Kitabı oku: «Anele - Der Winter ist kalt in Afrika», sayfa 5

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6.

In den nächsten Wochen hatte Philipp Zeit, nachzudenken. Auch wenn er die Trennung von Babsi selbst gewollt hatte, merkte er jetzt doch eine unangenehme Nebenwirkung davon, an die er vorher nicht gedacht hatte, nämlich dass er allein war. Er hatte niemanden, den er anrufen konnte, wenn er Lust hatte, etwas zu unternehmen oder einfach zu reden. Mit Freunden und Kollegen ging er zwar hin und wieder weg – so traf er sich weiter in unregelmäßigen Abständen mit Bernhard –, aber das war etwas anderes als mit jemandem zusammen zu sein, den man fast täglich sieht und an den man sich jederzeit wenden kann. Gelegentlich kamen ihm die Worte von Babsi in den Sinn, dass er sich bei ihr melden solle und sie sich weiterhin sehen könnten. So schnell, wie dieser Gedanke kam, verdrängte er ihn aber und verschob ihn auf irgendwann später, wenn etwas Zeit vergangen wäre, wohl wissend, dass dieses „später“ wahrscheinlich niemals kommen würde. Wenn etwas aus war, war es aus. Er gehörte nicht zu denen, die eine Beziehung, die einmal gekocht hatte, auf kleiner Flamme weiterführen wollten.

Zu diesen etwas ernüchternden Erfahrungen in seiner privaten Situation gesellte sich die Tatsache, dass die Pläne, seinen Berufswechsel betreffend, längere Zeit keinerlei Fortschritte zu machen schienen. Zwischendurch rief er bei Dr. Schuster von D.C. an, erfuhr aber immer nur, dass noch kein Termin für die Schulung feststehe und wurde mit der Bemerkung vertröstet, man werde ihn unverzüglich verständigen, wenn es so weit sei.

Auch was seine Arbeit betraf, tat sich zunächst wenig. Lediglich der junge Kollege vom Controlling, Herr Mag. Hecht, kam zwischendurch zu ihm und fragte ihn immer wieder, wie einzelne Abläufe in der Kreditabteilung funktionierten. Philipp war zwar nicht offiziell bekannt, welcher Zweck hinter diesen Besuchen stand, es konnte aber nur um die zahlenmäßige Untermauerung des vom Management festgelegten Einsparungsvolumens gehen. Philipp erzählte ihm alles, was er wissen wollte, konnte sich dabei aber des Eindrucks nicht erwehren, dass sein Gesprächspartner in erster Linie das hörte, was er hören wollte und was zu seinem Auftrag passte. An tiefer gehenden Informationen war der eingefleischte Controller zumeist gar nicht interessiert, was nach Philipps Meinung zwar nicht im Interesse der Sache sein konnte, andererseits aber die Arbeit für ihn sehr leicht machte.

Anfang Dezember war die erste Phase des so genannten Umstrukturierungsprojektes in der Bank aber abgeschlossen und Philipp wechselte von seinem Zimmer im dritten Stock in einen großen Raum vier Etagen höher, der sich in unmittelbarer Nähe der Generaldirektion und des Controllings befand. Mit ihm zusammen arbeiteten dort sieben Kolleginnen und Kollegen, deren Arbeitsplatz ebenfalls wegrationalisiert worden war und für die dieses Büro eine Art Zwischenlager auf unbestimmte Zeit darstellte. Die in diesem Zimmer vereinigte, bunt zusammen gewürfelte Truppe wurde mit völlig unvorhersehbaren Aufträgen des Managements konfrontiert. So musste Philipp zwischendurch Berechnungen für die Kreditabteilung machen oder jüngere Kollegen in ausgesuchten Teilbereichen schulen. Oft bekam er auch von der Controlling-Abteilung Aufträge für Rentabilitätsberechnungen und sonstigen Analysen und dazwischen gab es immer wieder lange Phasen, in denen er überhaupt nichts zu tun hatte. Den anderen ging es ähnlich. Er fragte sich, ob die Firma irgendwann mit dem ominösen „Golden Handshake“ antanzen würde oder ob er selbst aktiv werden sollte. Nach einiger Überlegung beschloss er, zunächst zuzuwarten, wie sich das Ganze mit D.C. entwickeln würde. Erst wenn er eine eindeutige Zusage als Entwicklungshelfer hatte, ging er kein Risiko mehr ein, plötzlich in der Luft zu hängen. Das Gespräch mit Dr. Schuster war ihm da noch zu wenig. Durch die an mehreren Fronten ungeklärte Situation verschlechterte sich Philipps Stimmung in dieser Zeit zusehends, wobei der Adventrummel, der auf den Straßen voll eingesetzt hatte, nicht dazu angetan war, ihn aufzuheitern. Die von den großen Einkaufsketten verordnete Fröhlichkeit auf amerikanische Art, die ihm jedes Jahr noch eine Nummer aufdringlicher und übertriebener schien als das Jahr zuvor, stand in diametralem Gegensatz zu seiner Befindlichkeit, weshalb er nach der Arbeit mehr als einmal einen Umweg in Kauf nahm, um den Hauptstraßen mit ihrem Trubel zu entgehen.

Schließlich kam drei Tage vor Weihnachten der erlösende Anruf von Dr. Schuster, der ihm mitteilte, dass der Beginn der Ausbildung für Anfang Jänner festgesetzt worden war. Er musste also nur noch die Weihnachtsfeiertage hinter sich bringen.

Für den vierundzwanzigsten Dezember abends hatten ihn dieses Jahr Julia und Walter eingeladen, nachdem seiner Tochter zu Ohren gekommen war, dass er sich von Babsi getrennt hatte. Nun war es bei Philipp so, dass sich bei ihm besonders seit dem Ende seiner Ehe zu seiner Abneigung gegen den unentrinnbaren Adventtrubel auch eine ausgeprägte Geringschätzung des Weihnachtsfestes gesellt hatte. Dennoch hatte er nach einiger Überlegung Julia und Walter zugesagt, da ein Abend mit seiner Tochter und ihrem Freund noch erträglicher schien als die Alternative, die ihm offen stand, nämlich allein zu Hause vor dem Fernseher zu sitzen. Wenigstens bestand bei den beiden nicht die Gefahr, Weihnachtslieder singen zu müssen.

Der Heilige Abend kam und von allem, was dieser Tag zu bieten hatte, genoss Philipp am meisten die Tatsache, dass er ungehindert ausschlafen konnte. Schließlich stand er am späten Vormittag auf und machte sich, wie jedes Jahr an diesem Tag, auf den Weg zu seiner Mutter.

Sie war seit dem Tod seines Vaters vor sechs Jahren in ein Pensionistenheim in Liesing, einem südlich gelegenen, von eher gut situiertem Volk bewohnten Stadtteil Wiens gezogen, wo sie sich von Anfang an sehr wohl gefühlt hatte. Es war ein neues Haus, das in kleine Apartments unterteilt war, die wiederum aus einem Wohnraum mit Kochnische und einem Schlafzimmer bestanden. Daneben gab es Gemeinschaftsräume und einen großen Speisesaal, in dem das Frühstück, Mittag- und Abendessen sowie am Nachmittag eine Kaffeejause serviert wurden. Martha, so hieß seine Mutter, ging fast immer in den Speisesaal essen, nur manchmal, wenn ihr das Menü nicht zusagte, kochte sie sich selbst etwas im Apartment. Sie war zwar schon zweiundsiebzig, aber noch bei bester Gesundheit und nahm an fast allen Veranstaltungen, die im Heim angeboten wurden, teil. So hatte sie erst vor kurzer Zeit mit großer Begeisterung Bridge gelernt, da ein paar Kundige eine Bridge-Runde auf die Beine gestellt hatten, in der auch neue Gesichter gerne aufgenommen wurden. Mit ein paar anderen Heimbewohnern hatte sie sogar eine Reisegruppe ins Leben gerufen, die mit mehreren Reisebüros in Kontakt stand und, wenn sich Gelegenheiten boten, Besichtigungsfahrten zu erschwinglichen Preisen organisierte. Aus diesem Grund war sie auch mindestens zwei Mal im Jahr mehrere Tage unterwegs.

Als Philipp das Pensionistenheim betrat, war es elf Uhr. Aus dem Speisesaal hörte man bereits das Klappern von Tellern und Besteck, da schon für das Mittagessen gedeckt wurde. Das Geräusch kam ihm merkwürdig vertraut vor und weckte in ihm ein Gefühl von Geborgenheit. Vor Marthas Zimmer angekommen klopfte er und öffnete nach einem knappen „Komm‘ rein“ die Tür. Im Zimmer roch es wunderbar nach Weihnachtsgebäck und frisch gekochtem Kaffee. Martha hatte für ihn in ihrer kleinen Küche seine Lieblingskekse, Linzer Augen und Vanillekipferln, gebacken. Außerdem stand auf dem Tisch, auf dem schon das Kaffeegeschirr hergerichtet war, ein sehr hübsches Weihnachtsgesteck. Obwohl er von all dem nicht besonders viel hielt und auch nur selten herkam, konnte sich Philipp dem Gefühl nicht entziehen, „nach Hause“ zu kommen. Als Martha ihn sah, umarmte sie ihn.

„Grüß dich, Philipp, ich habe schon auf dich gewartet, wie geht es dir?“, fragte sie.

„Danke, es geht, und wie ist es bei dir immer so?“ erwiderte er.

„Danke der Nachfrage, meine Wehwehchen bleiben mir treu, im Großen und Ganzen fühle ich mich aber recht in Ordnung. Lass dich anschauen, du siehst nicht gut aus, hast überhaupt kein Fleisch auf den Knochen. Wahrscheinlich isst du zu wenig.“ Philipp, der wusste, es würde immer zu den größten Sorgen seiner Mutter gehören, dass er eines plötzlichen Hungertodes sterben könnte, ging auf die Bemerkung nicht weiter ein.

„Ach ja, frohe Weihnachten!“ sagte er und gab ihr sein Geschenk. Es war ein Buch, ein Bildband über norditalienische Städte, der ihm beim Stöbern in einem Buchgeschäft in die Hände gefallen war. Wegen seines ansprechenden Einbandes und weil er Marthas Liebe zu Italien kannte, das bei ihren Reiseplänen zumeist an erster Stelle stand, hatte er es gekauft und, so gut er konnte, verpackt.

„Danke, das wäre aber nicht notwendig gewesen“, sagte Martha, „ich packe es aber noch nicht aus, sondern werde es am Abend bei Alex unter den Baum legen. Du solltest Alex übrigens auch wieder einmal besuchen. Ihr seht euch viel zu wenig.“

Alex war die Abkürzung von Alexandra, Philipps Schwester, bei der Martha immer den Weihnachtsabend verbrachte. Sie war drei Jahre älter als Philipp und hatte einen Mann und zwei Kinder. Philipp hatte so gut wie keinen Kontakt zu ihr, er war irgendwann abgerissen. Das lag nicht daran, dass sie sich nicht mochten. Sie waren einfach zu verschieden. Schon als Kinder hatten sie kaum gemeinsame Interessen gehabt. Neben Philipps Ernährungszustand war das die zweite große Sorge Marthas, dass ihre beiden Kinder so selten zusammenkamen.

„Du siehst gut aus. Das Heimleben scheint dir gar nicht so schlecht zu bekommen“, bemerkte Philipp, halb im Spaß. Aber es war einiges dran. Wenn man Martha so ansah, konnte man sie ohne weiteres für kaum über sechzig halten.

„Na ja, ganz so ist es nicht“, sagte sie, „wenn du wüsstest, wie viele Tabletten ich jeden Abend schlucken muss, würdest du anders reden. Und dich sehe ich auch so selten, etwas öfter könntest du dich schon blicken lassen.“

Philipp hatte sich gedacht, dass dieser Seitenhieb irgendwann kommen musste, nahm ihn aber nicht allzu ernst.

„Du weißt ja selbst, es ist bei mir eine Frage der Zeit“, erwiderte er, „aber du bist ohnehin fast nie da. Die Sache mit deiner Reisegruppe scheint ja ganz gut zu laufen.“

„Du meinst, weil du von mir vor kurzem eine Ansichtskarte bekommen hast. Pass nur auf, ich werde mich hüten, dir noch einmal zu schreiben, wenn Du mir das dann vorhältst. Aber du hast schon recht, es macht es mir großen Spaß, die Sachen zu organisieren und wir haben auch ziemlichen Zuspruch. Die Busse sind fast immer voll. Es wird nur mit der Zeit recht viel, was alles an dir hängt. Und wenn etwas einmal nicht so klappt, hörst du es gleich von fünfundzwanzig Leuten. Deshalb habe ich meinen Mitbewohnern schon gesagt, dass wir uns die Sachen nächstes Mal besser aufteilen müssen. Noch einmal mach’ ich nicht alles alleine. Aber setz‘ dich hin, der Kaffee ist schon fertig.“

Im nächsten Moment stellte sie einen großen Teller mit den Keksen auf den Tisch, nach denen es schon die ganze Zeit so wunderbar roch. Philipp machte es sich auf der Sitzbank bequem und konnte es sich nicht verkneifen, gleich zuzugreifen. Nachdem seine Mutter den Kaffee eingegossen hatte, setzte sie sich zu ihm.

„Was ist bei dir in letzter Zeit alles passiert, gibt es etwas Neues?“, fragte sie.

Philipp überlegte kurz, ob er erzählen sollte, was bei ihm derzeit alles umgekrempelt wurde. Aber genauer betrachtet war es sinnlos, es zu verheimlichen. Martha würde es zweifellos von Julia erfahren. Außerdem, wenn er seine Pläne verwirklichen wollte, konnte er das Ganze ohnehin nicht verschweigen.

„Wie gesagt, mir geht’s ganz gut, so wie es aussieht, stehen allerdings einige Veränderungen ins Haus.“

Er machte eine Pause.

„Was für Veränderungen?“, fragte Martha.

„Voraussichtlich beruflicher Natur. Bei mir in der Bank gibt es keine Zukunft mehr für mich. Überall wird eingespart und rationalisiert, zuletzt hat es auch meine Abteilung betroffen. Deshalb sehe ich mich gerade nach etwas anderem um. Also, um ehrlich zu sein, habe ich, wie es aussieht, auch schon etwas gefunden.“ Wieder machte er eine Pause.

„Du spannst mich aber auf die Folter“, sagte Martha.

„Na ja, ehrlich gesagt, bin ich nicht sicher, ob dir gefällt, was ich vorhabe“, bemerkte er vorsichtig.

„Sag‘ schon, was du machen willst, Philipp, ich bin deine Mutter und habe wohl ein Recht darauf, es zu erfahren.“

„Na gut, ich werde voraussichtlich ins Ausland gehen“, sagte er und wartete auf die Wirkung seiner Worte.

„Was heißt das, wohin willst du gehen, weit weg?“, fragte sie.

„So wie es aussieht, schon eher weit, ich möchte nach Afrika gehen.“ Jetzt war es raus.

„Nach Afrika? Was willst du dort machen?“

„Ich möchte für eine Entwicklungshilfeorganisation tätig werden. Ehrlich gesagt, bin ich momentan an einem Punkt, an dem ich mich völlig neu orientieren muss. In der Bank läuft alles schief, sie nehmen mir meine Arbeit weg und stecken mich in eine Reservetruppe, die im Grunde keine Aufgaben hat und nur tut, was andere ihr befehlen. Weißt du, irgendwann hält man das alles nicht mehr aus und möchte nur noch davonlaufen.“

Er nahm einen Schluck Kaffee und einen Keks, den er eine Zeit lang zwischen Daumen und Zeigefinger hin- und herrollen ließ, während er überlegte, wie er fortfahren sollte.

„Es kommt aber noch etwas dazu“, sagte er schließlich, „etwas, das wahrscheinlich schon vorher da war, nur habe ich es erst im Zuge dieses ganzen Schlamassels erkannt und es lässt mich alles in einem neuen Licht sehen. In Wahrheit möchte ich gar nicht mehr in der Bank arbeiten. Ich will in meinem Leben endlich etwas machen, hinter dem ich voll und ganz stehen kann, das mich erfüllt und eine echte Herausforderung darstellt. Die jetzige Situation in der Bank war nur der auslösende Faktor. Den Wunsch hatte ich schon vorher, nur war es mir nicht bewusst.“ Während Philipp redete, wurden ihm manche Dinge, die er sagte, erst klar.

„Aber wieso so plötzlich?“, fragte Martha, „willst du nicht erst abwarten, wie es in deiner Firma weiter geht. Du bist doch erfahren und fleißig. Die brauchen dich und werden dich nicht einfach so gehen lassen. Vielleicht stecken in diesen ganzen Veränderungen auch Chancen. Als dein Vater Gruppenleiter im Ministerium wurde, war es ähnlich. Sie haben auch in seiner Abteilung alles verändert und neu eingeteilt und keiner hat gewusst, was er danach wirklich tun würde. Aber dann waren auf einmal neue Möglichkeiten da, Stellen, die zu besetzen waren und eine davon hat dein Vater bekommen, was für ihn damals einen Aufstieg bedeutet hat. Veränderungen bergen immer auch neue Chancen in sich“, sagte Martha mit Nachdruck.

„Das hat Vater mir damals oft genug erzählt, das kannst du mir glauben, aber das kann man mit meiner Situation nicht vergleichen. Haute geht es nur darum, Leute einzusparen, da gibt es keine neuen Posten. Mit deinem letzten Satz, dass Veränderungen neue Chancen in sich bergen, gebe ich dir allerdings recht, nur sehe ich diese Chancen anders. Man muss sie selbst finden und dafür etwas tun. Vor allem sehe ich jetzt die Chance, das zu tun, was ich wirklich tun möchte“, sagte Philipp.

„Und warum möchtest du gerade so etwas machen?“ fragte Martha.

Philipp überlegte. „Warum? Diese Frage habe ich mir noch gar nicht gestellt. Aber ist es nicht bei den wichtigen Dingen im Leben so, dass das ‚Warum’ keine große Rolle spielt? Wenn man etwas tun muss, weiß man es einfach, ohne groß zu fragen, warum man es möchte und warum man so viel Energie darauf verwendet.“

Die Fragen, die Martha stellte, waren für Philipp wie Schleusen zu neuen Einsichten.

„Aber man sollte sich nicht kopfüber in Abenteuer stürzen, bei denen man im Vorhinein nicht weiß, was herauskommt“, gab Martha zu bedenken, „eine Sache genau überlegen, heißt nicht gleich, sich selbst untreu zu werden. Es ist keine Schande, wenn man eine Idee, nachdem man noch einmal genau darüber nachgedacht hat, dann doch nicht durchführt. Wahrscheinlich ist das sogar ein Zeichen von Klugheit.“

Philipp verstand, dass es für Martha keine verheißungsvolle Aussicht darstellte, wenn er ein paar tausend Kilometer entfernt arbeitete. Andererseits war Marthas Aussage zu provozierend, als dass er sie so einfach hinunterschlucken hätte können.

„Also deiner Meinung nach sollte ich mich freuen, wenn am Monatsende die Gehaltsüberweisung kommt, so wenig wie möglich darüber nachdenken, was ich eigentlich tue und im Übrigen am besten auf meinem Hintern sitzen und mir am Abend vor dem Fernseher den Bauch vollstopfen. Sehr gut, solche Ratschläge kann ich wirklich brauchen.“

Martha kannte den zwischendurch hervorbrechenden Jähzorn von Philipp gut genug, um nach diesem Ausbruch nicht beleidigt zu sein.

„Hör auf zu spinnen! Was soll denn das? Sei froh, wenn dir jemand einen guten Rat geben will! Du musst ohnehin selber wissen, was du tust. Und anscheinend weißt du es auch schon sehr genau. Aber du musst mich ebenfalls verstehen. Denk‘ nach, wie oft du mich jetzt besuchst, wie wird es dann erst sein, wenn du irgendwo in Afrika zu Hause bist. Übrigens, wo willst du eigentlich genau hin?“

„So wie es aussieht, nach Swasiland, dort läuft gerade ein Projekt. Aber ich kann auch ganz woanders hin versetzt werden, beispielsweise nach Südamerika oder Asien, dort gibt es überall Einsatzgebiete. Und weil du vom Besuchen angefangen hast, du kannst mich ja dort einmal besuchen, wo du doch ohnehin so gern in der Welt herumgondelst.“ Martha musste lachen.

„Für solche Abenteuer bin ich, glaube ich, zu alt“, erwiderte sie.

„So wie du für dein Alter beisammen bist, kannst du dir so eine Reise auf jeden Fall zutrauen, das wäre für dich sicher kein Problem“, sagte Philipp. Trotz allem, was seine Mutter gesagt hatte, fühlte er, dass sie seine Absichten auf ihre Art akzeptierte, was für ihn die vielleicht wichtigste Bestätigung dafür war, dass er den richtigen Weg beschritten hatte.

Damit war dieses Thema, das sowohl Martha als auch Philipp außerordentlich bewegte, abgeschlossen. Es war genug dazu gesagt worden. Danach tat es gut, sich noch eine Zeit lang über Belanglosigkeiten zu unterhalten. Als die Weihnachtsbäckerei aufgegessen war, stellte Martha, wie von Philipp befürchtet, noch ein Stück Torte hin, dem er, obwohl bis obenhin mit Keksen voll gestopft, nicht widerstehen konnte.

Um etwa halb eins war es dann Zeit für das Mittagessen und Martha musste in den Speisesaal. Bevor sie hinaus gingen, gab sie Philipp ein hübsch verpacktes Geschenk, das für ihn gedacht war, und ein Kuvert für Julia, der sie auch beste Weihnachtsgrüße ausrichten ließ. Philipp freute sich darüber und erklärte, er werde das Geschenk am Abend öffnen. Danach begleitete er sie noch in den Speisesaal, der festlich mit einem Gesteck an jedem Tisch dekoriert war. An der hinteren Wand des Raumes stand ein wunderschön geschmückter Christbaum. Beim Abschied küsste er seine Mutter auf die Wange und sie zeichnete ihm ein Kreuz auf die Stirn.

„Gott beschütze dich, mein Sohn, und Frohe Weihnachten.“

„Frohe Weihnachten, Mutter“, sagte er, und beim Hinausgehen hatte er das Gefühl, dass das Wichtigste an Weihnachten eben zu Ende gegangen war.

Die Zufriedenheit, mit der er das Heim seiner Mutter verließ, nahm er in diesen Heiligen Abend mit, und sie gab ihm die Gewissheit, dass ihn für den Rest des Tages keine noch so kitschige Straßendekoration mehr stören konnte. Für Julia und Walter aber, bei denen er am Abend eingeladen war, würde er neben dem Geldbetrag, den er bei solchen Gelegenheiten zu übergeben pflegte, noch irgend eine ganz besondere Überraschung besorgen.

7.

Am zehnten Jänner, dem Tag des Beginns der Schulung bei D.C., ging Philipp um halb vier vom Büro weg. Draußen schien die Sonne, aber die Luft war eisig kalt. Es hatte in den letzten Tagen immer wieder ein wenig geschneit, und wenn auch in den Straßen der Schnee sehr bald die Farbe des Asphalts annahm, so hatte sich doch auf den Dächern und Grünanlagen das reine Weiß erhalten. Philipp beschloss, trotz der Kälte zu Fuß zu gehen, da er solche Tage genoss, an denen das Einheitsgrau der frühwinterlichen Zeit in strahlenden Sonnenschein überging. Der Schnee multiplizierte an diesen Tagen das Sonnenlicht und bewirkte dadurch eine Helligkeit, wie sie ein noch so schöner Sommertag nie hervorbringen konnte.

Philipps Laune entsprach dem Wetter und war eine Mischung aus Zufriedenheit und ungewisser Erwartung. Er hatte sich schon in den letzten Tagen immer wieder auf das heutige Ereignis gefreut und war mehr als einmal in Buchgeschäften auf die Suche nach Material über Afrika und vor allem Swasiland gegangen. Einiges hatte er gekauft und manches davon bereits gelesen.

Auf dem Weg zum Büro von D.C. setzte er sich noch in eine Konditorei und las in einem Buch über Entwicklungsarbeit im südlichen Afrika. Es war jene, in der er vor Kurzem mit seiner Ex-Frau zusammen getroffen war. Damals hatte er sich geschworen, nie mehr dort hin zu gehen, jetzt fand er aber keinen vernünftigen Grund mehr, gerade diese Lokalität zu meiden. Sarah würde sich dort ja nicht eingemietet haben.

Beim Eintreten blickte er sich sicherheitshalber um und wählte schließlich einen besonders sonnigen Tisch. Er bestellte eine Tasse Tee mit Zitrone und begann, in seinem Buch zu blättern. Als der Ober den Tee servierte, nahm er gleich einen Schluck, um sich auch von Innen aufzuwärmen. Das wohlige Sonnenlicht, von dem die Stadt in den vergangenen Tagen nur wenig abbekommen hatte, ließ ihn ermüden und seine Lider wurden schwer. Nach kurzer Zeit merkte er, dass er die Worte, die er las, nicht mehr aufnahm, und schließlich gab er dem Drängen seines Körpers nach und schloss kurz die Augen ...

... Philipp stapfte in einer wüstenhaften Umgebung langsam etwas wie einen Weg hinunter. Um ihn herum nichts als Sand, Geröll und da und dort ein paar vertrocknete Büsche. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war, kannte auch die Gegend nicht. Ihm wurde nur auf einmal klar, dass er nicht alleine ging. Sarah ging neben ihm. Beide hatten einen langen Umhang an und auf dem Kopf trugen sie ein Tuch. Dennoch drang die Hitze durch die Kleider und er fühlte, wie sich unter dem Stoff die Schweißperlen sammelten. Weit entfernt sah er eine weiß schimmernde Stadt, die sie offenbar erreichen wollten. Sarah drehte sich um, lächelte ihn an und gab ihm aus ihrer Wasserflasche zu trinken, worauf ihn trotz der widrigen Umstände eine Woge des Glücks durchflutete. Er trank das Wasser, doch kaum hatte er den ersten Schluck getan, konnte er Sarah nicht mehr sehen. Er wusste nicht, wo sie war, nahm aber plötzlich mehrere in Umhänge gehüllte Gestalten wahr. Obwohl er weiter nach Sarah Ausschau hielt, konnte er sie nicht finden. Plötzlich fühlte er die staubige Hand eines der Männer in seinem Nacken ...

Der Ober hatte ihn auf die Schulter getippt, da ihm sein Buch aus den Händen auf den Boden geglitten war. Er bedankte sich, hob es auf und sah wieder hinein, so als würde er darin lesen. Seine Gedanken waren aber noch in der Wüste und bei Sarah. Er fühlte den Schweiß, der sich durch die Wärme der Sonne auf seiner Haut festsetzte und versuchte nur, das kurze Glücksgefühl festzuhalten, das er im Traum empfunden hatte, als Sarah ihm zu trinken gegeben hatte.

Plötzlich fiel ihm der Kurs ein, der um halb sechs anfing und er sah auf die Uhr. Es war knapp vor fünf. ‚Gott sei Dank‘, dachte er, ‚noch etwas Zeit.‘ Langsam kehrte er in die Realität zurück und nahm seine Lektüre wieder auf, ehe er zwanzig Minuten später zahlte, um im Schein der mittlerweile erleuchteten Straßenlaternen den Weg in die ein paar hundert Meter entfernte Zentrale von D.C. einzuschlagen.

Frau Artner empfing ihn mit einem Lächeln und fragte, wie er die Feiertage verbracht hatte. Als sie ihm seine Garderobe abnehmen wollte, bedankte sich Philipp, hängte Mantel, Schal und Kappe aber selbst auf den alten Garderobenständer und ließ sich von ihr zum Schulungssaal führen. Sie gingen den schmalen Gang hinunter, der ihm schon bei seinem letzten Besuch aufgefallen war, bis sie zu einer offen stehenden Tür auf der linken Seite kamen. Philipp trat ein, während seine Begleiterin zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte.

Es war ein mittelgroßer, Saal, der für etwa zwanzig Zuhörer Platz bot. Wenn es draußen nicht dunkel war, mochte es ein sehr heller, freundlicher Raum sein. Jetzt war er allerdings mit Neonröhren erleuchtet, was Philipp an seinen Fahrschulkurs erinnerte, der mittlerweile auch schon zwanzig Jahre her war. An den Wänden des Raums hingen Aufnahmen von irgendwelchen Gegenden Afrikas, Asiens und Südamerikas. Vorne war eine Tafel an der Wand befestigt wie in einer Schule, nur etwas kleiner. Daneben erstreckte sich eine Weltkarte.

Im Raum saßen bereits zwei Männer, ungefähr in Philipps Alter, der eine vielleicht etwas jünger, der andere mochte ein paar Jahre älter sein. Philipp grüßte in ihre Richtung. Da sich kein Gespräch entwickelte, spazierte er umher und betrachtete die Fotos. Schließlich stellte er seine Tasche neben einen freien Tisch und setzte sich. Kurz danach stieß noch ein etwas jüngerer Mann zu den bereits Anwesenden, grüßte freundlich und machte es sich ebenfalls auf einem der Plätze bequem.

Genau um halb sechs kam Dr. Schuster mit einem Paket Unterlagen in den Raum, sah sich kurz um und legte seinen Stapel auf den Tisch.

„Ah, wie ich sehe, sind wir noch nicht ganz komplett, also warten wir noch ein paar Minuten. Wie geht es ihnen, das Weihnachtsfest gut verbracht?“

Da er diese Frage in die Allgemeinheit des Raumes hinein stellte, fühlte sich im ersten Moment niemand angesprochen, bis Philipp bemerkte: „Danke, alles gut überstanden, bei Ihnen auch alles in Ordnung?“

„Danke, alles bestens erledigt.“ Plötzlich wandte Dr. Schuster seinen Kopf zur Tür und sagte erfreut: „Ah, nun sind wir komplett. Schönen guten Abend!“

Philipp sah ebenfalls hin und konnte im ersten Moment nicht glauben, was er erblickte. Sarah, seine Ex-Frau, sah etwas verlegen zur Tür herein, grüßte die Anwesenden und trat schließlich ein.

„Kommen Sie nur rein, hier sind sie schon richtig“, bemerkte Dr. Schuster gutgelaunt.

Als Sarah Philipp erkannte, machte sie ein überraschtes Gesicht, lächelte aber gleich darauf. Sie fragte, ob der Platz neben ihm frei sei.

„Ja, sicher!“, antwortete er, worauf sie sich zu ihm setzte. Philipp tat sich schwer zu glauben, dass Sarah durch puren Zufall exakt die gleiche Idee im gleichen Zeitpunkt gehabt hatte wie er und deshalb genau im selben Kurs landete. Er konnte sich keinen Reim auf das Ganze machen, musste seine Überlegungen in dieser Sache aber auf später verschieben, da Dr. Schuster mit seinem Vortrag begann.

„Ich möchte Sie zunächst einmal alle sehr herzlich begrüßen und freue mich, dass Sie sich für unsere Tätigkeit interessieren, immerhin so sehr interessieren, dass Sie bereit sind, eine ganze Reihe von Abenden hier mit dem Thema ,Entwicklungshilfe’ zu verbringen. Ich bin sicher, Ihr Interesse wird mit jedem Tag dieser Schulung noch wachsen, denn was wir machen, hat mit den grundlegendsten Fragen zu tun, die sich für jeden Menschen auf dieser Welt stellen. Bevor wir in die Sache selbst hineingehen – und ich kann ihnen versichern, das werden wir ausführlich tun – möchte ich mich kurz vorstellen und ihnen meine Beweggründe nennen, warum ich bei dieser Organisation arbeite.“

Die Ansprache schien Philipp etwas übertrieben salbungsvoll, er konnte sich deren Wirkung aber dennoch nicht ganz entziehen.

„Also: Mein Name ist Fritz Schuster“, fuhr dieser fort, „ich bin fünfundfünfzig Jahre alt, verheiratet und habe zwei bereits erwachsene Kinder, eine Tochter, die müsste jetzt – Moment – dreiunddreißig sein, und einen neunundzwanzigjährigen Sohn. Seit mittlerweile zwölf Jahren arbeite ich bei D.C. und bin für den Bereich Österreich verantwortlich. Vorher war ich nacheinander bei unterschiedlichen Instituten, Banken und Versicherungen, im Personalverwaltungs- und -entwicklungsbereich und verschiedentlich auch im Controlling tätig. Nun, was waren meine Beweggründe, zu D.C. zu gehen?“

Dr. Schuster legte ein gekonnte rhetorische Pause ein, die allerdings einen Tick zu lang dauerte, was dem ganzen eine etwas übertriebene Theatralik verlieh.

„Zuallererst natürlich“, setzte er schließlich fort, „hat sich diese Tätigkeit für mich deshalb angeboten, da die Organisation vor zwölf Jahren ihre Österreich-Niederlassung aufgebaut und im Zuge dessen eine erfahrene Führungskraft aus der Wirtschaft gesucht hat. Der Grund dafür, dass ich mich dann wirklich zu dieser Sache entschlossen habe, ist aber eigentlich sehr persönlicher Natur.“

Wieder hielt er inne, diesmal nahm man ihm aber jeden Atemzug ab.

„Ich habe mich immer gefragt, warum es auf der Welt, in der wir alle leben – und wir leben ja sehr gut – derartige Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geben kann, ohne dass irgend jemand die Stimme für jene erhebt, die am unteren Rand des Spektrums stehen, für jene, die eben keine Stimme haben. Es klingt ja schon abgedroschen, wenn man sagt, es sei vollkommen unverständlich, dass wir hier im Überfluss leben und ein paar Flugstunden von uns sterben die Menschen an Unterernährung. Hier bei uns wird Millionen Euro teure Spitzenmedizin eingesetzt, um jemandem das Leben ein halbes Jahr zu verlängern und in Afrika müssen vollkommen gesunde Leute sterben, weil nicht einmal ausreichend Medikamente gegen die einfachsten Krankheiten vorhanden sind. Bei uns werden von vielen Leuten teure kosmetische Operationen ohne jeden medizinischen Sinn gezahlt, aber in Afrika ist ein Menschenleben nicht genug wert, dass die vielen hunderttausenden Aids-Kranken eine adäquate Therapie bekommen können.“

Wenngleich die Moralkeulen offenbar recht tief flogen, wenn Dr. Schuster in Fahrt kam, konnte Philipp eine gewisse Folgerichtigkeit seiner Argumentation nicht verleugnen.