Kitabı oku: «33 Tage», sayfa 5
FREITAG, 3. JULI
Die Menge vor der Hofburgkapelle ist nicht so groß wie vor 16 Jahren, als die über alles geliebte Kaiserin zu Grabe getragen wurde, aber es sind bedeutend mehr, als die Tageszeitungen in ihren Artikeln über die Beliebtheit des Erzherzogs zu prognostizieren verleitet waren. Viele warten schon seit den frühen Morgenstunden auf Einlass, um dem toten Thronfolgerpaar die letzte Ehre zu erweisen. Dem Anlass entsprechend ist die überwiegende Mehrheit vollständig in Schwarz gekleidet. Auch wenn viele von ihnen Erzherzog Franz Ferdinand zeit seines Lebens nicht in ihr Herz geschlossen haben, hält man es nun doch für eine ehrenvolle Pflichterfüllung, des ermordeten Thronfolgers des Hauses Österreich zu gedenken und am Sarg des Kaiser-Neffen Trauer und Bestürzung über das Attentat zu bekunden. Dass man bei habsburgischen Begräbniszeremonien immer den einen oder anderen Blick auf hochgestellte Persönlichkeiten werfen kann, die man sonst nie zu Gesicht bekommt, wird von vielen als angenehmer Nebeneffekt gesehen.
Es ist für die Tageszeit schon ungewöhnlich heiß und die Vormittagssonne brennt auf die Straßen. Menschen spannen Regenschirme auf, um sich vor den Strahlen der Sonne zu schützen. In der grau-schwarzen Masse der Wartenden ist ein ständiges Pulsieren und langsames Rotieren zu bemerken. Vordrängende wechseln sich mit Zurückweichenden und Schattensuchenden ab. Dazwischen versuchen Unbeteiligte ein Durchkommen, besinnen sich dann eines Besseren und wenden sich, eine alternative Route anstrebend, in eine der Seitengassen. In der Mitte des Platzes hat man einen langen Korridor hin zum Haupteingang der Hofburgkapelle abgesperrt, der jetzt den ankommenden Ehrengästen einen ungehinderten Zugang ermöglicht. Wie die Bewegungen eines riesigen, langsam rotierenden Organismus branden die Wellen der grau-schwarzen Masse an diese Absperrung. Diese Bewegung hört mit einem Schlag auf, wenn einer der geladenen Trauergäste eintrifft, sich in den Korridor begibt und raschen Schrittes zur Hofburgkapelle schreitet. Der Organismus erstarrt und alles konzentriert sich für einen Moment auf die vorbeieilende hohe Persönlichkeit. Kaum ist diese in der Kapelle den Blicken entschwunden, besinnt sich die Menge wieder aufs Neue ihrer Bewegungen und beginnt unaufhaltsam, neue Wellen von Menschen an das Gitter branden zu lassen.
Die trauernden Menschen hoffen, neben dem österreichischen Hochadel auch ausländische Hoheiten zu sehen, die häufig in Wien erscheinen, wenn aus Europas ältestem und ehrwürdigstem Herrscherhaus ein Mitglied zu Grabe getragen wird. Doch an diesem 3. Juli wartet die Menge vergebens. Abgeschreckt von den ausgesprochen unfreundlichen Rahmenbedingungen der Begräbnisfeierlichkeiten haben es hochrangige Ehrengäste vorgezogen, den Trauerfeiern fernzubleiben und stattdessen die ohnehin in Wien akkreditierten Vertreter zu entsenden. Mit dem Fortschreiten der Wartezeit wird daher eine leichte Enttäuschung unter den Wartenden spürbar, die sich in umso heftigerem Drängen bemerkbar macht. Schließlich wird der Umschwung in der allgemeinen Stimmung eindrucksvoll dadurch angezeigt, dass das Drängen der Massen durch die ankommenden Ehrengäste nicht mehr unterbrochen wird. Man sieht ja die Militärs, Botschafter und Minister, die da mit ernster Miene den Korridor entlangschreiten, ohnehin laufend in Wiener Kaffeehäusern.
Gerade als die Wellenbewegungen endgültig zu verebben drohen, ist ein vorsichtiges Hupen im Hintergrund zu vernehmen. Der grau-schwarze Organismus teilt sich auf einer Seite, um einem Automobil, das sich langsam vorwärtskämpft, Platz zu machen. Parallel zur Bewegung des Wagens breitet sich unter den Umstehenden ein Raunen aus, das mit Fortdauer des automobilen Dahinrollens in kräftiges Jubeln übergeht: „Der Thronfolger!“ „Erzherzog Karl!“ Rufe erschallen aus vielen Kehlen. In Windeseile wissen alle am Platz und in den umliegenden Straßen, dass in dem Wagen, der soeben in den Korridor einfährt und auf den Eingang der Hofburgkapelle zuhält, das nunmehrige Thronfolgerpaar sitzt. Kaum kommt der Wagen zum Stehen, eilt einer der unzähligen Soldaten herbei, um die Tür im Fond zu öffnen.
Erzherzog Karl steigt, unmittelbar gefolgt von seiner Gattin, aus dem Automobil. Hochrufe, tosender Jubel und Applaus begleiten die kaiserlichen Hoheiten auf dem kurzen Weg in die Kapelle. Diese ungewöhnliche und ehrenhafte Auflehnung des Thronfolgerpaares gegen die der Wiener Bevölkerung unverständlichen Begräbnisregelungen finden sympathischen und herzlichen Beifall. Der 27-jährige Karl hat sich schon in der Nacht zuvor zum Südbahnhof begeben, um seinem ermordeten Onkel die letzte Ehre zu erweisen, und ist gemeinsam mit seiner Gattin Zita hinter den Särgen zu Fuß bis zur Hofburg marschiert.
Das Thronfolgerpaar bleibt kurz am Eingang zur Kapelle stehen, dreht sich zu den Wienern um und verneigt sich mit großer Dankbarkeit für den so herzlichen Empfang. Kurz darauf wird das Tor zur Kapelle geöffnet und Karl und Zita gehen langsamen Schrittes hinein. Stille umgibt sie und ein kühler Luftzug kommt ihnen entgegen, während sie, die Köpfe stetig von links nach rechts wendend, um mal hüben und mal drüben bekannte Gesichter mit einem höflichen Kopfnicken zu grüßen, andächtig auf die beiden Särge zuschreiten. Erhabenheit und jugendliche Dynamik umgibt die beiden, die in inniger Eintracht vor den beiden Särgen kurz haltmachen, ein Kreuzzeichen über der Brust und eine tiefe Verbeugung vollführen und dann in den Nebenraum der Kapelle gehen, um sich mit dem Rest der kaiserlichen Familie zu treffen.
Nachdem man diesen ersten Auftritt des neuen Thronfolgerpaares in der Kapelle mit angespannter Neugier beobachtet hat, herrscht nun wieder unruhige Stille unter den Trauergästen. Immer wieder zerreißt ein Husten, ein Raunen oder ein Flüstern das Schweigen. Minuten vergehen und langsam beginnt sich Ungeduld breitzumachen. Auch die von draußen in die Kapelle dringenden Stimmen und Geräusche deuten auf ein Anwachsen derselben Gefühlsregung hin, die nun schon dringlich einen Beginn der Trauerzeremonie erhofft. Man rutscht auf den Bänken hin und her, sucht nach Gegenständen in Taschen, lässt die Blicke in der Kapelle kreisen, um nach weiteren interessanten Punkten irgendwo abseits der beiden Särge, die man nun schon in aller Ausführlichkeit betrachtet hat, zu suchen oder schweift mit den Gedanken zu noch anstehenden Verpflichtungen ab.
Die beiden ersten Reihen sind unbesetzt und für das Herrscherhaus reserviert. Dahinter sitzen die Mitglieder der österreichisch-ungarischen Regierung sowie die höchsten militärischen Vertreter der gemeinsamen Armee. Dann reihen sich eng die Angehörigen des österreichischen Adels sowie weitere in- und ausländische Gäste aneinander. Vor dem Altar in der Mitte der Kapelle stehen die beiden Särge, Seite an Seite. Trotz der eingeschränkten Zeremonie ist ein prachtvolles Blumenarrangement aus weißen Rosen am Fußende aufgestellt. „Von Sophie, Max und Ernst“, ist auf der dazugehörigen Schleife zu lesen. Neun mannshohe goldene Kerzenständer stehen zwischen den Särgen und tragen armdicke weiße Kerzen, die mit ihrem Schein ein feierliches Licht in den Raum tragen. Weihrauch liegt in der Luft, man kann ihn bis in die hintersten Ecken der Kapelle riechen.
Plötzlich betritt Fürst Alfred Montenuovo, der Obersthofmeister des Kaisers, durch eine Seitentür die Kapelle und zeigt den wartenden Trauergästen durch sein Erscheinen die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Kaisers an. Mit einer Handbewegung lässt er die Menge sich von ihren Sitzen erheben. Mit prüfendem Blick kontrolliert er die Ausführung seiner Weisung und deutet nach zufriedenstellender Umsetzung einem bereitstehenden Wachmann, die Seitentür zu öffnen. Sekunden später betritt der greise Monarch die Hofburgkapelle, gefolgt von den wichtigsten Familienmitgliedern. Unter ihnen die meisten Erzherzöge, deren Ehegattinnen und Kinder. Die Köpfe der Frauen und Mädchen sind mit Schleiern dicht verhüllt, sodass man nicht in ihre Gesichter blicken kann. Nur anhand des Mannes, an deren Seite sie gehen, ist zu erkennen, um wen es sich handelt. Dann kommen die Kinder des ermordeten Thronfolgerpaares. Alle Augen richten sich auf sie, während sie in die Kapelle geführt und an die ihnen zugewiesenen Plätze gebracht werden. Leopold Berchtold schnürt es die Kehle zu, er denkt an seine Kinder und an die Worte seiner Frau. Zuletzt betreten die Vertreter des Klerus und der Kirche die Kapelle.
Montenuovo, der für die Begräbnismodalitäten verantwortlich zeichnet, kann sich ein zufriedenes Lächeln nur knapp verkneifen, denn nun beginnt der vorletzte Akt jenes Schauspiels, das er kraft seines Amtes in Szene setzen kann. Nach der Ermordung von Franz Ferdinand hat er die Möglichkeit gesehen, alte Rechnungen zu begleichen. Montenuovo, von Ehrgeiz und Selbstsucht zerfressen, hat es nicht verwinden können, dass er bei Franz Ferdinand, dem künftigen Kaiser, nicht das gleiche Ansehen wie bei Franz Joseph hatte. So lässt er nun ein Begräbnis dritter Klasse inszenieren. Schon die Überstellung der Särge von Triest nach Wien hat er mit Widrigkeiten gespickt. Durch geschicktes Manövrieren mit Fahrplänen, Aufenthalten und Fahrtunterbrechungen hat er es fertiggebracht, die Särge am Abend des 2. Juli erst um 22 Uhr in Wien eintreffen zu lassen. Darüber hinaus hat er jegliche Trauerzeremonie während der Überstellung vom Südbahnhof in die Hofburg untersagt. Zuletzt hat er erwirkt, dass nach dem nun beginnenden Requiem die Tore der Hofburgkapelle für die Wiener Bevölkerung nur für eine Stunde geöffnet werden. Franz Joseph setzt sich zuerst unmittelbar vor die Särge, danach folgen zu beiden Seiten die Kinder der Verstorbenen. In der ersten Reihe nehmen ebenfalls das Thronfolgerpaar und die weiteren Erzherzöge Platz. Nachdem alle Familienmitglieder des Hauses Habsburg ihre Plätze eingenommen haben, gibt Montenuovo das Zeichen an die übrigen Trauergäste, sich nun ebenfalls zu setzen. Ohne die Särge eines Blickes zu würdigen, geht er zu seinem Platz und wartet auf den Beginn der Zeremonie. Das katholische Requiem beginnt mit einer Andachtsminute und wird zur Gänze in Latein gesprochen. Nach der Liturgie, der feierlichen Einsegnung durch den Kardinalerzbischof von Wien und den Fürbitten für die Verstorbenen folgt als Abschluss der Totenfeier das Singen der Volkshymne.
Während der gesamten Zeremonie dringt aus der Kapelle nichts nach draußen auf den Platz. Als schließlich mit vielstimmiger Kehle die Kaiserhymne erklingt, stimmen die Menschen vor der Hofburgkapelle begeistert ein und ein riesiger Chor der Eintracht, der Trauer und der Ergriffenheit lässt das „Gott erhalte“ durch die Straßen Wiens schallen.
Nach einer knappen halben Stunde ist das Requiem für Erzherzog Franz Ferdinand und Sophie vorüber. Ebenso schnell, wie sie gekommen sind, verlassen der Kaiser und die Familie die Hofburgkapelle über einen Seiteneingang, der sie direkt in die Hofburg bringt. Zuletzt erscheint wieder Montenuovo und gibt den Seiteneingang für die restlichen Trauergäste frei, die sich dadurch den Trubel vor der Kapelle ersparen. Von vorne beginnend erheben sich nun die geladenen Trauergäste, verneigen sich vor den Särgen und verlassen die Kapelle durch den ihnen zugewiesenen Ausgang. Nach einigen Minuten ist der Kirchenraum menschenleer.
Dann gehen Türen auf und Ordensbrüder erscheinen. Mit hastigen Hangriffen und spürbarer Hektik beginnen sie mit den Vorbereitungen für den Einlass der Bevölkerung. Stühle werden weggeräumt, Bänke verschoben, Absperrungen aufgebaut und die Särge neu positioniert. Schweigend werden die erforderlichen Aktivitäten abgeschlossen, sodass dem kommandierenden Offizier in kürzester Zeit Zeichen gegeben werden kann, die Tore zu öffnen. Genauso geheimnisvoll, wie sie erschienen sind, verlassen die Ordensbrüder die Kapelle wieder, um den nun hereinströmenden Soldaten, die sich, wie vorgesehen, zu einem Spalier aufstellen, Platz zu machen.
Jetzt, nach weiteren Minuten des Wartens, werden endlich die Tore der Hofburgkapelle geöffnet und ein Kommandant der Ehrenwache tritt vor die Menge. Mit lauter Stimme verkündet er die Regelungen und Bestimmungen für den Kondolenzbesuch in der Kapelle und weist seine Soldaten an, die Vorbereitungen für den Einlass zu treffen. Aus dem Hintergrund marschieren Soldaten vor die Kapelle, drängen Menschen zurück, rufen Kommandos, geben Befehle. Die Heranströmenden werden angewiesen, eine Reihe zu bilden und Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Immer wieder erschallen Ordnungsrufe, nur mühsam ist der grau-schwarze Organismus dazu zu bewegen, eine dem Kommandanten passende Ordnung in sein wellenförmiges Andrängen zu bringen. Ein dem Eingangsbereich gegenüberliegendes Tor wird geöffnet, durch das die Besucher wieder aus dem Andachtsraum ins Freie zu treten haben.
***
Während vor der Burgkapelle Tausende auf Einlass hoffen, um innerhalb der ihnen zugewiesenen Stunde die Toten betrauern zu können, sind der Minister des Äußeren und der Chef des Generalstabes im Volksgarten bereits wieder in ein Gespräch vertieft. Sie haben nebeneinander in der Kapelle gesessen und diese, kurz nach Beendigung der Trauerfeier, gemeinsam verlassen. Sie sind durch Gänge, Foyers und Treppen der Hofburg gegangen, haben diese in Richtung Ballhausplatz verlassen und sich dann, kurz entschlossen, in den Volksgarten begeben, um ungestört einen Gedankenaustausch vorzunehmen. Innerhalb der Hofburg sind beide schweigend nebeneinander her geschritten. Sobald sie diese verlassen haben und von Straßenlärm und Menschen umgeben sind, beginnt Leopold Berchtold mit seinem Bericht von seiner gestrigen Audienz beim Kaiser. Der Minister schildert dem Chef des Generalstabes seine Eindrücke und schließt mit den Worten: „Der Kaiser hat sich meinem Standpunkt angeschlossen und verfügt, dass wir eine Rückversicherung aus Berlin einzuholen haben, die uns diplomatisch unterstützen soll. Leider hat sich Seine Majestät weitere Schritte vorbehalten und erteilte keine Auskunft darüber, was nach dem Eintreffen der Stellungnahme aus Berlin zu geschehen habe!“
Conrad gibt daraufhin mit einem nachdenklichen Kopfschütteln zu verstehen, dass er mit dieser Wendung nicht einverstanden ist. Eine Weile geht man dann wieder schweigend nebeneinander her und stellt sich im Volksgarten auf Wunsch Berchtolds in den Schatten einer großen Eibe. „Herr Minister, wie schon in unseren letzten Unterredungen betont“, Conrad beobachtet, wie Berchtold seinen Zylinder vom Kopf nimmt und den Gehstock über den linken Arm hängt, „weise ich nochmals darauf hin, dass die Zeit gegen uns arbeitet. Der Waffengang gegen Serbien ist unausweichlich für die Monarchie. Jede Verzögerung kann uns teuer zu stehen kommen.“ „Können Sie, Herr General, garantieren, dass Russland ruhig bleibt?“ Berchtold wartet die Antwort nicht ab, denn Conrad kann das selbstverständlich nicht. „Nein, das können Sie nicht und auch sonst kann es niemand! Wir haben daher der Entscheidung Seiner Majestät zu entsprechen und die Stellungnahme aus Berlin abzuwarten. Ich füge hinzu, dass ich diese Auffassung teile.“ Berchtold, ungeduldig geworden, erhebt erstmals gegenüber Conrad seine Stimme. Er muss sich jedoch eingestehen, dass er in den Unterredungen mit Conrad, Tisza und dem Kaiser keinen einheitlichen Standpunkt vertritt, sondern jeweils in abgeschwächter Form in die eine oder andere Richtung pendelt. Er hat seine Linie noch nicht gefunden und setzt daher viel auf die Meldung aus Berlin und den von dort erhofften Rückhalt. „Die Unterlagen sind vorbereitet und fertig und mit dem für diese heikle Mission vorgesehenen Mann habe ich bereits gesprochen. Er wird die Aufgabe übernehmen.“ Conrad blickt fragend auf Berchtold. Der General, zehn Jahre älter als Berchtold, lässt sich jedoch nicht dazu verleiten, diesen Blick mit Worten zu ergänzen. Berchtold erahnt die Bedeutung von Conrads Blick, hat aber keine Lust auf rhetorische Spielchen, sondern klärt ihn kurzerhand über seine Personalentscheidung auf: „Mein Sektionschef Alexander Hoyos bricht morgen nach Berlin auf!“
Conrad salutiert zufrieden lächelnd und verlässt mit der Bitte um ehestmögliche Mitteilung über diese Berliner Mission den Minister des Äußeren. Leopold Berchtold bleibt noch eine kurze Weile im Park stehen und blickt Conrad nach, wie dieser den Kieselwegen entlangmarschiert und alsbald hinter einer Hecke verschwindet. Er weiß, dass er sich mit seiner Wahl, Sektionschef Hoyos nach Berlin zu entsenden, einen kleinen Vorteil im Ringen um weitere Entscheidungen des Kaisers gegenüber Tisza verschafft hat. Hoyos ist innerhalb seines Ministeriums ein Verfechter der Präventivschlaggruppe und, gemeinsam mit Graf Forgách, der dieser Gruppe ebenfalls zuzurechnen ist, der Verfasser der Denkschrift, die nun in Berlin vorgelegt werden soll. Dieses Memorandum spiegelt in großen Zügen zwar auch seine, Berchtolds, Ansichten und jene Tiszas wider, ist jedoch nach dem Attentat von den beiden Ministeriumsbeamten mit schärferen Schlussabsätzen in Bezug auf eine raschere Lösung des serbischen Problems ergänzt worden. Diese Empfehlung zur raschen Problemlösung deckt sich vollkommen mit den Ansichten des Chefs des Generalstabes, der sich genau aus diesem Grund eines seiner seltenen Lächeln hat entlocken lassen.
Leopold Berchtold angelt nach einem Taschentuch in seiner Rocktasche, blickt in den wolkenlosen Himmel und wischt sich Schweißtropfen von der Stirn. Er setzt seinen Zylinder wieder auf, nimmt seinen Stock vom Arm und wendet sich in Richtung Ballhausplatz. Während der Minister des Äußeren langsam seinem Büro entgegenschlendert, drängen sich in der heißen Sommersonne die letzten Trauernden in die Hofburgkapelle, bevor diese unter wütenden Protesten der zurückgedrängten Bevölkerung verschlossen wird.
***
Jeden Abend bringen die Postbediensteten des Monarchen die kaiserlichen Depeschen und weitere Post von Potsdam nach Berlin in die Reichskanzlei. Dort werden diese an den Übergabestellen von Beamten der Reichskanzlei in Empfang genommen und im Hause an die vorgesehenen Adressaten verteilt. Die Post für den Kanzler des Deutschen Reiches, Theobald von Bethmann Hollweg, wandert, so wie in vielen anderen europäischen Hauptstädten auch, über unzählige Schreibtische in vielen Büros, bevor sie bei ihm ankommt. Bis dahin wird die Post von Mitarbeitern geöffnet, mit Eingangsstempel und Datum versehen, vorsortiert und zuletzt einem engen Mitarbeiter im Vorzimmer Bethmann Hollwegs zu dessen weiterer Bearbeitung übergeben.
„Herr Reichskanzler, in der Post von Seiner Majestät ist heute auch der neueste Bericht von Botschafter Tschirschky. Ich denke, Sie sollten sich das sofort ansehen.“ Der Mitarbeiter Bethmann Hollwegs hat die Tür geöffnet und nur seinen Kopf hereingesteckt, während er diese Meldung weitergibt. Bethmann Hollweg ist erst heute Nachmittag von einem dringend notwendigen Erholungsurlaub ins Büro zurückgekehrt und blickt von seinen Unterlagen auf. Ein wenig irritiert steht er auf und folgt seinem Mitarbeiter zu dessen Schreibtisch. Auf einem hohen Stapel unbearbeiteter Poststücke liegt an oberster Stelle der Bericht von Leonhard Tschirschky und schon auf den ersten Blick sind die unzähligen Anmerkungen des Kaisers deutlich zu sehen. „Gibt er wieder einmal was zum Besten“, denkt Bethmann Hollweg, greift nach dem Schriftstück und überfliegt die kaiserlichen Notizen. Überrascht von der Schärfe und Direktheit der Ausdrucksweise gibt er das Schreiben seinem Mitarbeiter zurück und weist ihn an, Tschirschky davon zu unterrichten. Dieser solle von Stund’ an seine Haltung gegenüber Österreich ändern und seine bisher gezeigte Zurückhaltung und Rücksichtnahme ablegen. „Gemäß den Wünschen des Kaisers“, Bethmann Hollweg hebt den Bericht nochmals bedeutungsvoll in die Höhe und schwenkt ihn einige Male hin und her, „lautet ab jetzt unser neues Programm gegenüber Österreich: Rasche, entschiedene und wirksame Tat!“ Er legt das Schreiben wieder zurück auf den Schreibtisch seines Mitarbeiters, geht in sein Büro und schließt hinter sich die Tür. „Sehr gut, das beginnt ja ausgezeichnet“, flüstert er leise in sich hinein und spürt, wie eine wärmende Zufriedenheit in ihm aufsteigt.