Kitabı oku: «Haloperidol oder vom Ende der Luftschlösser», sayfa 3

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Helmut

Diese Faxenmacher vom Dienst! Ich will jetzt keine Namen nennen, die sammeln in der Pause Spenden dafür, dass wir auch im Winter etwas zu essen haben, und wenn die sehen, da hat einer einen ganz dicken Geldbeutel, dann setzt sich die Eine auf den Schoß und schneidet ein paar Grimassen, dass sich das Publikum krümmt vor Lachen, und dann kommt der Andere und schäkert noch ein wenig, und schon ist der Geldbeutel weg. Vorne am Entrée hat Pickel ein Schild angebracht, „Vorsicht Taschendiebe“, nützt aber nichts, denn die teilen durch drei! Ich schaue da weg. Man will ja nicht zum Außenseiter werden.

Gefahr lag in der Luft. Sokrates klapperte nervös mit dem Schnabel und stieg von einem Bein auf das andere. Meistens steht er stundenlang auf einem Bein, und wenn ihm etwas Wichtiges einfällt, wechselt er es gemächlich, macht sich ein paar Notizen, um später mit Moma darüber diskutieren zu können. Er ist der Einzige, der noch mit Moma spricht. Einmal wöchentlich treffen sie sich, offiziell zur Therapie, aber in Wirklichkeit diskutieren sie nur über seine Notizen.

Sue begann aufgeregt zu hüpfen. Pascha peitschte mit seinem Schwanz den Sand. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Normalerweise sitzt er träge auf seinem Hocker und macht alles, was von ihm verlangt wird.

Es war wohl was Elektrisches. Ein Kabel schmorte oder ein Scheinwerfer brannte durch. Noch konnte man es nicht riechen, aber die Gefahr spürten wir alle, bis auf die Menschen natürlich. Sokrates flog über das Gitter in den Raubtierkäfig und zog Pickel am Ärmel. Der hatte aber keine Zeit für ihn, weil er Pascha dazu bringen wollte, durch einen Reifen zu springen. Ahnte er denn nichts? Sah er denn nicht, wie Pascha den Sand peitschte? Sokrates klapperte mit dem Schnabel. Vergeblich. Dann zwickte er Pickel ins Bein.

„Was soll denn das?“ schrie der auf, „verdammtes Biest!“

Jetzt schien Pascha die Nerven zu verlieren. Er brüllte auf, dass es mir eiskalt den Rücken herunterlief, sprang von seinem Hocker und lief aufgeregt durch den Sand. Eilig verließ Pickel den Käfig und verriegelte die Tür. Rauch stieg aus einem Scheinwerfer auf. Hatte ich es nicht gesagt? Es musste etwas Elektrisches sein. Schon züngelten die ersten Flammen hervor und erfassten einen herunterhängenden Stofffetzen. Wie kam der eigentlich da hin? Da hatte wohl jemand seine Arbeit nicht richtig gemacht? Die Flammen züngelten am Stofffetzen entlang, erfassten die Zirkuskuppel und im Nu brannte das Zelt lichterloh.

Pascha brüllte noch einmal, dass mir das Blut in den Adern gefror. Dem möchte ich in freier Wildbahn nicht begegnet sein.

„Ruhe bewahren, wir schalten sofort den Strom ab!“ rief Pickel.

Zu spät, alles stürzte den Ausgängen zu. Nicole nutzte die Panik für einen Ausflug, sie hatte doch schon immer von einem Schaufensterbummel geträumt und das war ihre Chance. Am nächsten Tag stand es in der Zeitung: „Sau in den Mannheimer Planken“, dazu ein Foto, wie sie sich in einer Blumenrabatte wälzte. Alle waren neidisch auf sie. Mir aber wäre eine solche Schlagzeile peinlich gewesen. Wenn sie sich so aufführen, liefern sie den Menschen doch nur die Argumente dafür, dass sie später einmal, wenn man sie nicht mehr braucht, so mir nichts dir nichts, ab zum Abdecker.

„Wer hat mich denn gefragt, ob ich die Kutsche ziehen will?“ hab’ ich zu ihr gesagt. „Gut, das Publikum will etwas Neues sehen“, hab’ ich gesagt, „Minusrechnung kann ich nicht, dann zieh ich eben die Kutsche. Glaubst du, mir macht das Spaß?“

Also, wenn ich etwas zu sagen hätte, dann ließe ich sie verheiraten. Jawohl, Zwangsverheiraten. Wer hat denn meine Mutter gefragt, ob sie sich mit meinem Vater einlassen wollte? Mein Vater war ein besonders kräftiges Pferd, denn früher, als es noch keine LKW gab, musste er tagein, tagaus die schwersten Wagen ziehen und die Wirtshäuser mit Bier und Limonade beliefern. Daher hab’ ich auch meine kräftige Statur.

Mein Vater wurde zu meiner Mutter geführt, niemand hat sie danach gefragt und was dabei herausgekommen ist, kann sich durchaus sehen lassen.

Der Philosoph Nietzsche soll sich aus Mitgefühl an die Brust einer meiner Urgroßväter geworfen haben, als dieser von einem Kutscher ausgepeitscht wurde, weil er alt war und die schwere Last nicht mehr ziehen konnte. Der Philosoph weinte am Hals meines Ahnherren und kam daraufhin in die Klapse.

Mütterlicherseits waren meine Vorfahren Reitpferde. Meine Urgroßmutter Tora gewann bei den Olympischen Spielen 1936, Gold im Springreiten.

1945 wurde sie zum Pflügen eingesetzt, lief auf eine Mine und verlor einen Huf. Der Bauer büßte nur einen Teil seines Augenlichts ein und wurde jahrelang gepflegt. Meine Großmama aber wurde erschossen und aufgegessen.

Heutzutage wissen die meisten ja gar nicht mehr, was richtige Arbeit ist. Welcher Kollege musste sich schon sein Essen selbst suchen oder Beute machen? Furchtbarer Gedanke, seinen Kiefer in einen fremden Nacken beißen zu müssen und das warme Blut zu trinken. Für mich als Vegetarier sowieso unvorstellbar. Da wir einmal während einer Tournee, in einem gleich neben dem Zirkus liegenden Freiluftkino, einen Film sahen, in dem ein Löwenrudel eine Antilope hetzte, ihr das Genick brach, die Eingeweide und das rohe Fleisch verschlang, hielt Pascha der Löwe, sich die Augen zu und sagte, er müsse sich sonst übergeben.

Doch zurück zur Feuersbrunst: Die Flammen prasselten aus dem Scheinwerfer und das Zelt stand in Flammen. Eigentlich ist das kein Problem. Das Einzige, was passieren kann, ist, dass Sie so einen Fetzen Zeltplane abbekommen. Na und, dann schütteln Sie sich und treten den qualmenden Fetzen im Sand aus. Einmal im Monat ist Arbeits- und Brandschutzbelehrung. Das heißt, früher war das so, als noch Bühnenarbeiter, Beleuchter, Dompteure, Artisten, Pfleger und was weiß ich nicht noch alles am Zirkus beschäftigt waren. Einmal im Monat trafen sich alle Mitarbeiter zur Arbeits- und Brandschutzbelehrung und wir nicht menschlichen Mitarbeiter hörten zu. Das heißt, ein Kollege wurde geschickt und erzählte es den anderen weiter. Alle Mitarbeiter saßen in der Kantine, ich stand davor, schabte mein Fell am Kantinenwagen und hörte, dass, wenn ein Feuer ausbricht, Ruhe bewahren die erste Mitarbeiterpflicht ist. Anschließend lief ich zurück und hab’ es allen weitererzählt. Versprochen!

Doch was tat Pascha? In Panik sprang er über das Gitter und flüchtete Richtung Entrée, mitten hinein in das, ins Freie strömende, Publikum. Das Publikum kreischte auf, stob auseinander und schon stolperte der Erste, und der Zweite stolperte über den Ersten, und der Dritte über den Zweiten, und so weiter und so weiter. Schreie, Entsetzen, die Hinteren schoben nach. Der Instinkt der Herde, sage ich nur. Ob Mensch oder nicht, bei Feuer fliehen wir.

Pickel zog eiskalt die Pistole und erschoss Pascha, den legendären König Pascha! Den Star des Staatszirkusses der DDR. In über achtzig Ländern der Welt war er durch Film und Fernsehen bekannt. Pickel schnallt sich vor jeder Vorstellung ein Pistolenhalfter um, und läuft damit lässig durch die Stallungen, seht her, soll das wohl heißen, ich habe die Macht.

Über mir brannte die Zirkuskuppel, na und? Der gute alte Helmut blieb wie angewurzelt stehen und rührte sich nicht. Ruhe bewahren ist die erste Mitarbeiterpflicht! Ich habe ein gutes Gedächtnis!

Dann kam sie, Miss Lulu, die Trapezkünstlerin. Ich kann Ihnen sagen, das ist eine wirkliche Künstlerin. Selbst am Staatszirkus hatten wir so eine nicht. Sie schnalzte mir zu, und ich folgte ihr trabend. Sie gab mir ein paar Nüsse, brachte mich in den Stall und nahm mir das Geschirr ab. Dann bürstete sie mich und kratzte meine Hufe aus. Was Panik und Feuerwehr nicht schafften, schaffte sie: mir wurden die Knie weich, und ich musste mich auf die Seite legen.

„Na mein Brauner, hast dich gut gehalten“, sagte sie und gab mir eine Rübe. Diese Ruhe, die sie ausstrahlte. Ganz hohe Schule. Dann kraulte sie mir meinen Pony. Ihr pechschwarzes Haar fiel ihr über die Schulter. Ihre Muskeln sind stark und elastisch. Ihre Stimme gleicht der Harfe, die wir früher im Profiorchester hatten. Ich kenne nicht einen Kollegen, der nicht mit ihr zusammenarbeiten wollte.

Dann gab sie mir einen Klaps auf das Hinterteil, nahm einen Schlauch und half beim Löschen. Die hat vielleicht Nerven! Wegen der anschließenden Aufräumarbeiten musste ich drei Tage in meiner Box verbringen - die Vorstellungen wurden abgesagt- drei lange Tage, ohne dass jemand nach mir gesehen hatte. Kein Futter, kein Auslauf, nur Brandgeruch nach verschmortem Gummi. Wissen Sie, ich habe ja für so manches Verständnis, aber drei Tage in so einer engen Box, das ist kein Zuckerschlecken! Unsereins braucht doch ein wenig Bewegung, sonst werden die Gelenke steif. Dann hörte ich Schritte und Eisen klingen. Der Hufschmied? Etwas Metallenes schlug auf den Boden auf. Das war nicht der Hufschmied, das war nicht Pickel, das war sie. Ich erkannte sie an ihrem federnden Gang. Ich stand auf und schüttelte mich so gut es eben meine steifen Knochen erlaubten, denn seit Tagen stand ich eingesperrt in meiner Box oder lag in meinem Mist, und machte bestimmt keinen guten Eindruck. Den restlichen Kot habe ich mir am Verschlag abgeschabt. Nach Schweinemanier. Hab’ ich von Nicole gelernt, sie schabt sich ja auch, wo sie geht und steht, ist zwar nicht unbedingt nach Pferdeart, aber was soll’s? Ich bin durchaus bereit, von meinen Kollegen zu lernen.

Ich wieherte ihr entgegen. Dann hörte ich wieder dieses Klimpern. Etwas Stählernes schlug auf den Boden auf. Sie hatte doch nicht etwa Zaumzeug dabei? Was wollte sie denn damit? Ich, ich war doch zum Kutscheziehen ausgemustert worden? Mit der Minusrechnung oder „Subtraktion“, wie Sokrates sagt, kam ich einfach nicht zurecht. Zusammenzählen, klar, wie viel sind drei Möhren und drei Möhren - das kann ich im Schlaf. Aber wie viel drei Möhren weniger drei Möhren sind, das krieg ich in meinen Kopf einfach nicht rein, und da die Besucher nach immer neuen Attraktionen verlangen - mit der Plusrechnung würde ich niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken, meint Pickel - wurde ich ausgemustert zum Kutscheziehen. Nur zum Grand Finale durfte ich noch auflaufen, also kurz vor Schluss, wenn sich alle noch einmal verbeugen, damit dem Publikum noch einmal was geboten wird - fürs Auge.

„Kling“, schlug das Metall wieder auf den Boden. Aber das war doch undenkbar, das waren Steigbügel. Ich wieherte, was das Zeug hielt und dann, dann kam sie zu mir. Wie in einer Westernshow warf sie den Sattel über einen herumstehenden Holzbock und zäumte mich auf. Was für ein Glücksgefühl, als sie mir den Sattel anlegte! Natürlich, ich bin ja ein ausgebildetes Reitpferd. Steht doch alles in meinen Papieren.

Wenn Sie den ganzen Tag die klapprige Kutsche durch den Dreck ziehen, vergessen Sie sehr schnell, was alles in Ihnen steckt. Sie ritt mit mir aus. Toll, kann ich Ihnen sagen. Mitten durch die große Stadt Mannheim, den Boulevard „Planken“ entlang, am Schloss vorbei, über den Rhein nach Ludwigshafen und zurück. Das Sonnenlicht glitzerte im Fluss und das Horn eines Lastkahns brummte auf, nur um mich zu grüßen. Na ja, vielleicht nicht nur, um mich zu grüßen, aber schön wäre es schon gewesen. Der Verkehr hat mir gar nichts ausgemacht, ich habe eben eine hervorragende Ausbildung genossen.

Was glauben Sie, wie mich die Passanten angestarrt haben? Und die Hunde kriegten sich gar nicht mehr ein. Die sollten es nur versuchen, mir in die Ferse zu beißen. Ich trage schwere Eisen, sie sollten es nur versuchen!

Nach der Mittagspause, wir waren schon wieder zurück, ging sie mit mir zur Probe. Nichts Schweres. Keine Minusrechnung, kein Zusammenzählen. Einfach nur dastehen. Aber dieses Gefühl, Sie stehen wieder mitten in der Manege und wissen, ohne Sie geht hier gar nichts. Ich mache meinen Rücken ganz weich und kann sie im großen Spiegel, am Entrée, sehen. Am Eingang haben wir einen großen handgeschliffenen Kristallspiegel, der ein Vermögen wert sei, meint Pickel.

Denn, wenn das Publikum die Eintrittskarte bezahlt hat, kommt es an der Kasse vorbei, kann sich im Spiegel sehen und denken, ich gehe in den Zirkus, ich bin toll. Das wäre eine erste Gegenleistung für das Geld an der Kasse, meint Pickel. Also ich finde, wenn Pickel sich im Spiegel sieht, könnte er den Zirkus verklagen, aber dann müsste er sich ja selbst verklagen. Geht das überhaupt? Kann man sich selbst vor Gericht verklagen?

Wo war ich stehen geblieben? Ich sehe im Spiegel, wie sich meine Reiterin durch die Zirkuskuppel schwingt. Dann, mir bleibt das Herz fast stehen, stürzt sie sich mitten aus der Zirkuskuppel auf meinen Rücken. Atemberaubend! Dabei macht sie noch einen dreifachen Salto. Absolute Weltklasse! Sie ist unsere Attraktion. Mit ihrer Nummer könnte sie in jedem Zirkus der Welt auftreten, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals einen blauen Fleck von ihr hatte, so eine Technik hat sie.

„Das ist das Richtige“, hörte ich sie nach der Probe sagen. „Das“, als wenn ich eine Maschine wäre. Aber diese kleine Nachlässigkeit mir gegenüber, habe ich ihr verziehen.

Einmal hab’ ich ihr sogar das Leben gerettet. Ganz bestimmt hab’ ich ihr das Leben gerettet. Die Kollegen schütteln bei diesem Punkt zwar mit dem Kopf, aber ich bin mir da ganz sicher. Pedro und Sue wollen natürlich nichts gesehen haben, obwohl sie in der Manege saßen und die Nummer von Miss Lulu beobachten sollten. Sie sollten ausnahmsweise mal keine Faxen machen und aufmerksam zugucken, aber das schaffen die beiden keine zwei Minuten. Das Ganze kam so: die Markierung war falsch gelegt worden. Die Manege wird neuerdings per Laserstrahl vermessen, das käme billiger, und wir könnten einen Akrobatikassistenten einsparen, meint Pickel.

Aber nicht mit Helmut. Helmut zählt noch mit seinem eigenen Kopf, der verlässt sich nicht auf so ein fiepsendes Ding. Vom Stall bis zur Markierung sind es 77 Schritte. Ich kann bis 99 zählen. Mit dem rechten Huf kratzte ich früher, als das Zusammenzählen noch eine Attraktion war und das Publikum wegen mir in den Zirkus kam, eine 99 in den Sand. Ich bekam vom Zirkusdirektor eine Rechenaufgabe gestellt, und immer, ich weiß bis heute nicht warum, beziehungsweise wie der Herr Zirkusdirektor das gemacht hat, war das Ergebnis 99 Rüben. Immer kam ich nach langem Herumrechnen auf 99 Rüben, und das Ergebnis kratzte ich mit dem rechten Huf in den Sand und das Publikum klatschte Beifall. Aber dieser Beifall war beleidigend für mich. Die Reiter denken, ich bin dumm.

An dem Tag, als ich Miss Lulu das Leben rettete, waren es nur 76 Schritte bis zur Markierung. Pickel fiepste mit diesem neumodischen Ding herum und legte prompt die Markierung falsch. Pickel führte mich zur Markierung. „Nanu, heute nur 76 Schritte?“ dachte ich. 99 Rüben und 77 Schritte, das ist leicht zu merken, dachte ich und machte den 77igsten Schritt. Doch Pickel schob mich zurück.

„Gut“, dachte ich, „Pickel muss es ja wissen, schließlich ist er mein Vorgesetzter.“ Dann sah ich sie im Spiegel, vorne am Entrée. Ich sah sie schwingend in der Kuppel direkt über mir. Das heißt, nicht ganz über mir. Mir war klar, dass ich falsch stand. So etwas hab’ ich im Instinkt. Wieso merkte Pickel das nicht? Ich machte einen Schritt, den 77igsten, doch Pickel fuhr mir in den Zügel und schob mich zurück. Ob ich lebensmüde sei, fluchte er und zeigte mir die Peitsche. Ich sah im Spiegel, wie sie fiel und ihre Salti schlug, und ich sah, dass ich falsch stand. Ich schob mich nach vorn, aber ohne einen Schritt zu machen. In meinem Rücken stecken eine Menge Zentimeter und so fing ich sie sicher auf. Nach der Vorstellung bürstete sie mir das Fell aus. Sie brachte Blumen mit und flocht sie mir in die Mähne - die Reiterinnen finden so etwas hübsch. Jawohl, sie wollte, dass ich hübsch aussehe. Sie sagte kein Wort von wegen, „brav mein Brauner“ oder ähnliche, herabsetzende Kindereien. Sie weiß, dass ich sie gerettet habe.

Manchmal wünsche ich mir, dass ich ein Schimmel wäre. Schimmel sind heutzutage ziemlich in Mode. Ich galoppiere mit ihr durch die Prärie. Die Verfolger sind uns dicht auf den Fersen. Meistens sind es Banditen und sie ist ein Indianermädchen. Ich springe mit ihr über eine Schlucht und wenn meine Hufe auf der anderen Seite aufschlagen, stieben die Funken. Die Pferde der Verfolger scheuen natürlich und bäumen sich auf. Aber das ist nur ein Traum und bevor hier geträumt wird, sollte erst mal jeder seine Arbeit machen, anständig machen, so wie ich

Sokrates

Punkt fünf Uhr zog ich meinen Kopf unter dem Flügel hervor: Britta trat mal wieder gegen das Gitter, dass es ordentlich schepperte und an Schlaf nicht mehr zu denken war.

Sie hatte vom vielen Kopf-in-den-Sand-Stecken, wie sie behauptete, ein chronisches Augenleiden und wollte zu mir in die Sprechstunde. Sprechstunde war normalerweise von sieben bis neun, aber was sollte ich machen?

Ich setzte meine Brille auf und bat sie zu mir ins Gehege.

Sie erzählte mir, so wie jeden Morgen, wie sie von einem Arzt behandelt worden war: „Der ‚Pferdedoktor’ packte mich am Hals, verdrehte mir den Kopf und spülte mir die Augen so aus, dass ich nichts mehr sehen konnte. Und als ich nichts mehr sehen konnte, riss er mir eine Feder aus. Für den Hut seiner Frau“, wie er beiläufig bemerkte.

Da haben wir’s! Ihr Augenleiden kam nicht vom vielen Kopf-in-den-Sand-Stecken sondern von der Behandlung des Arztes! Strauße stecken nicht den Kopf in den Sand! Diese Redewendung geht vielmehr darauf zurück, dass Strauße, wenn sie etwas vom Boden aufheben oder schlafen, ihr Kopf im Gegensatz zum übrigen Körper, nicht zu sehen ist, er durch das Gras der Savanne oder durch eine Luftspiegelung, mit seiner Umgebung verschwimmt.

Das Interessante ist aber nun, dass Britta sich regelmäßig den nicht vorhandenen Sand aus den Augen spülen ließ, und um sich von dieser ärztlichen Tortour zu erholen, zu mir kam!

Was sollte ich tun? Ich legte, so wie jeden Morgen, einen Flügel auf ihre Augen, denn tat ich es nicht, konnte ich mein blaues Wunder erleben. Siehe Quellenverzeichnis!

„Ach, das tut gut“, sagte sie und dabei huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

Nun, was ist ein blaues Wunder? Schauen Sie einfach ins Quellenverzeichnis. So lernen Sie auch noch das Fußnotenlesen!

Britta war ein Geschenk des African National Congress, ANC, an die DDR. Ob sie aber jemals in die Deutsche Demokratische Republik wollte, ist sie von den Freiheitskämpfern gegen die Rassentrennung nicht gefragt worden.

Einmal im Monat bekam sie ein Paket aus Südafrika. Ein Südpaket sozusagen. Schokolade, Seife und Kaffee, meistens. Balthasar und Melchior bekamen die Schokolade und ich den Kaffee. Nur die Seife behielt sie für sich. Ich glaube, sie hatte fürchterliches Heimweh.

Trank ich eine Tasse von ihrem Kaffee, versuchte sie mich von Spitzwegerich- oder Huflattichtee zu überzeugen: „Weil du mein Arzt bist, muss ich alles versuchen, dich bei bester Gesundheit zu halten!“ erklärte sie mir. Haben Sie schon einmal eine Kanne Spitzwegerich- oder Huflattichtee zum Frühstück getrunken? Tat ich es nicht, gab es ein Kommando: „Brille ab“ und dann einen Tritt. Einen Straußentritt. So ein Straußentritt hat es in sich. Masse mal Geschwindigkeit, da kommt schnell etwas zusammen. Wenn ich mich weigerte, ihr Getränk zu trinken, flog ich gegen das Gehege, dass es, wie ich ja schon sagte, ordentlich schepperte – ich mein blaues Wunder erlebte!

Ab neun Uhr kamen die ersten Besucher in den Park am Fuße der Festung Königstein. Ich weiß nicht, ob es ihn heute noch gibt, wahrscheinlich ist er den Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen. Die Besucher fütterten uns natürlich, was offiziell verboten war. Britta schnappte mir aber alles weg, was gut schmeckte und sie für gesundheitsschädlich hielt.

„Zucker ist nicht gut für die Zähne und Kekse verstopfen nur“, erklärte sie mir. Nur für meine synäresischen Forschungen machte sie eine Ausnahme.

Synärese kommt aus dem Griechischen und bedeutet: Zusammenziehen. In meinem Fall: Konsonantenschwund im Wortinneren.

Das mit den Forschungen kam so: Ein Junge bewarf mich mit Buchstabengebäck, auch „Russischbrot“ genannt und zufällig ergaben die über den Boden verstreut liegenden Buchstaben das Wort G e t r e g e d e.

„Getregede“ ist mittelhochdeutsch und wurde im Mittelalter, so zwischen dem elften und vierzehnten Jahrhundert, gesprochen.

Ich schnappte mir das g, hm lecker und fragte nach seinem Namen. „Augustin“, antwortete er. „Oh, du lieber Augustin“, sang ich darauf. Natürlich war er ganz aus dem Häuschen, denn einen ein Volkslied singenden Vogel hatte er wohl noch nie gesehen, und bewarf mich, wie ich es mir gedacht hatte, mit weiteren Buchstaben. Ich tauschte ein paar Buchstaben aus und hatte so das wunderschöne Wort „Getreide“ vor mir zu liegen. Lecker. Am nächsten Tag stand er mit einer Tüte herkömmlicher Kekse und einem Kaffeebecher vor meinem Gehege. Ich ignorierte ihn und zeigte ihm nur meine Schwanzfedern. Er klopfte gegen das Gitter und rief: „Morschn, du Vogel du, Gännsch da Gehgse eindiddschn?“ Was sächsisch war und soviel hieß wie, ob er oder ich, so genau kann ich das nicht übersetzen, Kekse in den Kaffeebecher eintunken möchte. „Gännsch da Gehgse eindiddschn?“ Ich ignorierte ihn und ließ mich nicht provozieren. Von da an brachte er mein Russischbrot, ohne dumme Fragen zu stellen.

Um eins gab’s Mittagessen, was bedeutete, dass mir ein Pfleger ein paar faulige Fleischbrocken ins Gehege warf. Ich möchte nicht weiter darauf eingehen, aber oft genug waren es tote Mäuse oder Ratten, an denen sich schon die Maden satt fraßen. Vor dem Gehege versammelten sich die Menschen und gafften mich an. Sie klopften gegen das Gitter und forderten mich auf, die stinkenden Tiere zu essen. „Nu gnauble das viele Fleesch doch ab“, oder „Das is awwr a naggsches Ässn.“

Ich aber reagierte nicht und zeigte den Voyeuren nur mein Hinterteil – das war meine Rache für das, was sie Balthasar und Melchior angetan hatten. Manche bewarfen mich auch mit Steinen oder Hölzern. Sollten sie nur, von meinem Protest würden sie mich dadurch nicht abhalten.

Kurz vor der Wende, 1989, als die Voyeure in der DDR für Reisefreiheit auf die Straße gingen, wurden Melchior und Balthasar in einem Transporter abgeholt. Auf diesem Transporter stand „Produktionsgenossenschaft Frohe Zukunft“ und ein, in seine Einzelteile zerlegtes Schwein, war auch abgebildet. Wie die frohe Zukunft für die beiden aussehen sollte, konnte ich mir gut vorstellen. Wenn Britta und ich keine Gäste der DDR gewesen wären, wäre es uns bestimmt nicht anders ergangen. Zwei Männer in Lederschürzen verpassten den beiden eine Beruhigungsspritze und trieben sie auf die Ladefläche.

Kaum hatten die letzten Besucher den Park verlassen, um zwei Uhr schloss der Park für eine Stunde seine Pforten, kam auch schon Hippokrates angeflogen. Hippokrates wohnte gleich nebenan auf einem Telegrafenmast. Ich konnte es gar nicht mit ansehen, wie er das faulige, mit Maden durchsetzte Fleisch ohne zu kauen verschlang. Er aber ignorierte meinen angeekelten Blick und sagte nur, er müsse sich sein Essen selbst verdienen und könne nicht so wählerisch sein.

Da Augustin manchmal verreist oder krank oder aus irgendeinem anderen Grund nicht erschien, konnte ich es mir nicht leisten, mein Mittagessen einfach so zu verschenken. Deshalb erklärte ich ihm, dass ich in Zukunft als kleine Gegenleistung Russischbrot verlange oder ihm den Zutritt zu meinem Gehege versperren müsse. Im Namen der Wissenschaft sähe ich mich zu drastischen Maßnahmen gezwungen.

Zu meiner Überraschung lieferte er schon am nächsten Tag. Er hätte eine Quelle direkt am Güterbahnhof aufgetan, sagte er und verschlang die übel riechenden Nager. Was denn ein Güterbahnhof sei? fragte ich. Und so erklärte er mir, dass ein Güterbahnhof ein Platz sei, wo man alles bekommen könne, was das Herz begehrt. So eine Art fahrendes Warenhaus. Gern hätte ich etwas mehr über dieses fahrende Warenhaus erfahren. Wo es sich gerade befand? Wie es sein könne, dass öffentliche Plätze fahren können? Wann es geöffnet habe und so weiter und so weiter. Näheres war aber selbst nach wiederholtem Nachfragen nicht aus ihm herauszubekommen, da er wahrscheinlich fürchtete, dass, wenn ich Genaueres über seine Quelle wüsste, ich mir meine Leckereien selbst besorgen könnte. Wahrscheinlich stahl er es direkt aus der Lebensmittelabteilung. So gelang es mir, mein Versorgungsrisiko zu minimieren.

Erwachte Britta schließlich von ihrem Mittagsschlaf, hörte ich so oft, „ich muss unbedingt zu einem Arzt, denn ich habe vom Kopf-in-den-Sand-Stecken, Sand in die Augen bekommen.“ Reagierte ich nicht sofort mit Flügelauflegen, trieb sie mich in eine Ecke und durchsuchte meine Taschen nach Süßigkeiten. Ich trug damals einen schon etwas abgetragenen Leinenanzug und im Winter einen Wollmantel. Anzug und Mantel waren mit den entsprechenden Öffnungen versehen, damit sich mein Gefieder frei entfalten konnte. Außerdem hielt sie mir ständig Vorträge über Gesundheitsfragen. Die Schädlichkeit des Kaffeegenusses und ähnliches. Gegenwehr war zwecklos oder, um mit Brittas Worten zu sprechen, „sehr gesundheitsschädlich“, da ich bei Widerspruch sofort durch das Gehege kachelte. Blaues Wunder!

Ab Punkt drei Uhr nachmittags, hatten wir wieder geöffnet.

Britta legte sich dann meistens wieder schlafen, vielmehr sagte sie, sie gehe ihren Kopf in den Sand stecken. Was sollte das? War das ihre Art von Protest? Da ich sie einmal darauf ansprach, schaute sie mich argwöhnisch an und sagte, ich solle mich gefälligst um meine Angelegenheiten kümmern. Das wäre aber toll, erwiderte ich, denn wenn alle Bewohner schlafen würden, wäre dies eine Aktion, die die Voyeure nicht ignorieren könnten! Ob ich mich schon wieder über sie lustig machen wolle? fragte sie und zog bedrohlich eines ihrer Beine an. „Auf gar keinen Fall“, sagte ich und ging schnell meines Weges. Sollte sie doch ihren Kopf hineinstecken, wo sie wollte! Schließlich gab sie mir so die Gelegenheit, nach Beobachtern Ausschau zu halten und als Wissenschaftler musste ich meine Augen und Ohren offen halten. Den Praxisbezug meiner Wissenschaft wollte ich auf gar keinen Fall verlieren.

„Bauer duse Bibl“, sangen ein paar Jugendliche vor meinem Käfig. Einer spielte auf der Klampfe, was eine Gitarre ist, ein anderer blies auf der Mundi, einer Mundharmonika, dazu. Ein ganz spezieller Fall von Konsonantenschwund schien hier vorzuliegen. Aber weit gefehlt, mit „Bauer duse Bibl“ war „Power to the people“ gemeint. Die sächsische Version des Protestliedes der Beatles.

Auch wenn es nicht immer einfach war, ich wollte dem Volke aufs Maul schauen, um es einmal im Volksmund auszudrücken.

„Sensation! Zirkus Busch‚ der ehemalige Staatszirkus der DDR“, stand eines Tages auf einem Plakat, das am schwarzen Brett, gleich neben dem Kartenhäuschen, klebte. Ebenfalls abgebildet war eine Dame schwingend am Trapez. Miss Lulu! stand reißerisch darunter. Nun, ich war neugierig, was die Kollegen im Zirkus zu bieten hatten und fragte Hippokrates, ob er mir ein Billet besorgen könne. Schließlich müsste es doch ein Leichtes sein, zum Güterbahnhof zu fliegen und eine Eintrittskarte zu besorgen. Hastig stopfte er sich die toten Mäuse in den Schnabel, nicht ohne mich dabei aus den Augen zu lassen und trat, als er mit seinem Mittagessen fertig war, bedächtig von einem Bein auf das andere: „Im Prinzip schon“, sagte er nach einer schier endlosen Pause, aber er müsse sich das eben noch einmal überlegen. Schlug mit den Flügeln und hob ab. Damit wollte er mir wohl seine Überlegenheit demonstrieren? Aber nur weil er neidisch war. Im Grunde war Hippokrates neidisch auf mich!

„Ich muss den ganzen Tag durch feuchte Wiesen stapfen, Frösche und Mäuse fangen, während du kluge Reden hältst! „Synärääätsch! Wozu soll das gut sein? Wenn man beim Flug die Orientierung verliert und nicht mehr nach Hause findet, wozu braucht man dann Synärääätsch?“

Punkt sechs Uhr abends schloss der Park.

Für gewöhnlich ging ich dann spazieren. Wir nicht flugfähigen Vögel, also Britta und ich, durften uns frei bewegen. Britta ständig an meiner Seite. Den ganzen Tag rumlaufen ist ja auch nach Straußenart. „Sieh mal, wilde Kamille, die ist für den Magen gut“, sagte sie zum Beispiel. Stopfte ich mir nicht sofort den Schnabel voll, kam das Kommando Brille ab, und schon flog ich hinein.

Nachtruhe dann ab zehn Uhr. Endlich Ruhe! Wie habe ich diese Zeit genossen! Doch allzu oft war mir die Ruhe nicht gegönnt. Britta trat mal wieder gegen das Gehege, dass der Metallkasten ordentlich vibrierte.

Ob ich schon schliefe? wollte sie für gewöhnlich wissen. Ich schlief tief und fest. Jedenfalls antwortete ich nicht. Nächtelang stampfte sie südafrikanische Rhythmen gegen das Blech. Ein Alptraum!

Kurz vor Sonnenaufgang gab sie Ruhe und schlief für kurze

Zeit. Dann war meine Zeit für eine Tasse heißen, duftenden Kaffees gekommen.

Da Hippokrates am nächsten Tag zum Mittagessen angeflogen kam, trat ich ihm in den Weg und fragte, ob er sich das mit der Eintrittskarte nun schon überlegt habe? „Im Prinzip ja“, antwortete er und tat einen Schritt um mich herum, um an die toten Nager zu gelangen. Ich aber schob mich dazwischen und sagte, dass, wenn ich nicht sofort eine Antwort bekäme, er sich in Zukunft sein Mittagessen sonstwo holen könne!“ Erschrocken schaute er mich an. „Ja, ja, ja, das mit dem Billet gehe schon in Ordnung!“ Verlangte aber als Gegenleistung die Fleischration eines ganzen Monats. Letztlich weiß ich nicht, was mich bewegte, auf diesen Handel einzugehen? War es das tägliche Einerlei oder die ungewisse Hoffnung, etwas Aufregendes zu erleben? Ich willigte ein und versprach ihm, was er sowieso bekommen hätte.

Hippokrates lieferte großsprecherisch! Das Billet zu besorgen, wäre nicht leicht gewesen. Alle seine Beziehungen hätte er spielen lassen müssen und überhaupt bekäme ich es viel zu billig. „Ruhe! Es braucht ja niemand weiter zu wissen!“ zischte ich und schaute ängstlich zu Britta, die Mittagsruhe hielt. Jetzt trumpfte er erst so richtig auf: „Was soll denn die Heimlichtuerei?“, fragte er laut. „Jeder soll es wissen, dass ich, Hippokrates, alles besorgen kann!“

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