen gebracht hätten. Es konnte also nicht schaden, seinem Benehmen ein paar gute Manieren hinzuzufügen und neben Rechnen, Lesen und Schreiben auch die französische Sprache zu lernen.
Ein besonders Großmäuliger behauptete sogar, wäre der Reformator ein demütiger und gehorsamer Mönch geblieben, gäbe es keine Protestanten. Solche Worte empfanden die Alten als offenen Widerstand gegen die bestehenden Regeln und Gebote. Früher, zu ihrer Jugendzeit undenkbar. Ihrer Meinung nach lag dieser seit dem Kriegsende herrschende Sittenverfall der Jugend an den fehlenden Vätern. Die verwitweten Mütter würden nicht die zur Erziehung der Kinder benötigte Strenge aufbringen und erst recht nicht die zur Züchtigung notwendige Kraft. Und nun habe dieser junge Lehrer den Sittenverfall auf die Spitze getrieben und auch die letzten gehorsamen Kinder mit Tanz und Musik aufgewiegelt. Am liebsten hätten die alten Männer den Herrn Lehrer des Dorfes verwiesen. Allein die Sorge, dass sie damit nicht nur die Dorfjugend, sondern auch deren Mütter gegen sich aufbringen könnten, hielt sie davon ab. So war es wie ein Wunder, dass die Kinder seit der Ankunft des Lehrers mit allergrößtem Fleiß lernten. Selbst während der Stallarbeit oder auf dem Feld wurden gegenseitig Vokabeln abgefragt und die rechte Aussprache geübt. Dieser Fleiß kam nicht von ungefähr: Während der abendlichen Zusammenkünfte durfte nur Französisch oder Russisch gesprochen werden, und wer die aufgetragene Lektion schlecht gelernt hatte, durfte nicht mittanzen. Schlimmstenfalls musste derjenige zum Schluss sogar aufräumen und fegen.
Das auf dem Tanzboden eingeübte gute Benehmen und die mit Fleiß erlernten Sprachen zahlten sich spätestens bei der Stellungssuche aus. In fast jeder Verwaltung wurden händeringend Übersetzer gesucht, denn kaum einer der russischen Staatsbeamten beherrschte das Polnische so gut, dass er mit seinen Untergebenen kommunizieren oder sogar korrespondieren konnte. Und noch seltener beherrschten die aus dem niederen Landadel stammenden Polen die russische oder gar französische Sprache. In den Behörden ging es deshalb zu wie beim Turmbau zu Babel. Jeder der jungen Lutheraner fand eine gut bezahlte Anstellung, mancher sogar in Warschau. Selbst die älteren Witwen und weniger begüterte verheiratete Frauen, die während ihrer Schulzeit noch Russisch und Polnisch gelernt hatten, verdienten sich in Beamtenhaushalten oder Schreibstuben ein ansehnliches Zubrot. Die Russen bevorzugten die Deutschen jedoch nicht nur der guten Sprachkenntnisse und ihres Fleißes wegen. Durch das zaristische Protektorat hatte sich das Misstrauen und die gegenseitige Abneigung zwischen Polen und Russen dermaßen verstärkt, dass die Russen Anschläge und Spionage befürchteten. Selbst für niedere Hausarbeiten beschäftigten sie lieber sonstwem, aber keine Polen. Eine einträgliche Zeit für die nahe der großen Stadt lebenden Lutheraner. Es dauerte nur wenige Jahre, und die Ställe der meisten Bauern standen wieder voller Tiere.
Trotzdem gab es in den Städten immer noch nicht genug zu essen. Woher auch? Vielerorts verkamen die von Deutschen verlassenen Höfe, selbst wenn sie inzwischen von Polen bewohnt wurden. Diese waren nur selten in der Lage, einen Hof einträglich zu bewirtschaften. Ihnen fehlte meist das dazu notwendige bäuerliche Wissen, aber noch öfter der Fleiß. Dazu kam der Mangel an Saatgut und Zugtieren. Zu spät und zu lasch war die russische Obrigkeit gegen die Vertreibung der Deutschen und Deutschstämmigen vorgegangen. So hatten allein im Warschauer Gebiet über achttausend Familien aus Angst vor den gewalttätigen Ausschreitungen ihre Höfe verlassen, um in Bessarabien einen Neuanfang zu wagen. Gleichzeitig wuchs in den Städten die Zahl der einfachen Arbeiter, die in den unzähligen kleinen Fabriken und Glashütten benötigt wurden. All dies verschlimmerte die bereits bestehende Lebensmittelknappheit dermaßen, dass die Regierung Hungerrevolten befürchtete. Um die verlassenen Dörfer wieder zu beleben, wurden erneut in halb Europa Kolonisten angeworben. Die Werber versprachen nicht nur alles, was diese Menschen hören wollten, sie beschrieben das polnische Land als den Himmel auf Erden. Doch die aus Holland und den deutschen Landen ins Warschauer Gebiet eingewanderten protestantischen Bauern erlebten nach ihrer Ankunft heftige Anfeindungen seitens der katholischen Bevölkerung. Dabei erfuhren sie auch von der Vertreibung ihrer Vorgänger. Nur wenige blieben, die meisten packten ihre Habseligkeiten wieder zusammen und zogen weiter, tief hinein nach Russland, den in den letzten Jahren aus Polen vertriebenen Deutschen hinterher.
Gertrauds Ehemann Christian schied 1825 aus dem Verwaltungsdienst aus. Nun stellte sich die Frage, wohin mit all dem schönen Mobiliar aus seiner Petrikauer Wohnung. Beinah hätte er das Klavier seiner verstorbenen Frau verkauft. Doch Gertraud ließ es nicht zu, weil niemand einen halbwegs angemessenen Preis zu zahlen gedachte. Sie ließ das gute Stück nach Wierzeje bringen. Früher oder später wird sich schon jemand finden, der das Instrument spielt. Gertraud selbst hatte es nie gelernt, die Arbeit auf dem Hof hat es nicht zugelassen, und später die abgearbeiteten Hände.
Im Verlauf der Jahre wurde auf dem Schlüterschen Anwesen zwar viel gebaut, aber nur Stallungen und Wirtschaftsgebäude. Gewohnt wurde immer noch in dem um 1705 gebauten Haus. Johann Schlüter hatte nach Friedrichs Geburt zwar eine große Küche und zwei Gesindekammern anbauen lassen, doch das war schon alles. Und auch Georg dachte nicht ans Bauen, zögerte, seine geliebten Goldtaler für ein Haus herzugeben, das im nächsten Krieg zerstört werden konnte. Vielleicht hatte er aber im Verlauf der Jahre die Zuversicht und die Freude am Dasein verloren, nachdem ihm drei Töchter durch tragische Unfälle im Kindesalter gestorben waren. Gertraud ähnelte ihrem Vater in all diesen Dingen. Auch sie sparte lieber für schlechte Zeiten, als das schwer verdiente Geld für Luxus auszugeben.
Nur ein einziges Mal, im Herbst 1804, erlag sie einer solchen Versuchung. Ein preußischer Offizier, der mit Dietrich zur Jagd ging, musste wegen einer Spielschuld seine Kutsche samt Pferden verkaufen. Ein weißer Landauer und zwei Apfelschimmel, ein Gespann, wie es sonst nur reiche Leute führten. Dass Gertraud für Kutsche und Pferde nur weniger als ein Drittel des Wertes bezahlte, kam daher, dass der Offizier das Gespann in Kürze zurückzukaufen gedachte. Doch der Rückkauf kam nicht zustande. Der Offizier und die inzwischen vom napoleonischen Heer konfiszierten Pferde starben auf dem Schlachtfeld. Damit die Kutsche nicht beschlagnahmt wird, hatte Georg sie 1806, bei der ersten Kriegsnachricht in einer der Moorhütten versteckt, in denen auch das Saatgut für Notzeiten lagerte. Die Kutsche wäre beinah für immer in der Hütte geblieben, denn nach Georgs Tod traute sich niemand, den Landauer aus dem Moor zu holen. Nach so vielen Jahren hatte sich das Moor verändert, den Weg, den Georg damals benutzte, gab es nicht mehr. Und jeder wusste, steckte die Kutsche erst einmal bis über die Radachsen im Moor, war sie für immer verloren. Eine solche Verantwortung wollte niemand auf sich nehmen.
Erst Ferdinand Höfer hatte die Idee, aus langen starken Brettern eine Spur zu zimmern, auf der man den Wagen übers Moor ziehen konnte. Nach der Heuernte wollte er es wagen. Um Johanni fiel der Wasserstand des großen Sees und somit des ganzen Sumpfes meist auf den niedrigsten Stand des Jahres. Zwei ältere Knechte und mehrere Tagelöhner, die sich im Moor gut auskannten, steckten am Vortag die Strecke für die Bretterspur mit Seilen ab und entfernten störendes Strauchwerk. Den ganzen Tag mühten sich Ferdinands Wagenknechte nach Kräften. Endlich, kurz vor Sonnenuntergang, stand die Kutsche auf dem Hof. Nur einmal waren die Hinterräder von den Bohlen gerutscht, zum Glück nicht mitten im Moor. Die Männer staunten, wie gut das Gefährt die Jahre überstanden hatte. Nun ja, die Messingbeschläge waren schwarzfleckig und der weiße Lack stumpf, blätterte sogar an einigen Stellen. Doch insgesamt war die Kutsche in Ordnung. Solange Georg lebte, hatte er sämtliche Holz- und Lederteile regelmäßig gefettet und gepflegt. Die Achsen und Radlager hatte er sogar so gründlich eingefettet, dass sich nicht ein Krümel Rost bilden konnte. Gertrauds Hand fuhr beinah liebkosend über die rotsamtenen Polster. Ihre Gedanken waren beim Vater. Wie schade, dass er das nicht mehr erlebte. Dabei wurde sie von Ferdinand beobachtet. Der deutete ihr trauriges Gesicht jedoch völlig anders, glaubte, sie trauere den schönen Pferden nach, denn im Stall stand nur schweres Kaltblut, und das würde nie und nimmer vor diese Kutsche passen.
Das neue Haus
Nach reiflichem Überlegen entschieden sich Christian und Gertraud für einen Neubau. Das dazu erforderliche Geld war vorhanden, denn auch Christian war nicht unvermögend. Nach seiner Pensionierung wollte er sich eigentlich im Schlesischen ein kleines Häuschen mit Garten kaufen, vielleicht zwischen Waldenburg und Altwasser, um den dortigen Kurbetrieb und das heilende Sauerwasser zu genießen.
Nun war ihm durch Gertraud ein schönes Anwesen in den Schoß gefallen. Und wenn er ganz ehrlich in sich hineinhorchte, wollte er überhaupt nicht wieder zurück nach Preußen. Über zwanzig Jahre hatte er in Petrikau gelebt und gearbeitet und sich mit der Zeit nicht nur an die polnische Lebensart gewöhnt, sondern daran Gefallen gefunden. Auch Neffe Ferdinand redete ihm zu, in Wierzeje zu bleiben, blieb ihm doch dadurch der sichere Rastplatz erhalten.
Im Frühjahr 1827, zwei Jahre nach Christians Pensionierung, war das neue Haus fertig. Es stand weitab der kleinen Straße, die nach Kolo führte und man erreichte es über einen von Apfelbäumen flankierten schnurgeraden Weg. Der endete mit einem gepflasterten Quadrat, das groß genug war, damit eine Kutsche samt Pferden darauf wenden konnte. Von diesem Vorplatz führte ein mit Granitplatten belegter Gehweg zu einer fünfstufigen Eingangstreppe. Rechts und links des Plattenweges gab es reichlich Platz für einen Blumengarten, in den Gertraud schon eine Vielzahl an Staudenblumen und Rosenstöcken gepflanzt hatte. Doch ihre größte Aufmerksamkeit galt einem Kräuterbeet, auf dem allerlei wuchs, was für das Würzen von Speisen benötigt wurde oder der Gesundheit dienlich war. Kurz nach der Heuernte zogen Gertraud und Christian um. Allerhöchste Zeit, denn das alte Wohnhaus musste bis Ende August innen renoviert und außen frisch gekalkt werden.
Ende August wurden Magda und ihr Sohn Johannes in Wierzeje erwartet. Gertraud würde sie wählen lassen, in welchem Haus sie wohnen wollten. Fast vierzehn Jahre hatten die beiden in Sachsen verbracht. Eine lange Zeit, trotzdem glaubte Gertraud, dass Magdas Rückkehr reichlich Aufsehen erregt. Die ehemalige Magd wird wohl offene Anfeindungen aushalten müssen. Von beiden Seiten, von Katholiken und Evangelischen. Schon deshalb musste ihr der Hof Ruhe und Schutz gewähren.
Magdas Jahre in Freiberg
Luise und Gertraud hatte sich in all den Jahren zwar ab und an geschrieben, und Luise hatte die Schwester auch mehrfach eingeladen. Doch irgendwie kam immer etwas dazwischen, was Gertraud am Reisen hinderte. Freiberg lag schließlich nicht gleich hinter dem nächsten Hügel. Die ersten Jahre wäre es vielleicht noch möglich gewesen. Dann begann der Krieg. Nach dessen Ende hätte sie reisen können, zögerte jedoch, schließlich hätte sie den Vater für mindestens vier Wochen allein lassen müssen. Die Zeiten waren immer noch unruhig und Georg mit seiner Kraft am Ende. Nun konnte sie ihn erst recht nicht allein lassen, ihm die Sorge für Magda und das Kind aufbürden. Als Georg starb, begrub Gertraud auch ihre Reiseträume. Außerdem fürchtete sie, bei einem Besuch Magdas Heimweh zu wecken.
Nur Ferdinand hatte auf seinen Reisen manchmal für ein paar Stunden in Freiberg Halt gemacht und später in Wierzeje darüber berichtet. Es war für Gertraud und Christian stets eine große Freude zu hören, dass sich Luise und Magda bestens verstanden. Luise gab sich große Mühe, Magda im Gebrauch der deutschen Sprache und allen erforderlichen Benimm- und Anstandsregeln zu unterweisen.
Nach gerade mal zwei Jahren beherrschte Magda die deutsche Sprache schon so gut, dass sie sich als Übersetzerin von Lehrbriefen ein Zubrot verdienen konnte. Eigentlich hätte sie es nicht gebraucht, Hermanns Einkommen reichte aus, um auch sie und den kleinen Johannes zu ernähren. Doch Magda bestand darauf, selbst etwas zu verdienen. Sie wollte die Goldstücke, die ihr Georg für Kleidung und die Rückreise mitgegeben hatte, keinesfalls aufbrauchen. Hermann amüsierte sich über Magdas Ehrgeiz. Luise dagegen unterrichtete sie umso gewissenhafter und lehrte sie, ein Haushaltsbuch zu führen. Das tat sie, damit Magda ihren Sohn Johannes später in Wierzeje bei der Führung des Anwesens unterstützen könnte. Denn bisher gab es auf dem Schlüterhof keine Bäuerin, die sich nicht in Geldsachen, im Handel und in der Buchhaltung auskannte. Und Magda besaß alles, um diese Reihe fortzuführen. Ihr fehlten nur noch ein etwas forscherer Auftritt und das Bewusstsein, niemandem mehr den Vortritt gewähren zu müssen. Luise übte mit ihr vor dem Spiegel, den Kopf gerade zu halten und ihn beim Grüßen nur andeutungsweise zu neigen und dabei ein klein wenig zu lächeln. Für Magda eine riesige Umstellung. Hier in Freiberg hielten ihr die Herren die Tür auf und grüßten mit einer Verbeugung, wenn sie die Mappe mit den Schriftstücken zurück in die Akademie brachte. In Wierzeje war sie vordem nur eine Magd, die klaglos alle Willkür zu erdulden hatte. Und diesem Schicksal wäre sie nie entkommen, hätte sie nicht als Hagens Milchschwester Lesen und Schreiben gelernt. 1806 war Magdas Vater gefallen. Der Mutter Verdienst als Stallmagd reichte nicht für beide, sodass sich die Tochter eine Arbeit suchen musste. Um seine Spielgefährtin und engste Freundin nicht zu verlieren, hatte Hagen seine Mutter gebeten, Magda als Stubenmädchen einzustellen. Sie sei doch schon immer auf dem Hof, kenne sich aus und sei ordentlich und fleißig. Einer so glühenden Fürsprache für das Mädchen konnte sich Gertraud nicht widersetzen und erfüllte den Wunsch ihres geliebten Kindes.
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