Kitabı oku: «Future Angst», sayfa 9
Und es werde Licht!
Doch Petrus fand den Schalter nicht. Als er den Schalter endlich fand, da war die Birne durchgebrannt.
Otto Waalkes
Die Theaterbesucher hatten sich gerade in den Zuschauersaal begeben und warteten gespannt auf den Beginn der Vorstellung. Es wurden an diesem 8. Dezember 1881 im sieben Jahre zuvor mit Rossinis „Der Barbier von Sevilla“ feierlich eröffneten Wiener Ringtheater – an der Ringstraße, auf der gerade erst die Wiener Stadtbefestigung geschliffen worden war – „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach gegeben. Fast alle der 1.700 Plätze waren besetzt. Hinter der Bühne wurde das Gaslicht angezündet, das wegen einer fehlerhaften Anzündungsvorrichtung nicht gleich anging. Während die Techniker den Fehler behoben, strömte weiterhin ungehindert Gas aus. Der nächste Zündfunke erwies sich als fatal. Das angesammelte Gas explodierte und setzte die Bühnentechnik in Brand, von wo sich das Feuer auf die Bühne und dann auf den Zuschauersaal ausbreitete. Gleichzeitig fiel damit das restliche Gaslicht aus und es wurde dunkel.
Erst verspätet begann man, die Zuschauer zum Verlassen des Wiener Ringtheaters aufzufordern. Doch die Türen der Ausgänge gingen nur nach innen auf und die mittlerweile verständigte Polizei war der Meinung, das Theater sei schon vollständig evakuiert worden. Deshalb hielt sie Helfer davon ab, das in Vollbrand stehende Gebäude zu betreten. Eine Verkettung weiterer unglücklicher Umstände – so wurde erst nur ein Dachbrand gemeldet und ein einziger Löschzug geschickt, der dann wiederum aus den abgedrehten Hydranten kein Wasser ziehen konnte – führte zur vollständigen Zerstörung des Theaters.
Nachdem im Inneren des Gebäudes kein Laut mehr zu hören war, vermeldete der zuständige Polizeirat: „Alles gerettet!“ Erst am nächsten Tag wurde das Ausmaß der Katastrophe bekannt, als man die verkohlten Leichen im Schutt fand. Offiziell waren 384 Tote zu beklagen, inoffiziell sprach man aber von 1.000 Toten. Um die 500 Personen hatten sich durch Fenster- und Balkonsprünge ins Freie retten können. Der Großteil der Opfer war bereits innerhalb der ersten 15 bis 20 Minuten an den Rauchgasen erstickt.
Gaslaternen stellten einen großen Fortschritt in der Beleuchtungstechnik dar und hatten die Öllaternen abgelöst, die wiederum die Kerzenbeleuchtung ersetzt hatte. Öllaternen rußten weniger als Kerzen und machten damit den Beruf der Lampenputzer hinfällig, deren Aufgabe es war, mehrmals bei einer Vorstellung die Spiegelreflektoren zu reinigen, den Docht zu kürzen – auch als „putzen“ oder „schneuzen“ bekannt – und abgebrannte Kerzen auszutauschen.27 Der Auftritt der Lampenputzer in den Pausen und während der Vorstellung wurde vom Publikum unterschiedlich bewertet. Machten sie ihre Aufgabe gut, wurden sie mit Beifall überschüttet. In England hingegen wurden die „candlesnuffer“ oft übel behandelt. Doch immer wieder durften sie in kleinen Rollen in den Theaterstücken selbst auftreten oder sprangen für sich unpässlich fühlende Schauspieler ein. Was sie nicht verhindern konnten, war der unangenehme Geruch der Kerzen, den die Zuschauer, speziell die in den oberen Reihen, einatmen mussten, was bei Schauspielern, Sängern und Musikern, die den Dämpfen jeden Abend ausgesetzt waren, sogar zu berufsbedingten Krankheiten führte. Lichtputzer schienen auch so eine Art Universaljob gehabt zu haben.28
Aus Hamburg ist bekannt, daß man die Lichtputzer „die Acteurs und Actrizen richten, puzzen und schneuzen“ ließ.
Die Gasbeleuchtung wiederum machte die Öllaternen obsolet, deren Öl immer wieder nachgefüllt werden musste. Sowohl Kerzen als auch Öllaternen hatten den Nachteil, dass sie wenig geeignet waren, offenen Raum zu beleuchten. Ab dem Jahr 1807 wurden Gaslaternen im Londoner Westminster zum ersten Mal als Straßenbeleuchtung eingesetzt. Im zwischen Chemnitz und Dresden gelegenen Freiberg wurde im Jahr 1811 vom Chemiker Wilhelm August Lampadius die erste Gaslaterne in Betrieb genommen. Mit der Gaslaterne, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts in allen Städten Einzug finden sollte, wurden nicht nur die Städte sicherer und den kriminellen Elementen ihre Arbeit erschwert, die sich nun nicht mehr so einfach verstecken, ihren Opfern auflauern und in der Dunkelheit unerkannt verschwinden konnten, es wurden auch neue Berufsgruppen geschaffen. Der Laternenanzünder wurde so zu einem anerkannten Beruf, dessen Aufgabe es war, jeden Abend in den Straßenzügen auf einer Leiter die Laternenmasten hochzuklettern, den Gashahn aufzudrehen und mit einer Dochtstange das Feuer zu entzünden. Am Morgen wurde dann das Gas wieder abgedreht. Zu den Aufgaben der Laternenanzünder gehörte es auch, dass den Laternen „von muthwilligen Frevlern und betrunkenen Leuten kein Schaden zugefügt“ wurde.
Die Anforderungen an Laternenanzünder waren verhältnismäßig hoch. So schrieb Kurt Tucholsky über die Berliner Voraussetzungen, um das Laternenanzünderhandwerk zu ergreifen:
Die Anforderungen an den Beruf sind hohe; der Mann, der sich als Aspirant vorstellt, muß über tadellose Papiere verfügen, aus politisch unbelasteter Familie stammen, eine freiwillige Übung bei einer Reichswehrbrigade mitgemacht haben und die Primareife eines Oberrealgymnasiums besitzen. Die Ausbildung erfolgt auf den Technischen Hochschulen, die Teilnahme an den dortigen Leibesübungen ist für den künftigen Verwaltungsbeamten absolut unerläßlich (Rumpfbeugen, Geschmeidigkeit des Körpers). Die Vorlesungen umfassen: Wesen und Begriff der Lichtwissenschaft; Geschichte des Beleuchtungswesens, unter besonderer Berücksichtigung des betreffenden Bundesstaates; Theorie der Lichtgebung; Ablicht und Anlicht; zur Soziologie der Beleuchtungswissenschaften. Dem Studium folgt ein Staatsexamen. Nach zehn bis zwölf Jahren Wartezeit erfolgt gewöhnlich die Ernennung zum Laternenanzünder, nach weiteren zwanzig bis dreißig Jahren die Beförderung (nicht: Ernennung) zum Chef-Laternenanzünder.
Die Einführung der Gaslaterne im öffentlichen Raum ging nicht ohne Widerstand vonseiten einer anderen Berufsgruppe, der Laternenträger, einher. Diese waren eine Art mobile Lichtquelle, die man mieten konnte, wenn man in der Dunkelheit unterwegs war. Die Pariser Laternenträger verdienten sich oft noch ein Zubrot, weil sie als Polizeispitzel tätig waren und am nächsten Morgen der Polizei alles Auffällige aus der Nacht zuvor meldeten. Die Londoner Laternenträger hingegen waren häufig der anderen Seite, also der Unterwelt zuzuordnen, und führten ihre Aufraggeber häufig auflauernden Straßenräubern zu, bevor sie sich selbst durch Löschen ihre Laterne unerkannt aus dem Staub machten.
Noch heute befinden sich Gaslaternen im Einsatz. In Berlin waren es im Jahr 2018 immer noch 30.000 Gaslaternen, auch wenn deren Tage aus Kostengründen gezählt sind und sie ersetzt werden sollen.29 Ebenso sind in Düsseldorf, Frankfurt, Dresden, Mainz, Warschau und Prag Gaslaternen noch im Einsatz und verteilen ihr warmes Licht.
Auch in diesem Fall setzte natürlich die Kritik ein, als die Gaslaternen durch elektrisches Licht ersetzt wurden. In Buffalo und auf New Yorks Straßen wurden Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Kohlebogenlampen aufgestellt, die die Kreuzungen und Straßen in gleißendes Licht hüllten. Sie waren sogar so grell, dass die Nacht zum Tage wurde, die Menschen bleich aussahen und die Umgebung kalt wirkte – und Kritiker begannen den gelblichen Schein der Gaslaternen zu verherrlichen. Die Kohlebogenlampe, die nur von einer zentralen Stelle aus eingeschaltet werden konnte und keine lange Ausbildung benötigte, begann, den Beruf des Laternenanzünders zu verdrängen. Zwar mussten wöchentlich die langsam abbrennenden Kohlestäbe der Lampe nachjustiert werden, aber kamen auf 50 Gaslaternen noch ein Laternenanzünder, so konnte nun ein Elektriker gefahrlos, ohne irgendwo hinaufklettern oder jede einzelne Laterne abgehen zu müssen, diese einfach mit dem Umlegen eines Schalters ein- und ausschalten.
Die Unruhe unter den Laternenanzündern wurde durch die Gefahren des elektrischen Lichtes noch verstärkt. Am 12. März 1888 hatte ein Schneesturm in New York die Straßen unpassierbar gemacht. Dicke Eiszapfen hatten sich auf den Stromkabeln gebildet, die in den vergangenen Jahren auf Masten und Häusern eiligst von unterschiedlichen Stromgesellschaften errichtet worden waren. Viele dieser Pioniere gingen auch gleich wieder pleite und mehr und mehr Kabel waren funktionsuntüchtig geworden und teilweise heruntergerissen, sehr zum Leidwesen der New Yorker. Der Schneesturm hatte das Seine dazu beigetragen und bis zum April fanden sich herunterhängende Kabel auf den Straßen. Am 15. April 1888 berührte ein spielender Junge eines dieser herunterhängenden Kabel. Funken sprühten, der Körper des Jungen wurde auf die Straße geschleudert und Umstehende eilten zu Hilfe. Es konnte aber nur mehr der Tod des Jungen festgestellt werden.30 Todesfälle, die von der unsichtbaren Gefahr von Elektrizität ausgingen, häuften sich. Sechs Jahre lang waren die vielen oberirdisch angebrachten Kabel vor allem ein öffentlicher Schandfleck gewesen, nun trugen sie den Ruch tödlicher Gefahr in sich. Als weitere Unfälle publik wurden und die Presse darauf ansprang, befahl die Stadt, Stromkabel von nun an unterirdisch zu verlegen.
Schon früher hatte Elektrizität Brände verursacht und das hatte mit der anfänglich mangelnden Isolierung der Kabel zu tun. Blanke Drähte wurden unter den Tapeten und Fußböden verlegt und es genügte eine Kleinigkeit, dass es zu Kabelbränden und Stromschlägen kam. So wurde im Jahr 1883 im Anwesen von J. P. Morgan, dem Banker, der die Erfindungen von Thomas Edison finanzierte und als erster Haushalt elektrisches Licht installiert hatte, der Schreibtisch und der Teppich in der Bibliothek angesengt und es musste der Boden herausgerissen werden. Tatsächlich machte sich Edison an die Arbeit, geeignetes Isolationsmaterial für die Drähte zu entwickeln.
Die Gefahren wurden in Relation zu anderen Risiken jedoch weit übertrieben. Im Jahr 1888 starben in New York 64 Personen durch Tramwayunfälle, 55 durch Omnibusse und Wagen, 23 durch Leuchtgas und ganze fünf durch einen Stromschlag. Man sieht schon, auch an der Aufmerksamkeit gegenüber den Gefahren des Neuen hat sich bis in die heutige Zeit nichts geändert.
Doch selbst diese Geburtswehen konnten den Siegeszug des elektrischen Lichts nicht aufhalten, zu groß waren die Vorteile. Nach und nach verschwanden die Gaslaternen fast vollständig aus dem Straßenbild, auch wenn Nostalgiker die von Gaslaternen ausgehende warme Atmosphäre vermissen und sich über das „kalte“ elektrische Licht beschweren. Im Jahr 1924 bedauerte die New York Times:31
Das Laternenanzünderwesen in der großen Metropole ist Opfer zu großer Fortschritte geworden.
Ähnliche Kritik hört man vor wenigen Jahren, als elektrische Lampen durch andere elektrische Lichttechnologie ausgetauscht wurden. Filme in Los Angeles zeigen oftmals eine nächtliche Panoramaaufnahme der Stadt. Die Stadt bildet den Hintergrund für einen Filmhöhepunkt im wahrsten Sinne. Das Liebespaar küsst sich das erste Mal, die wilde Verfolgungsfahrt findet dort ein Ende mit einem der Fahrzeuge den Steilhang hinunterstürzend oder ein Schusswechsel zwischen den Guten und den Bösen hinterlässt mindestens eine Leiche, wenn nicht mehrere.
Die nächtliche Atmosphäre der Stadt ist Filmfans seit Jahrzehnten durch den gelblich-goldenen Schein der städtischen Lampen vertraut. Doch dieser änderte sich um das Jahr 2013, weil die Stadtverwaltung damit begonnen hatte, die 210.000 Natriumdampflampen gegen LED-Leuchten auszutauschen. Der Vorteil für die Stadt lag auf der Hand: LED-Leuchten verbrauchen viel weniger Strom und ihr Licht ist heller. Aber ihr Licht wird auch als kälter wahrgenommen als das der Natriumdampflampen. Und damit habe sich die Ästhetik von Filmen in Los Angeles für immer verändert.32 Für die Filmemacher selbst ist das eine Erschwernis. Obwohl das Licht der alten Natriumdampflampen monochromatisch war und die Ausleuchtung eines Filmsets erschwerte, gab es der Szene eine einzigartige Stimmung. Die neuen blau-weiß leuchtenden LED-Lampen hingegen zeigen aufgrund ihrer Eigenschaften manche Farben gar nicht oder nicht richtig an, was selbst in der Postproduktion nicht korrigiert werden kann.33
Man muss gar nicht an die Westküste der USA, um eine Diskussion zu Straßenlampen und deren Lichtspektrum zu führen. Die Fotos von Chris Hadfield, der von 2012 bis 2013 ein halbes Jahr als Astronaut auf der Internationalen Raumstation ISS verbrachte, zeigen das nächtliche Berlin, das durch die Lichtfarben der Straßenlampen noch sauber in Ost- und Westberlin getrennt werden kann. Während im Westen in kühlem Weiß strahlende Leuchtstoffröhren und Quecksilberdampflampen im Einsatz sind, zeigt der östliche Teil warmes gelbliches Licht, das durch die Natriumdampflampen erzeugt wird.34
Der Ringtheaterbrand in Wien hatte weltweite Konsequenzen. Neben der Einrichtung freiwilliger und später berufsmäßiger Feuerwehren wurden strengere Vorschriften zu Fluchttüren und brandhemmender Inneneinrichtung in Vorstellungsräumen erlassen, die solche Katastrophen in Zukunft verhindern sollten. Welche Art von Lichttechnologie man auch einführte, die Bedenken blieben dieselben und Brandgefahr war immer gegeben. Eine umgefallene Kerze, ausströmendes Gas oder ein blankes Kabel konnten die Ursachen sein. Noch etwas blieb gleich: Wann immer man in Wien von einer erfreulichen oder unerfreulichen Begebenheit in einem Theaterhaus spricht, darf dabei nicht vergessen werden zu erwähnen, welches Stück von welchem Autor oder Komponisten auf dem Plan stand. Somit wissen wir auch heute noch, dass im Ringtheater Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ und Rossinis „Der Barbier von Sevilla“ die Aufführungen am ersten beziehungsweise am letzten Spieltag waren.
Fratzen und Krankheiten
Was ein Mann schöner ist wie ein Aff, is ein Luxus!
„Tante Jolesch“ von Friedrich Torberg
Abgesehen von den Erfindern und Benutzern neuer Technologien scheint eine andere Profession von diesen ebenso zu profitieren: die Ärzteschaft. Wir haben bereits von der Aufzugskrankheit gehört, die Fahrstuhlbenutzer bei der Einführung dieser Innovation befiel. Zuerst, wenn es nach oben ging, später, als man Aufzüge auch zum – man halte nun den Atem an – zum Herunterfahren benutzte. Die ersten Eisenbahnen sorgten für die „Eisenbahnkrankheit“, die durch die hohen Geschwindigkeiten und das Rütteln der Waggons verursacht wurde.35 Sigmund Freuds Theorie war, dass der Körper einen „Schutzschild gegen Stimuli“ hatte, der bei fortwährendem Ausgesetztsein gegenüber diesem Reiz zu einer graduellen Desensibilisierung der „Bewusstseinsschicht der Haut“ führe.36
Neben Krankheitssymptomen, die durch Bewegung zu zeitweiligem Schwindel und Erschöpfung führten, identifizierten die Ärzte noch weitere Krankheiten, die lang anhaltendere Effekte hatten – so zumindest meinten es die Experten. Wer will denen schon widersprechen? Es handelte sich dabei um „Faces“, also um „Gesichter“ oder korrekter „Fratzen“, die durch die neue Technologie entstanden.
Das Fahrrad war eines der ersten dieser Innovationen, bei denen das beobachtet wurde. Das „bicycle face“ oder Fahrradgesicht entstand durch die Geschwindigkeit, mit der tollkühne Velozipedisten durch die Gegend sausten und nicht nur ahnungslose Passanten verschreckten, sondern durch den Winddruck sich selbst der Gefahr aussetzten, ihre Gesichter zu entstellen. Der auf das Gesicht einwirkende Wind verziehe die Wangen und das Kinn, zwinge zum Zusammenkneifen der Augen, lasse die Ohren flattern und hinterlasse – sofern man nicht sorgsam genug im Geschwindigkeitsrausch sei und die Lippen zu einem Lächeln öffne – auf den Zähnen die Spuren unvorsichtiger Insekten, die dort vorzeitig ihr Ende fanden. Speziell weibliche Velozipedisten wurden davor gewarnt mit dem Hinweis, dass sie aufgrund dieser Entstellungen auf ewig alte Jungfern bleiben würden. Okay, das mit den Insekten auf den Zähnen habe ich erfunden, das mit der alten Jungfer stimmt aber so.
War das Fahrrad schon gefährlich, dann erst recht das Automobil. Das Automobilgesicht („automobile face“) wurde erwartungsgemäß auch als Krankheit identifiziert und folgerichtig diese Erfindung des Teufels verdammt. Als dann Orville und Wilbur Wright im Jahr 1908 die ersten öffentlichen Schauflüge mit ihrem Flyer in Le Mans und in Washington, D. C., durchführten und es klar wurde, dass Flugzeuge ein reales Ding sind, identifizierte noch im selben Monat der erste Arzt – ein Phrenologe, also „Schädelkundler“ – das wenig überraschend so benannte „aeroplane face“ („Flugzeuggesicht“), das auf charakteristische Eigenschaften von Flugzeugpionieren und damit die Weiterentwicklung der Menschheit hinweisen ließ. Die New York Times vom 30. August 1908 berichtete darüber mit humoristischer Skepsis:37
Ein gewisser Londoner Phrenologe, der sich selbst als Entdecker des „Fahrradgesichts“ und des „Automobilgesichts“ bezeichnet, hat nun mithilfe einer illustrierten Arbeit das „Flugzeuggesicht“ entlarvt. Er hat einige Zeit lang die Gesichtszüge der Herren WRIGHT, FARMAN, DELAGRANGE, BLERIOT und SANTOS-DUMONT betrachtet und bestimmte, allen gemeinsame Merkmale notiert und tabellarisch aufgelistet, die sich in saubere Unterscheidungen und Launen von Herz und Verstand verjüngen.
[…] Und aus diesen Daten zieht der Phrenologe die Folgerung, dass mit dem Fortschreiten der Wissenschaft und Kunst des Fliegens alle, die ihr frönen, ein Gehirn erwarten können, das ungewöhnlich über den Augenbrauen massiert ist und durch Vernachlässigung in anderen Richtungen leidet und schrumpft […]
Das alles ist interessant, wenn auch nicht absolut überzeugend. Mark Twain, so meinen wir, war es, der einmal glaubte, die Gesetze der Physiognomie so festgelegt zu haben, dass er den Beruf eines jeden auf einen Blick erkennen konnte. Er wählte zwei Herren aus und erklärte nach einer sorgfältigen Untersuchung ihrer Gesichter den einen zum Humoristen und den anderen zum Bestatter. Auf persönliche Nachfrage entdeckte er seinen Fehler. Das lächelnde und joviale Gesicht gehörte dem Bestatter, und die traurige und tränenüberströmte Visage war die des Humoristen.
Zu diesen furchtbaren Gesichtsentstellungen gesellten sich noch das „U-Bahn-Gesicht“ („subway face“)38, das „Golf-Gesicht“ und das „Pingpong-Gesicht“39, das „Kino-Gesicht“ („moving picture face“)40, das Gesicht, das man im Jahr 1910 aufsetzte, sofern man über ein „sehendes Telefon“ verfügt,41 und das „Radio-Gesicht“, von dem Frauen im Jahr 1925 in England sprachen, weil sie sich beim konzentrierten Zuhören vor dem Radio vor „wireless wrinkles“, also „drahtlosen Gesichtsfalten“ fürchteten.42
Lustig, diese Menschen vor 100 Jahren? Wie primitiv musste die Generation unserer Ur- und Ururgroßeltern wohl gewesen sein, nicht wahr? Nicht so schnell. Schon einmal vom „duck face“ gehört, also dem Gesicht, das Gerüchten zufolge vor allem junge Frauen machen, wenn sie bei einem Selfie die Lippen zuspitzen und diese dabei einem Entenschnabel ähneln? Oder schon einmal den Smartphone-Nacken beobachtet, der bei Jugendlichen bleibende Schäden vom ständigen Herunterblicken auf das Smartphone in ihren Händen hinterlässt?
Nicht nur die Angst vor der Entstellung von Gesichtern durch neue Technologien ist uns modernen Menschen von unseren Vorfahren vor 100 Jahren geblieben, auch andere Befürchtungen verlieren nicht ihren Schrecken. Der Telegraf brachte nicht nur eine Flut an Informationen in entlegene Gegenden, bei denen man fürchtete, sie würden zu einer Überreizung des Nervensystems führen und den gewohnten Tagesablauf von Menschen ändern, man verdächtigte ihn auch der Übertragung von Krankheiten. Als im Jahr 1849 eine Choleraepidemie durch die jungen Vereinigten Staaten fegte, wurde die Schuld an der so raschen Verbreitung den Telegrafenleitungen zugeschrieben und konsequenterweise nahmen die Bewohner die Sache in die eigene Hand. An vielen Orten wurden die Telegrafenleitungen umgesägt. Damit schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe: Ärzte und Psychologen befürchteten nämlich auch, durch die immer stärker werdende Vernetzung der Menschen durch Telegrafen und durch die wachsende und damit enger zusammenlebende Bevölkerung in den Städten würde es zu einer „Übersozialisierung“ und damit zu mehr Nervenleiden kommen.43
Wie ist das heute? Nicht anders, wie öffentliche Diskussionen beweisen. Von angeblich krankmachenden Handystrahlen, nicht nachgewiesenem „Infraschall“ bei Windturbinen, der „Reisekrankheit“, die Experten bei einer Fahrt in autonomen Autos vorhersagen, bis hin zum Gegenteil der „Übersozialisierung“, nämlich der „Einsamkeit durch soziale Medien“ reicht die moderne Palette an Ängsten. Selbst das moderne Äquivalent der angeblichen Übertragung der Choleraepidemie durch Telegrafenleitungen gibt es: die Verbreitung von Covid durch 5G-Sendemasten.44 200 Jahre nach den ersten Impfgegnern finden diese nach wie vor regen Zulauf, allerdings mit einem modernen Twist. Heute ist es weniger die Angst vor den Schäden einer Impfung selbst (auch die gibt es) als die Angst vor einer Regierung, die Menschen damit einen Chip – vermutlich vom Microsoft-Gründer Bill Gates gefördert – injizieren wollen, um so über ihre Aufenthaltsorte immer Bescheid zu wissen und sie aus der Ferne kontrollieren zu können.
Ein Spaßvogel nahm diese Impfskeptiker nach dem Erhalt der Covid-Impfung und dem vermeintlichen Injizieren solcher Chips auf die Schippe, indem er auf Twitter postete: „Habe nun die Covid-Impfung erhalten, aber Internetempfang ist immer noch schlecht. Was ist los?“
Wir sehen schon: Erfinder, Wissenschaftler, Technologen, Ingenieure haben kein Problem damit, technologische Probleme zu lösen. Die wahre Herausforderung ist, Menschen psychologisch darauf vorzubereiten. Und das haben sie nie gelernt.