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SAMSTAG, 4. JULI

Heftiger Gewitterregen prasselt an die Glasscheibe des Kommandostands des Fährschiffes. Immer wieder donnert und blitzt es aus einem schwarzen, wolkenverhangenen Himmel. Die Donau wird durch den böigen und stürmischen Wind aufgepeitscht und fortwährend schlagen kräftige Wellen an die Backbordseite des kleinen Dampfers. Jetzt, in der Mitte des Flusses, ist die gefährlichste Passage zu überwinden, denn hier sind die Strömungen am stärksten, erst recht in einer Gewitternacht wie der heutigen. Ächzend und schnaufend kämpft sich das Schiff durch die Gischt vorwärts, mal aufwärtsgehoben, mal seitwärtsgestoßen. Wieder zeichnet ein greller Blitz unwirkliche Schatten. Die Helfer auf der Fähre sind triefend nass und haben alle Hände voll zu tun, die Pferde an Deck ruhig zu halten. Wären nicht die Blitze, der Kapitän könnte den Bug seines Schiffes nicht erkennen. Gegen Mitternacht ist dieses Gewitter aufgezogen und hat begonnen, sich just in dem Moment in aller Heftigkeit zu entladen, als der Trauerzug in Pöchlarn am Bahnhof einlangt.

Nachdem Franz Ferdinand schon zu Lebzeiten verfügt hat, dass die letzte Ruhestätte seiner Familie das Schloss Artstetten sein soll, hat dies Montenuovo Anlass gegeben, auch hier noch lenkend einzugreifen. Den Auszug der Särge und den Trauerzug zum Westbahnhof hat er für spät abends angesetzt, um eine geringe Anteilnahme in der Bevölkerung zu erreichen. Daher dürfen entsprechend seinen Anweisungen die Särge erst um 22 Uhr die Hofburg in Richtung Westbahnhof verlassen. Wieder ist nur die kleinstmögliche Eskorte vorgesehen und wieder hat man keine Ehrenbezeugungen für die Toten aufgeboten. Trotzdem wird der Trauerzug von den Mannschaften der Wiener Hausregimenter und von Hunderten Angehörigen der hochadeligen Familien Wiens begleitet. Auch am Bahnhof ist entgegen den schäbigen Verfügungen des Obersthofmeisters ein großes Aufgebot habsburgischer Familienmitglieder eingetroffen, um den Zug zu verabschieden. Allen voran hat es sich der Thronfolger Erzherzog Karl nicht nehmen lassen, die Särge bis hierher zu begleiten.

Jetzt sind sie an Bord des kleinen Fährschiffes und schlingern im ärgsten Gewittersturm dem gegenüberliegenden Ufer entgegen. Endlich kann der Kapitän die zwei Lichtpunkte ausmachen, die die Landungsstelle anzeigen. Unter Aufbietung größter Kraftanstrengung bringt er das Schiff auf Kurs und ringt mit den Naturgewalten um jeden zurückgelegten Meter auf dem Fluss. Schweiß tropft ihm von der Stirn, als er beinahe unter Volllast der Maschine den Pier erreicht. Unter diesen Bedingungen sind ein sanftes Zurückfahren der Maschine und ein damit einhergehendes sanftes Hingleiten zum Steg nicht möglich. „Hoffentlich gelingt es den Männern, die Haltetaue gleich zu fassen“, denkt der Kapitän, als er beim ersten Versuch, den Pier zu erreichen, die Maschine drosselt. Mit einem dumpfen Schlag, der das Schiff erzittern lässt, schlägt die Fähre steuerbord an den hölzernen Landungssteg. Die Pferde und die Leichenwägen rutschen ein kurzes Stück seitlich weg, kommen aber sofort wieder zum Stillstand. Einige der Begleitpersonen stürzen, aber glücklicherweise gelingt es den Matrosen und den Helfern an Land, die Fähre rasch zu stabilisieren. Als der Kapitän von unten die Meldung bekommt, dass man weitestgehend gut vertäut am Landungssteg liege, atmet er tief aus und dankt Gott, dass er die heikle Ladung sicher aus seinem Verantwortungsbereich entlassen kann.

Es ist kurz nach drei Uhr früh an diesem 4. Juli, als die Begleitmannschaft mit dem Anlanden der Leichenwägen beginnt. Die Männer sind nass bis auf die Haut und müde von den Anstrengungen der Nacht. Viele sind seit den frühen Morgenstunden unterwegs und jetzt steht ihnen der schwierigste und anstrengendste Teil des Weges noch bevor. Vom Schiff bis zum Schloss Artstetten gilt es, an manchen Stellen einen unbefestigten und steilen Karrenweg zu befahren, der schon am Tag und bei schönem Wetter eine Herausforderung für so manchen Fuhrmann darstellt. Zaghaft beginnt man mit der Abfahrt über die Landungsbrücke auf den Steg, das alte Holz quietscht, knarrt unter der Belastung und ist rutschig wie Schmierseife. Vorsichtig bewegen sich die Pferde, als ein weiterer gewaltiger Blitz und kurz darauf ein ohrenbetäubender Donnerschlag allen ins Gebein fahren. Die Pferde des ersten Wagens scheuen, schlagen aus. Kurz bevor sie außer Kontrolle geraten, können sie von den Begleitern gerade noch im Zaum gehalten werden. Da gellt ein Schrei durch die Nacht und übertönt beinahe die Urgewalten des Gewitters. Alle blicken auf und sehen, wie der Sarg auf dem Wagen zu rutschen beginnt und in die Donau zu stürzen droht. In letzter Sekunde gelingt es einem der anwesenden Hellebarden der Trauer-Eskorte, den Sarg mit einem der Schiffshaken zum Stehen zu bringen. „Nur runter von meinem Schiff, so schnell wie möglich“, brüllt der Kapitän, der die Szene hilflos auf seiner Brücke mit ansehen muss. Mit vereinten Kräften gelingt es schließlich, die beiden Wagen vom Schiff auf das befestigte Ufer zu bringen. Es regnet nach wie vor in Strömen, sodass die Männer immer absetzen müssen, um sich das Wasser aus den Augen zu wischen.

Jetzt haben sie das beschwerliche Teilstück vom Flussufer über die Böschung hinauf zur Straße vor sich, das bei diesen Wetterbedingungen der Mannschaft die letzten Kraftreserven abverlangt. Als die Männer die beiden Wagen nach oben hieven und die Straße erreichen, haben die Matrosen auch die Fähre fest vertäut und ziehen sich in die Kajüte zurück, um für die Rückfahrt besseres Wetter abzuwarten. Jene an den Hofleichenwägen haben indes keine Möglichkeit des Rückzugs in ein trockenes Lager, sondern kämpfen sich tapfer durch die Sturmböen. Mit laut schmatzenden Lauten klatschen die großen, schweren Tropfen auf die Wagen, sammeln sich auf den Dächern, fließen als breite Rinnsale entlang der Dachränder ab und bilden einen unaufhörlichen, fingerdicken Wasserstrahl, der, von Sturmböen bald nach links, bald nach rechts weggedrückt, auf die Erde prasselt.

Endlich lässt der Regen nach und auch die Sicht wird besser. Die schwierigen Passagen des Weges hat man mittlerweile glücklich gemeistert. Am nebelverhangenen Horizont zeigt sich das erste Grau des neuen Tages und vor sich sehen die Männer die letzte Steigung, die zwischen ihnen und der Hochebene von Artstetten liegt. Mannschaft und Pferde sind müde, aber der verantwortliche Kommandant treibt sie immer wieder an. Gespenstische Nebelschleier formieren sich ab und an rechts und links des Weges und begleiten den Trauerzug ein Stück, bevor sie sich auflösen und wieder verschwinden. Nachdem auch der letzte Anstieg überwunden ist, öffnet sich der Wald und gibt den Blick auf die vor ihnen liegende Ebene frei. Der Trauerzug mit den beiden Hofleichenwagen zieht vorbei an grünen, mit großen, alten Obstbäumen reich bepflanzten Wiesen. Große Seen haben sich zwischen den Bäumen gebildet und es wird sicherlich ein paar Tage dauern, bis der Boden die Nässe des Regens aufnehmen und weiter in die Tiefe leiten kann. Mit zunehmender Helligkeit können die Männer Einzelheiten in der Landschaft erkennen, an der sie vorbeiziehen. Heuschober sind in der Ferne auszumachen und im Hintergrund ist bereits die Silhouette der Pfarrkirche von Artstetten zu sehen. Abgesehen vom Klappern der Hufe und den schlurfenden Schritten ist es totenstill. Mühsam gehen Mensch und Tier die letzten Schritte des Weges neben den Särgen einher. Jetzt zeigen sich bereits die ersten Häuser des Dorfes, deren Dächer rot durch die Nebelschwaden und das Laub leuchten. Ein paar Schritte weiter sehen sie das Schloss Artstetten, das Ziel der Mühen.

Kurze Zeit darauf kommt der Trauerzug in den frühen Morgenstunden völlig erschöpft in Artstetten an. Die Särge werden von der kleinen Dorfgemeinschaft bereits erwartet und für die in wenigen Stunden angesetzte Trauerzeremonie in die Kirche gebracht. Männer des Dorfes spannen die Pferde aus und entlassen sie auf die nächstgelegene Weide, während die Begleitmannschaft sich im einzigen Gasthof des Ortes wärmen und die Kleider trocknen kann. Auch für eine heiße Mahlzeit ist gesorgt. Für ausgiebige Ruhe ist jedoch keine Zeit. Zum letzten Mal werden nun für das ermordete Thronfolgerpaar Trauerfeierlichkeiten abgehalten. Nur die engsten Familienangehörigen sowie Erzherzog Karl und seine Gemahlin Zita kommen nach Artstetten, wo die Särge nach der Messe von der Dorfkirche in die vorbereitete Familiengruft unter dem Schloss gebracht werden. Begleitet werden die Särge dahin nur von jenen, die genau wissen, was sie an Erzherzog Franz Ferdinand verloren haben.

***

„Bitte einsteigen und Türen schließen. Der Zug fährt ab“, hallt es metallisch und nur schwer verständlich aus den Lautsprechern. Im hinteren Zugteil, wo sich die Schlafwagen befinden, besteigt ein korpulenter Mann einen Waggon. Suchend blickt er auf jedes Türschild, an dem er vorbeikommt, und vergleicht es mit den Daten in seinem Gedächtnis. In der Mitte des Waggons wird er fündig. Den Koffer und die ungewöhnlich umfangreiche Aktentasche vor sich in das Abteil schiebend, drückt er sich hinterher. Sorgfältig verschließt er die Tür, und als der Zug mit einer ruckenden Bewegung langsam abfährt, hebt der Mann gerade den Koffer in das Gepäcksnetz über der Salonliege. Er bleibt noch eine Weile stehen, zieht die Taschenuhr an der silbernen Kette aus der Jacketttasche und blickt lange darauf. „Ausgesprochen pünktlich …“, denkt er und beobachtet, wie der Sekundenzeiger das Ziffernblatt umrundet. Das Signalhorn, das durch energisches Tuten die Ausfahrt aus dem Bahnhofsgelände und damit einhergehend eine höhere Fahrgeschwindigkeit ankündigt, reißt ihn aus seinen Gedanken. Der 55-jährige Diplomat setzt sich in Fahrtrichtung auf einen Platz und sieht die Vororte Wiens vorbeiziehen. Die umliegenden Hügel sind bereits von der untergehenden Sonne in rötliches Licht getaucht und kündigen eine angenehme, warme Nacht an.

Zu Mittag hat ihn der Minister des Äußeren zum wiederholten Male in sein Büro zitiert, um mit ihm die Wichtigkeit der bevorstehenden Mission zu besprechen. Er hat Instruktionen für sein Verhalten, Informationen zu seinen Gesprächspartnern und sogar Leitfäden für mögliche Gesprächsinhalte bekommen. Man hat ihn mehrmals mit Situationen und Personen konfrontiert und seine Reaktionen und Antworten geschult. Nichts soll dem Zufall überlassen werden, das Ergebnis seiner Mission ist unzweifelhaft von entscheidender Bedeutung für die Monarchie. „Nicht nur für die Monarchie, auch für den Minister!“ Er weiß, dass mit seiner Mission auch die berufliche Zukunft von Graf Berchtold auf dem Spiel steht. Viel hängt von der Nachricht ab, die er nach den Unterredungen in Berlin nach Wien überbringen kann.

Kurz vor der Abreise hat man ihm noch jene beiden Dokumente übergeben, die im Rahmen seiner Kontakte in Berlin an den deutschen Kaiser auszuhändigen sind. Zuerst hat es geheißen, dass nicht er, sondern der k. u. k. Botschafter in Berlin, Ladislaus Szögyény-Marich, den Besuch beim Kaiser wahrnehmen wird. Dann hat Berchtold aber anders entschieden. Zum einen, weil Szögyény schon sehr alt ist und unmittelbar vor der Ablöse steht, und zum anderen, weil Berchtold davon ausgehen muss, dass der österreichische Botschafter in Berlin als Ungar bestimmt von Tisza bereits Instruktionen erhalten hat. Berchtold ist jedoch bestrebt, in Berlin ein Signal für die allgemeine Stimmungslage in Wien zu setzen, die nun auf Entschlossenheit zur Lösung des serbischen Problems hinzielt.

Jetzt im Zug nach Berlin erinnert sich der Gesandte wieder daran, dass man ihn mit einem herzlichen Händedruck verabschiedet und nochmals angewiesen hat, ehebaldigst über Ergebnisse der Unterredungen zu telegrafieren. Danach ist er nach Hause gegangen, hat seinen Koffer gepackt und ist zum Bahnhof aufgebrochen. Gerade noch rechtzeitig hat er den Zug nach Berlin um 18:30 Uhr erreicht. Das Abteil ist sehr geräumig und überraschend sauber. Alexander Hoyos nimmt diese beiden Annehmlichkeiten freudig zur Kenntnis, während er das Bett herunterklappt und dieses für die Nacht zurechtmacht. Fein säuberlich faltet er seine Kleidung und legt sie auf einen freien Sitzplatz. In seinem Schlafanzug spiegelt er sich im Fenster des Abteils vor der rasend vorbeiziehenden Landschaft. Mühsam klettert er die Sprossenleiter nach oben und rollt sich auf das Bett, das kräftig zu knarren beginnt. Er legt sich umständlich zurecht, zieht die Decke bis zum Hals und versucht noch einmal, mit angestrengtem Blick aus dem Fenster zu erraten, wo sich der Zug gerade befindet. Bevor er noch Klarheit über die Position des Zuges hat, lässt jedoch das monotone Fahrtgeräusch seine Augen zufallen. Minuten später, Alexander Hoyos schläft bereits tief und fest, passiert der Zug den Bahnhof von Pöchlarn.

SONNTAG, 5. JULI

Die Nacht im Zug ist ruhig verlaufen, nur einmal hat der Schaffner seinen Schlaf gestört und einen außerplanmäßigen Halt bei Dresden angekündigt. Man müsse bei einem Aggregat der Lokomotive ein Ventil tauschen, was jedoch innerhalb von Minuten erledigt sein würde. Noch schlaftrunken seinen Zeitplan im Kopf durchgehend, hat er sich, mit einem für den Schaffner wohl unverständlichen „Danke für die Information“-Gebrummel wieder umgedreht und ist alsbald durch das charakteristische Tocktock, Tock-tock der Eisenbahn wieder eingeschlafen. Eine halbe Stunde vor Berlin wird er, wie vereinbart, geweckt, kleidet sich an und lässt sich das Frühstück in das Abteil bringen.

Als er schließlich in Berlin aus dem Zug steigt, fühlt er sich bestens vorbereitet und zuversichtlich, die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen zu können. Vor dem Bahnhof ist er fasziniert von dem Getümmel, dem geschäftigen Treiben in den Straßen, den unglaublich vielen Automobilen und den allerorts erkennbaren Anzeichen einer prosperierenden, modernen europäischen Metropole. Einige Minuten bleibt er so stehen und erliegt ganz der Anziehungskraft des pulsierenden Treibens. „So stelle ich mir die Moderne des 20. Jahrhunderts vor“, denkt er bei sich. Kurz darauf wird er vom Mitarbeiter der österreichischen Botschaft entdeckt, der ihn im Automobil zum Botschaftsgebäude bringt. Nachdem er kurz beim österreichischen Botschafter vorstellig geworden ist, um diesen noch mündlich in die bevorstehenden Gespräche einzuweihen, der durchgeführte schriftliche Telegrammwechsel wird in Zeiten der unausgesetzten Spionagegefahr nur auf die nötigsten Formalismen beschränkt, deckt er sich mit den notwendigen und neuesten Informationen über seine Kontaktpersonen, die er in den nächsten Tagen treffen wird, ein.

Hoyos hat es eilig, denn er wird bereits zum Mittagessen vom deutschen Kaiser erwartet. Der Botschaftsangehörige, der ihn vom Bahnhof abholt, begleitet ihn zum neuen Palais in Berlin und setzt ihn pünktlich vor den Toren des Amtssitzes von Kaiser Wilhelm ab. Während Alexander Hoyos mit großen Augen das imposante Stadtschloss bewundert, erinnert er sich beruhigt daran, dass er seine Unterredungen für den heutigen Tag wieder und wieder im Geiste durchgegangen ist.

Hoyos blickt dem Mitarbeiter der Botschaft nach und wartet, bis dieser einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe gefunden hat, dann wendet er sich dem monumentalen Eingangstor des Stadtschlosses zu. Hoch aufragende, beeindruckende Steinsäulen umrahmen ein prächtig glänzendes schwarzes Gittertor, das an seinem oberen Ende mit dem prunkvollen Wappen der Hohenzollern gekrönt wird. Das große Tor, das nur dann geöffnet wird, wenn für Automobile und Lastkraftfahrzeuge die Einfahrt frei gemacht wird, gestattet einen eindrucksvollen Blick auf das Anwesen des deutschen Kaisers. Eine breite und mit strengen, geradlinigen Mustern gepflasterte Straße führt vom Tor geradewegs zum Haupteingang des Schlosses. Links und rechts der Straße sind üppige Blumenrabatten und Beete angelegt, die von kurz geschnittenen Buchsbaumspalieren eingesäumt sind. Im Hintergrund erkennt Alexander Hoyos die ausgedehnten Parkanlagen.

Für jene Gäste, die zu Fuß zum Palast kommen, gibt es an beiden Seiten des großen Tores kleinere Eingangstüren. Zielsicher und ein wenig ehrfurchtsvoll steuert der Österreicher auf den Eingang zu. Nach Aufforderung des Wachhabenden meldet sich Hoyos als Gast des deutschen Kaisers an. Der diensthabende Offizier blättert kritisch in seinen Unterlagen, um dann bei den Einträgen zum heutigen Tag mit den behandschuhten Fingern die Seite entlang nach unten zu fahren. Beim Besuchseintrag für die Mittagsstunde hält sein Finger abrupt an. Der Offizier beugt sich nach vorn um die ausgesprochen klein geschriebenen Buchstaben lesen zu können. „Sektionschef Alexander Hoyos, Wien“, liest der Mann vor. Er richtet sich wieder auf und wirft einen prüfenden Blick auf den Gast: „Ich bitte Sie, mir Ihre Papiere vorzulegen.“ Nachdem sich Hoyos mit seinem Diplomatenpass legitimiert hat, ruft der wachhabende Offizier einen Chargen herein und erteilt den Auftrag, den Gast aus Österreich ins Palais zu Kaiser Wilhelm zu geleiten. Kurz darauf verlassen beide die Torwache durch eine hintere Tür und schreiten dem weiträumigen Vorplatz des Palais entgegen.

Hoyos fällt überall Personal ins Auge, das mit vielerlei Aufgaben beschäftigt ist. Auch Angehörige der Armee in unterschiedlichen Uniformen sind anwesend und wirken allesamt ausgesprochen beschäftigt sowie höchst konzentriert in der Ausführung ihrer Aufgaben. Während die beiden flinken Schrittes auf den imposanten Haupteingang des Schlosses zusteuern, bemerkt der österreichische Delegierte mit Genugtuung, dass man von ihm keine Notiz nimmt. Vorbei an Beeten mit üppigem Blumenschmuck und saftig grünen Rasenanlagen erreichen die beiden den Haupteingang, der ihnen vom zuständigen Personal so zeitgerecht geöffnet wird, dass sie für das Eintreten nicht stehen zu bleiben brauchen. Über eine prachtvolle weiße Marmortreppe geht es in den ersten Stock, dann nach links und einen schier endlosen Gang mit unzähligen Türen an beiden Seiten entlang. Unvermittelt schwenkt der Begleiter alsbald in einen Seitengang und bleibt kurz darauf vor einer eindrucksvollen Eichentür mit schweren Beschlägen stehen. „Bitte warten Sie hier einen Moment, ich werde Sie unverzüglich bei Seiner Majestät anmelden.“ Mit diesen Worten öffnet der Charge die Tür und verschließt diese von der anderen Seite, noch bevor Hoyos einen Blick hineinwerfen kann. Das Geräusch der zugeworfenen Tür hallt den Gang entlang und entschwindet nur langsam Hoyos‘ Ohren.

Kein Mensch ist zu sehen. Hoyos lauscht angestrengt. Von der anderen Seite der Türe sind Schritte zu hören, die langsam näher kommen und sich wieder entfernen. Die kurze Wartezeit nützend, ruft sich Sektionschef Hoyos, während er seine Tasche mit den Unterlagen auf den Boden stellt, nochmals seinen Auftrag in Erinnerung. In den bevorstehenden Zusammentreffen, heute mit dem deutschen Kaiser und morgen mit dem Reichskanzler, gilt es, jene Zusicherungen einzuholen, die nach Ansicht seines Chefs, Minister Berchtold, die Voraussetzung darstellen, um es überhaupt zu einem Vergeltungsschlag gegen Serbien kommen zu lassen. Zu seiner offiziellen Mission gehört auch das Überbringen der Denkschrift und des Memorandums. In Ergänzung dazu soll er in Berlin die Lage der Monarchie am Balkan mündlich ausführlich hervorheben. Im Angesicht der Tragödie von Sarajevo habe er mit größtmöglicher Bestimmtheit die Verpflichtung für Österreich-Ungarn herzuleiten, den von der serbischen Aggression aufgezwungenen Existenzkampf nunmehr sofort aufnehmen zu müssen. Um für dieses Vorhaben Rückendeckung gegenüber den Mächten zu erhalten, habe er weiters das Deutsche Reich um diplomatische Unterstützung vor allem gegenüber Italien und Rumänien, die beide höchstwahrscheinlich Kompensationsforderungen an Österreich stellen werden, zu ersuchen und unbedingt zu erhalten. Es ist natürlich kein Zufall, dass Berchtold gerade ihn für diese Mission ausgewählt hat, denn er ist einer jener engen Berater im Ministerium, die für eine harte und kraftvolle Vorgehensweise gegen Serbien eintreten. Für Hoyos sollte es daher ein Leichtes sein, in den geeigneten Momenten der bevorstehenden Verhandlungen die nötige Selbstsicherheit und die richtigen Argumente für die österreichische Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit vorzubringen.

Hoyos zupft an seinem Jackett und blickt prüfend an sich herunter. Der Schlips sitzt ordentlich, die Hose ist faltenfrei und sauber, die Schuhe glänzen. Dann zieht er beide Hemdsärmel zurecht, sodass die Manschettenknöpfe deutlich sichtbar unter den Jackettärmeln hervorblinken. Seine Gedanken kreisen noch um etwas anderes, das ihm mitgeteilt worden ist. Neben den Dokumenten und seinen offiziellen Aufträgen hat ihm Berchtold kurz vor der Abreise unter vier Augen noch eine mündliche Instruktion mitgegeben. Er hat genickt, als ihn der Minister einleitend fragte, ob er wisse, was auf dem Spiel stünde. Dann hat Berchtold hinzugefügt: „Das Ergebnis der vorgestrigen Audienz bei Seiner Majestät hat mich genau zwischen die beiden gegensätzlichen Standpunkte für unsere mögliche Reaktion auf das Attentat in Sarajevo gedrückt: Im einen Lager finden wir Conrad, Krobatin, Potiorek, Forgách und andere, die auf die schnelle und militärische Lösung drängen, und auf der anderen Seite steht Graf Tisza, der mit seinem politischen Schwergewicht alleine das Gegenstück darstellt und den Kaiser zurückhält.“ Hoyos erinnert sich, wie Berchtold bei diesen Worten den Blick nach unten richtete und ernüchtert den Kopf schüttelte. Dann hat der Minister den Kopf wieder gehoben und ihm mit ungewohnter Härte in der Stimme zugeraunt: „Wir beide wissen, dass Sie der Gruppe um Conrad zuzuzählen sind, und ich tendiere ebenfalls in diese Richtung. Aber ohne einen Rückhalt aus Berlin können Sie nicht auf mich zählen. Dann wird es keinen Feldzug gegen Serbien geben. Ist das klar, Herr Sektionschef?“ Wieder hat Hoyos genickt. „Wenn Sie mich also auf Ihrer Seite wissen wollen, um beim Kaiser das nötige politische Gewicht gegen Tisza zustande zu bringen, bringen Sie mir eine uneingeschränkte Unterstützungszusage aus Berlin.“

Hoyos ist über diese ungewöhnliche Offenheit und Direktheit des Ministers noch immer erstaunt. Wieder greift er nach seinem Schlips, um diesen ein weiteres Mal zurechtzurücken. In diesem Moment vernimmt Hoyos wieder Schritte. Dieses Mal wird die Tür geöffnet und der Begleiter bittet ihn weiterzukommen. Erneut folgen sie einem Gang, passieren etliche kleinere Zimmer und erreichen endlich den Wartesalon des Kaisers. Gemeinsam mit Mitarbeitern und weiteren Gästen wird Alexander Hoyos in das kaiserliche Speisezimmer geführt und an einen Stuhl am festlich gedeckten Esstisch verwiesen. Bedächtig geht Hoyos auf diesen zu und bleibt dahinter stehen. Sekunden später erscheint Wilhelm II., deutscher Kaiser und König von Preußen, mit energischem Schritt, gefolgt von einer Handvoll Offizieren. Nacheinander begrüßt der Kaiser seine Gäste, blickt jedem dabei fest in die Augen und wechselt einige freundliche Worte. Auch den österreichischen Gast begrüßt er auf diese Weise herzlich, seine behinderte linke Hand stets hinter dem Rücken haltend. Nach einigen allgemeinen Bemerkungen zur Fahrt und dem Befinden bittet der Kaiser zu Tisch und setzt sich. Hoyos und die anderen Gäste nehmen nach den höfischen Regeln erst Platz, nachdem der Kaiser das Zeichen dafür gegeben hat.

Kaum, dass die Plätze eingenommen sind, kommt Wilhelm zur Sache und wendet sich an den Gast aus Wien: „Sie haben Dokumente für mich mitgebracht?“ „Jawohl, Euer Majestät“, entgegnet Hoyos und fährt, nachdem der Kaiser einen fragend Blick des Wieners aufmunternd beantwortet hat, fort: „Es handelt sich hierbei zum einen um ein Memorandum, welches die gegenwärtige politische Lage der Donaumonarchie beschreibt und mit den Erkenntnissen aus den jüngsten schrecklichen Vorfällen in Sarajevo ergänzt wurde, und zum anderen um ein Allerhöchstes Handschreiben Seiner Majestät Kaiser Franz Josephs, welches direkt an Euer Majestät gerichtet ist.“ Hoyos öffnet seine Aktentasche, zieht die beiden Schriftstücke heraus und reicht sie dem ihm nächststehenden Adjutanten. Dieser übernimmt sie mit einem Kopfnicken, geht um den Tisch herum und übergibt sie mit einer tiefen Verbeugung dem Kaiser. Ohne zu zögern öffnet Wilhelm die Umschläge beider Dokumente und beginnt, während die Dienerschaft die Speisen ins Zimmer trägt, diese hastig zu überfliegen. Servierwägen werden gebracht, wobei die darauf befindlichen Speisen durch glänzende Abdeckungen den Blicken der Gäste entzogen sind. Anderes Personal trägt Schalen mit heißem Wasser an die Tische und stellt diese jeweils zwischen zwei der Gäste. Die Vorbereitungen enden damit, dass hinter jedem Gast ein Diener mit einem Tablett wartet. Auf ein Zeichen Wilhelms treten die Diener in vollkommener Bewegungsharmonie an den Tisch und setzen die Speisenteller unmittelbar vor den Gästen ab. Zuletzt wird die Abdeckung auf den Tellern entfernt und der Blick auf die Speisen freigegeben. Sofort steigt der warme Duft der herrlichen Vielfalt den erwartungsvoll am Tisch Sitzenden in die Nasen.

Währenddessen ist Wilhelm aufgestanden und hat seine Gäste ermahnt, sich nicht von den Köstlichkeiten abhalten zu lassen, während er seine Aufmerksamkeit völlig auf die Dokumente zu richten gedenke. Jetzt geht er mit kleinen, vorsichtigen Schritten im Hintergrund des Speisesaals auf und ab und vertieft sich vollständig auf die beiden Schriftstücke, die er kontinuierlich umblätternd mit großem Interesse liest. Ab und an bleibt er stehen, um sich besser auf die Formulierungen konzentrieren zu können. Hoyos, ein wenig orientierungslos ob dieser unorthodoxen Vorgehensweise, blickt Hilfe suchend um sich. Als er sieht, dass der höchstrangige Offizier unter den Anwesenden ihm aufmunternd zunickt, ergreift Hoyos das Besteck und beginnt mit der Mahlzeit. Kaiser Wilhelm verliert er dabei keinen Moment aus den Augen. Wilhelm liest zuerst das Allerhöchste Handschreiben, dann das Memorandum, wie Hoyos bemerkt. Nachdem Wilhelm das Studium der Unterlagen beendet hat, bleibt er stehen, dreht sich zu Hoyos um, der augenblicklich aufspringt, und winkt ihn zu sich. Die Serviette auf den Tisch legend und hektisch den Stuhl nach hinten rückend, eilt Hoyos auf den Monarchen zu. „Ich“, beginnt der Kaiser und dreht sich mit dem Österreicher vom Tisch weg, „bin über die Inhalte der beiden Dokumente nicht überrascht und habe Mir aufgrund des schrecklichen Ereignisses, welches meinen lieb gewonnenen Freund Franz Ferdinand auf so entsetzliche Weise aus dem Leben riss, eine Reaktion auf das Attentat in dieser Art erhofft und erwartet. Richten Sie Seiner Majestät Kaiser Franz Joseph aus, dass Ich die Donaumonarchie unterstützen werde, auch“, Wilhelm hält inne und starrt Hoyos mit leicht zugekniffenen Augen an, „wenn es zu einem Ernstfall kommen sollte. Heute Nachmittag habe Ich eine Unterredung mit Reichskanzler Bethmann Hollweg, dieser wird Ihnen morgen eine definitive Antwort überbringen.“ Hoyos ist überrascht. Auf eine derart klare Aussage hat er nicht zu hoffen gewagt, noch dazu ohne sein gänzliches Dazutun. Nach einem leisen „Jawohl, Euer Majestät“ und einer angedeuteten Verbeugung dreht sich Hoyos um und geht an seinen Platz zurück.

Nach dem Essen erweist Wilhelm II. seinen Gästen noch die Ehre eines gemeinsamen Digestives, bricht dann jedoch alsbald die Konversation mit dem Hinweis ab, dass der Reichskanzler für die angekündigte Unterredung jeden Augenblick eintreffen würde. Alexander Hoyos und die meisten der anderen Gäste werden von einem Hofbediensteten durch die Vorzimmer, Gänge und Treppen wieder zum Tor gebracht. Hoyos ist vom soeben Erlebten zutiefst beeindruckt. Die unkonventionelle Haltung des deutschen Kaisers ihm gegenüber, die unumwunden klare und deutliche Zusicherung, die Donaumonarchie zu unterstützen, sowie die Beiziehung des mächtigen deutschen Reichskanzlers zur Erörterung des österreichischen Anliegens verlangen ihm Respekt vor dem deutschen Führungsstil ab. „Und das alles“, er gerät bei diesen Gedanken ins Schwärmen und kann einen neidvollen Seufzer beim Vergleich mit dem Wiener Krisenmanagement nicht unterdrücken, „innerhalb eines Nachmittages, hier wird nicht lange gefackelt. Es scheint, als würde Wilhelm wissen, was zu tun ist!“

Am großen Tor angekommen, wird er aus dem Neuen Palais entlassen und wieder zurück auf die Straße geführt. Er hört das hinter ihm zufallende Tor und die sich rasch entfernenden Schritte des Wachpersonals. Seine Blicke suchen das Botschaftsautomobil, das er alsbald die Straße hinunter entdeckt. Der Fahrer steht gelassen an das Fahrzeug gelehnt und unterhält sich mit Passanten. Als er vor dem Tor die Straße überqueren will, muss er für einen Moment stehen bleiben, denn eine schwarze Limousine kommt zügig näher. Unmittelbar vor Hoyos reduziert der Fahrer seine Geschwindigkeit und biegt in Richtung Haupttor des Palais ab. Sich erneut dem Tor zuwendend, bemerkt Hoyos, wie zwei Wachebeamte aus dem Haus stürzen und die schweren gusseisernen Flügeltore auseinanderdrehen, um dem Wagen die Durchfahrt zu ermöglichen. Während die Limousine wartet, erkennt der österreichische Sondergesandte den deutschen Kriegsminister Erich Falkenhayn und Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Fond des Wagens. Für eine nähere Bestimmung der anderen Personen, deren Silhouetten Hoyos ebenfalls wahrnimmt, reicht die Zeit nicht, denn der Fahrer nimmt sofort wieder Fahrt auf, nachdem die Tore geöffnet sind. Alexander Hoyos beobachtet, wie der Wagen die Auffahrt entlangfährt und, während die Gittertore wieder geschlossen werden, die Männer aussteigen und im Schloss verschwinden.

„Hm, Falkenhayn, Bethmann Hollweg und andere! Unsere Angelegenheit scheint von größter Wichtigkeit für Berlin, denn sonst wäre nicht die Reichsspitze vertreten.“ Hoyos blickt bei dem Gedanken noch einmal links und rechts, um danach schnellen Schrittes die Straße zu überqueren und zum Automobil zurückzueilen.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
485 s. 26 illüstrasyon
ISBN:
9783990402542
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