Kitabı oku: «Das geschenkte Mädchen», sayfa 2

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03 »Ich habe sein Filofax gefunden«, rief Freudensprung mit Triumph in der Stimme und versuchte in dem ledergebundenen Kalender zu blättern. Weil er noch die dünnen Einmalhandschuhe trug, um keine Spuren zu vernichten, konnte er nur Seitenblöcke umblättern.

»Sehr gut«, lobte Pfeffer und kam sich dabei vor wie ein Oberlehrer. Dann verteilte er die Aufgaben an sein Team. Besonders wichtig war ihm, dass eine Inventur gemacht wurde. Vielleicht Raubmord, was heißt vielleicht – Pfeffer nahm sich nacheinander ein paar Figuren aus einer Vitrine, drehte sie um und musterte die Preisschildchen. Da standen Worte wie »Dogon«, »Ewe«, »Idoma« oder »Tschokwe« – Worte, die Pfeffers Miene zu einer Maske des blanken Unverständnisses erstarren ließ, jenem Gesichtsausdruck, den er sonst nur angesichts seiner Stadtwerkeabrechnung aufzusetzen pflegte. Die Summen auf den Etiketten reichten von zwei- bis zehntausend Euro. Eine kleine Terracotta-Figur, die ein kryptisches »Nok« auf dem Preisschild stehen hatte und die Pfeffer stark an die comicartigen Töpferarbeiten seines jüngsten Sohnes erinnerte, sollte gar mehr als zwölftausend Euro kosten. Viel Geld, also mit ziemlicher Sicherheit Raubmord.

»Das wäre doch was für unsere Frau Scholz. Bella, machst du das?« Pfeffer warf seiner jungen Kollegin die Tonfigur zu. Annabella Scholz fing die kleine Kostbarkeit mit einer Hand auf. »Alle Figuren zählen. Und herausfinden, was uns die Figur in der Blutlache sagen will, sofern sie was zu sagen hat und nicht nur zufällig da herumsteht.« Pfeffer deutete auf die Holzpuppe neben der Leiche. »Versuch jemanden aus Westphals Familie aufzutreiben. Irgendwelche Verwandtschaft wird er ja wohl gehabt haben. Eltern, Geschwister, Cousins. Lieferscheine checken, Kontoauszüge, Geschäftsverbindungen, das ganze Pipapo eben.«

Annabella Scholz, die immer etwas zu salopp und jugendlich-cool gekleidet war, um in Paul Freudensprungs Augen wirklich attraktiv zu sein, nickte und fuhr sich durch ihre blondierte Mähne. Dann warf sie Pfeffer die Nok-Figur zurück.

Er brauchte beide Hände, um die Preziose sicher zu fangen. Der Kriminalrat fühlte sich auf einmal so unendlich müde. Das ganze Pipapo eben. Immer Routine, immer ein Toter, immer im Dreck wühlen. So viel Motive gab es nicht. Geld oder Liebe. Ausnahmen bestätigten die Regel. Pfeffer wünschte sich manchmal was richtig Kniffliges, einen Fall, der größere Dimensionen hatte. Etwas zum Festbeißen und Routinevergessen. Natürlich machte ihm jeder Fall irgendwo Spaß, sofern man bei Mord von Spaß reden konnte. Sicherlich war jeder Fall für ihn eine Herausforderung, mal dauerte es länger, bis sie den Täter schnappten, meist ging es jedoch recht schnell. So, wie es in diesem Fall sein würde. Vermutlich reichte es schon, den Kalender des Toten zu filzen. In spätestens zwei bis drei Wochen würden sie dann bestimmt herausfinden, dass entweder eine eifersüchtige Gespielin zum Messer gegriffen hatte, die ihnen dann schluchzend gestehen würde: »Ich konnte nicht anders, dieses Schwein …«, oder sie würden einen Verwandten in Geldnot verhaften, der beim Klauen einer wertvollen Figur, die er dann an einen Hehler verschachern wollte, von Doktor Westphal überrascht worden war. Pfeffer gähnte innerlich.

»Schau nicht so gelangweilt drein, Maxl«, sagte die Rechtsmedizinerin und ließ ihre Gummihandschuhe spielerisch in Richtung Pfeffer schnalzen. »Stell lieber das Tonpüppchen wieder hin, sonst machst du es noch kaputt. Sieht mir verschärft nach Nok aus.«

»Das steht da auch drauf. Du kennst dich aus mit so was, Pettenkoferin?« Pfeffer war ehrlich erstaunt.

»Ich fresse nicht nur Kuchen in mich rein, Maxl«, kokettierte Doktor Gerda Pettenkofer mit ihrer gewaltigen Leibesfülle. »Hab neulich was gelesen, dass diese Nok-Sachen sauviel wert sind und jetzt auch in den Louvre aufgenommen wurden. Chirac höchstpersönlich hat ein paar solcher Figuren von einem belgischen Händler erstanden und dem Louvre geschenkt. War ein ziemlicher Skandal in Frankreich, denn wie sich schnell herausstellte, waren diese Figuren aus einem Museum in Nigeria gestohlen und …« Die Rechtsmedizinerin brach ab, weil Pfeffer sie mit demonstrativem Desinteresse anstarrte.

Pfeffer und Kunst, da prallten oft genug zwei Welten aufeinander. Wenn es um Jazz, vor allem Nu- und Acid-Jazz ging, war er in seinem Element. Doch bei Malerei und Bildhauerei stieg er freiwillig aus, gut, zugegeben, er hatte in den letzten Jahren hauptsächlich durch seinen Freund Tim dazugelernt – aber egal, was er vor allem liebte, waren die Kabbeleien mit Doktor Gerda Pettenkofer.

»Louvre?!«, wiederholte die Pathologin betont langsam. »Mona Lisa. Museum. Paris. Kultur. Du verstehen?«

»Nö. Kann man das essen?« Pfeffer zündete sich eine Zigarette an. »Und wer oder was ist Nok? So jemand wie Picasso? Ein afrikanischer Picasso?«

»Ach, Maxl!« Gerda Pettenkofer seufzte und verdrehte die Augen. »Das ist ein afrikanisches Volk. Oder war eins. Ausgestorben oder so. Ehrlich, ich habe nix damit zu tun! Die Sachen sind deshalb so viel wert, weil sie antik sind und bei Ausgrabungen gefunden wurden. Frag mich nicht, wo und wann. Okay?! Mehr weiß ich nicht. Echt nicht! Ihr könnt mich ruhig weiter mit euren Gestapo-Verhörmethoden fertig machen, ihr Bullenschweine!« Gerda machte eine trotzig abwehrende Handbewegung wie ein jugendlicher Hobbydealer, der schon nach wenigen Minuten Verhör weichgeklopft war und noch einmal den coolen Macker markierte, bevor er detailliert seine Hintermänner verpfiff. »Scheißbullen. Ich sage keinen Ton mehr! Gib mir lieber ’ne Kippe.«

»Du siehst auch ganz schön fertig aus, Gerda.« Pfeffer schmunzelte und gab ihr noch Feuer zur Zigarette. »Faschingsparty? Oder probierst du wieder eine neue Diät aus?«

»Weder noch, Maxl«, seufzte die Medizinerin und blies eine Kette von unförmigen Rauchringen aus, die ungelenk durch den Raum eierten, bevor sie sich auflösten. »Das mit dem Abspecken habe ich längst aufgegeben. Mir schmeckts einfach zu gut. Und letzten Herbst hast du nicht mal bemerkt, dass ich fünfundzwanzig Kilo abgenommen hatte. Ne, ich musste schon heute früh um fünf raus. Deine Kollegen haben eine völlig verkohlte Leiche in der Isar bei Wolfratshausen gefunden.«

»Verkohlte Leiche unter Wasser. Dann tippe ich auf Selbstmord.«

Die Pettenkoferin lachte dröhnend. »Ach, Maxl. Sah jedenfalls verdammt nach Profiarbeit aus. Wir werden vermutlich eine Ewigkeit brauchen, bis wir die Leiche identifiziert haben, wenn uns nicht die Vermisstenkartei weiterhilft. Und bei dem hier«, sie deutete auf die Leiche von Doktor Westphal, »tippe ich auch auf Profiarbeit. Sauber mit einem Stich die Bauchschlagader durchtrennt. Wenn es ein Mord im Affekt gewesen sein sollte, hat der Täter halt einfach Glück gehabt. Oh, pardon, so sollte ich nicht reden. Aber ich schätze, es war ein Profi, der wusste, was er tat. Genauer Bericht erst in zwei Tagen. Das Bündel verkohlter Knochen aus der Isar geht momentan vor.«

04 Helene biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. Was sollte sie sagen, wenn sie der Alten gegenüberstand? Sie inhalierte tief, pumpte die Lungen voll eisige Luft. Beim Ausatmen beobachtete sie den Kältenebel, der aus ihrem Mund strömte. Herrliches Wetter für einen Winterspaziergang. Die Sonne strahlte grell, der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Eigentlich könnte sie jetzt einfach weitergehen, hinunter zur Isar und in den Isar-Auen ein wenig herumbummeln. Vielleicht sah sie ein paar sportliche Ski-Langläufer oder herumtollende Hunde. Oder sie könnte auch ein wenig tagträumen, wie sie es manchmal tat. Sich Szenen aus den Aufzeichnungen von Leopold Konrad Frese vor ihr geistiges Auge rufen und ausschmücken. So wie die Szene mit der Schwarzen im europäischen Straßenkostüm, Frau Häuptling. Helene kannte die Stelle – wie auch zahlreiche andere – fast auswendig und malte sich aus, wie die große, würdevolle ebenholzfarbene Königin im raschelnden Seidenkleid, das Gesicht umrahmt von feinen Spitzen, auf dem Kopf ein Wagenrad von einem Hut, mitten im smaragdgrünen Urwald auf eine sonnenumschmeichelte Lichtung trat. Papageien jeglicher Couleur umschwirrten die majestätische Erscheinung …

Helene tagträumte und ging ein paar Schritte an dem Haus vorbei. Sie war sich durchaus bewusst, dass ihre Phantasien immer kitschtriefender und exotischer wurden. Schluss damit, sagte sie zu sich selbst. Helene gab sich einen Ruck und kehrte um. Sie hatte einen Plan gehabt, und nur weil die Sonne schien, konnte sie ihn nicht einfach so aufgeben. Dazu hatte sie viel zu lange auf diese Gelegenheit gewartet. Sie hatte sie herbeigesehnt, ihr ganzes Leben schon. Zumindest so lange sie denken konnte und seit ihre Mutter die Geschichten erzählt hatte. Sie würde klingeln und alles andere würde sich schon irgendwie ergeben. Mehr als rausschmeißen kann sie mich nicht, dachte Helene. Und was, wenn sie mich tatsächlich rausschmeißt? Dann stehe ich wieder da, wo ich die ganze Zeit schon stehe. Oh Gott, ich muss so dringend pinkeln wie noch nie in meinem Leben!

Helene überquerte die Straße und lief schnell zu dem Café, das schräg gegenüber lag, um ihre aufkommende Panik in die Kanalisation zu spülen. Als sie wieder auf die Straße trat, ging es ihr zwar keinen Deut besser, doch sie machte sich vor, endgültig zu dem entscheidenden Schritt entschlossen zu sein.

Das Haus, in dem die Alte lebte, war völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Helene hatte nicht erwartet, mitten in der Innenstadt, mitten im Glockenbachviertel, ein kleines Zweifamilienhaus vorzufinden. Ein richtiges Hexenhaus mit schäbigem Dach und schmutzigbrauner Fassade. Die alten Holzfensterrahmen waren hellblau gestrichen. An der Straßenseite rankte sich das laubfreie Geäst eines Knöterichs bis unter die Dachrinne. Helene öffnete das Gartentor und betrat einen Garten in der Größe eines Handtuchs, der zwischen dem Hexenhaus und dem benachbarten Wohnhaus lag. Gebrochene Steinplatten bis zur Eingangstür, daneben ein Müllcontainer, die blaue Tonne für Altpapier und die braune für Bioabfall. Helene wäre beinahe auf den vereisten Platten ausgerutscht und drückte Halt suchend viel zu lange auf die Klingel.

Nichts rührte sich im Haus. Womöglich war die Alte gar nicht daheim. Helene fühlte Enttäuschung und Erleichterung gleichzeitig. Sie läutete erneut. Dann wurde drinnen eine Kette vorgeschoben, dann noch eine, schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Ein altes, runzeliges Gesicht presste sich in den Spalt. Hellwache, wasserblaue Augen musterten Helene von oben bis unten. Die Tür wurde wieder geschlossen, erneutes Rasseln von zwei Ketten, dann wurde die Tür weit aufgerissen. Eine kleine, uralte Frau lächelte Helene an. Sie trug eine rosafarbene gestärkte Kittelschürze, ihre Beine steckten in dicken steingrauen Wollstrümpfen, sie trug keine Schuhe. Ihre silbergrauen, sorgsam ondulierten Haare bildeten einen seltsamen Kontrast zu der Hausmütterchenkleidung.

»Grüß Gott, Frau Frese«, begann Helene und suchte gleichzeitig verzweifelt nach Worten. Sie hatte sich alles Mögliche ausgedacht, erst wollte sie sich als Spendensammlerin vom Roten Kreuz oder von der Heilsarmee ausgeben, dann als eine neue Mitarbeiterin der Anwaltskanzlei Beck, die noch etwas wegen des Testaments besprechen wolle, dann als eine freiwillige Helferin vom Katholischen Frauenbund … Jetzt schoss ihr auf einmal durch den Kopf, dass sie sich als Studentin ausgeben sollte. Ethnologie, Spezialgebiet Westafrika, auf der Suche nach Informationen über die Ndjamele.

»Na, Sie sind aber ganz schön früh dran!«, unterbrach die Alte sie. »Ich hatte erst in einer Stunde mit Ihnen gerechnet. Na, Kind, kommen Sie mal rein. Immer rein in die gute Stube.« Sie lachte fröhlich und machte Helene Platz.

Zögernd betrat Helene das Haus. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Warum begrüßte die Alte sie, als hätte sie Helene erwartet?

»Immer geradeaus und dann letzte Tür links in die Küche!«, rief die Greisin. Helene folgte dem Flur, der mit einer abenteuerlich gemusterten, ockerfarbenen Sechziger-Jahre-Tapete tapeziert war, und ging in die gemütlich warme Küche. Die Vorhänge an den Fenstern mochten vor Menschengedenken einmal weiß gewesen sein. Die Unordnung in dem Raum bestürzte Helene. Hatte die Alte keine Haushaltshilfe? Keine Putzfrau? Überall standen offene Lebensmittelpackungen herum, auf den Ablagen türmten sich Dosen und Einweckgläser, offene und noch verschlossene. Vermutlich lebte in einigen der Inhalt, Helene wagte gar nicht daran zu denken.

»So, Frau …« Die Alte war fast lautlos hinter Helene getreten, obwohl sie sich beim Gehen auf einen Stock mit Silberknauf stützte.

»Marwitz. Helene Marwitz ist mein Name.«

»Frese. Emmy Frese ist mein Name«, erwiderte die Alte und schüttelte Helene herzlich die Hand. »Komisch. Marwitz, hm? Ich kann mich gar nicht entsinnen, dass ich diesen Namen auf meiner Liste habe.« Emmy Frese nahm umständlich am Küchentisch Platz und griff sich eine aufgeschlagene Zeitung, die den Abschluss einer Getränkeverpackungspyramide bildete. Dabei segelte ein kleiner weißer Zettel auf den Boden. Die Alte bemerkte es nicht. »Komisch, wo ist denn der Zettel mit den Namen? Na, wie dem auch sei, Frau Marwitz, Sie sind die Erste und soll ich Ihnen was sagen? Sie gefallen mir. Ich hätte zwar kein so junges Ding erwartet, und noch dazu ein so hübsches Ding, aber Sie gefallen mir!«

Helene fühlte sich wie das Opfer von Versteckte Kamera. Was ging hier vor sich? »Ich verstehe nicht ganz«, sagte sie leise.

Emmy Frese schlug mit dem Handrücken auf die Zeitung. »Sie wollen sich also bei mir als Haushaltshilfe bewerben?« Ihr Blick schwirrte wie eine aufgescheuchte Motte durch die Küche. »Oh Gott, ich weiß, was Sie jetzt denken! Die Alte lebt hier mitten im Müll und braucht nun eine Doofe, die das Ganze mal auf Vordermann bringt. Geben Sie’s ruhig zu.«

Helene gab es nicht zu, obwohl sie genau das dachte und ihr allmählich dämmerte, worum es hier ging.

»Neinneinnein«, fuhr die Alte fort. »Ganz so ist es nicht. Sehen Sie, ich habe nur damit angefangen, mal die Küche auszumisten. Alles raus, was ich nicht brauche oder was längst unbrauchbar ist. Da käme mir natürlich schon eine Hilfe recht. Aber Sie müssen nichts machen, was nicht auch in der Zeitungsannonce steht. Da bin ich ganz korrekt.« Emmy Frese bedeckte ihr Gesicht mit der Zeitung.

Helenes Verwirrung war perfekt. Wollte die Alte jetzt ein Nickerchen machen?

»Hier ist ja meine Annonce«, sagte die Greisin und hielt sich die Zeitung weiterhin ohne Abstand vor das Gesicht. Blind wie ein Maulwurf, erkannte Helene. »Suche Haushaltshilfe, 2-3 x wöchentlich, f. Einkaufen und leichte Hausarbeiten. Kein Putzen. Ja, genau. Eine Putzfrau habe ich nämlich.«

Helene musste sich zurückhalten, um nicht in die Knie zu sinken und ein paar Ave Maria zu beten. Die Chance, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte, war ganz unverhofft da. Sie wollte lachen oder weinen. Vor Erleichterung und Glück, dass ihr der Zufall so leicht die Tür geöffnet hatte. Sie musste Emmy Frese nicht unter fadenscheinigen Vorwänden plumpe Fragen stellen. Durch eine gütige Fügung des Schicksals würde sie als Haushaltshilfe das Vertrauen der Alten gewinnen und könnte im Laufe der Zeit alles herausfinden, was sie wissen wollte. Die Alte brauchte nicht zu erfahren, dass Helene die Annonce nie gelesen hatte. Sie hatte es geschafft. »Strike« oder »Full House« oder wie sie in den amerikanischen Filmen bei solchen Gelegenheiten immer zu sagen pflegten.

Alle gedanklichen Planspiele, die sie wieder und wieder insgeheim geprobt hatte, waren hinfällig. Dabei hatte sie an nichts anderes mehr gedacht, seit sie vor drei Tagen von ihrem Chef gebeten worden war, ihm doch bitte schnellstmöglich die Akte Prestl zu bringen.

»Wird sofort erledigt«, hatte sie zurückgesäuselt und sich damit einen abschätzigen Blick ihrer Kollegin Gitti eingehandelt, die an diesem Tag zum ersten Mal von ihrer Beschäftigung (Fingernägellackieren) aufgesehen hatte. Helene kannte ihre Kollegin genau. Schleimerin, hatte Gitti sicher in dem Moment gedacht. Doch Helene pflegte nie zu schleimen, sie hatte sich nur zur Angewohnheit gemacht, besonders freundlich zu sein, wenn sie schlechte Laune hatte. Wie an diesem Tag. Also hatte sie gesäuselt, als sie Kaffee servierte, als sie Klienten Termine zuwies und als sie gebeten wurde, die Akte Prestl schnellstmöglich herauszusuchen. Und säuselnd hatte sie ihren Tag zu Ende bringen wollen, der ewig kaugummikauenden Gitti zum Trotz. Helene war zum Aktenschrank gegangen, hatte die Schublade mit den Hängeregistern »Pa – Se« herausgezogen und Prestl gesucht. Die Akte war nicht zu finden gewesen. Jedenfalls nicht unter »Pr«, dort hatte sich die Akte »Frese« befunden. Gitti und ihre Ablage. Da hatte sie vermutlich wieder mal nur die neueste Farbpalette für Fingernagellack im Kopf und sich gedacht: »Pr« oder »Fr«, wo ist da der Unterschied? Klingt doch total ähnlich, da kann man sich schon mal vertun.

Frese. Ausgerechnet Frese. Helene hatte die Akte gebannt angestarrt. Der Mädchenname ihrer Großmutter, der Name, der in allen Geschichten ihrer Mutter eine zentrale Rolle gespielt hatte. Frese. Nun, es gab in München einige Träger dieses Namens, wenn auch vergleichsweise wenige, wenn man mal an Schmidt oder Müller dachte. Wenn sich Helene jemals wirklich dahinter geklemmt hätte, wäre sie früher oder später auf den Richtigen oder die Richtige gestoßen, sofern er oder sie überhaupt noch lebte. Sie hatte es nie getan, sich nie wirklich auf die Suche begeben, es immer verschoben auf ein andermal.

Aber wenn das Schicksal schon mit Zaunpfählen um sich schmiss, musste man was tun. Zum Beispiel den Akt öffnen und nachschauen, ob es vielleicht der richtige Frese war. Ein paar Blätter Schriftverkehr zwischen der Anwaltskanzlei Beck und Emmy Frese, Palmstraße 7, München, aus den achtziger Jahren. Ein versiegelter Umschlag, das Testament. Und dann die Kopie einer Geburtsurkunde für Emmy Wilhelmine Bertha Frese, geboren am 23. März 1904 in Buëa, Deutsch-Kamerun; Vater: Leopold Konrad Frese, Kaufmann und Plantagenbesitzer aus München; Mutter: Bertha Sieglinde Frese, geborene Wartmann, Krankenschwester und Kaufmannsgattin aus Berlin; Eltern des Vaters, Eltern der Mutter, etc. Helene war für einen Augenblick schwindelig geworden. Kein Zweifel, das war die richtige Frese. Sie lebte offenbar noch, denn das Testament war noch nicht geöffnet worden, und sie lebte gar nicht so weit von Helene entfernt. Ebenfalls im Glockenbachviertel. Vielleicht waren sie sich sogar schon im Supermarkt begegnet.

Jetzt, drei Tage später, wusste Helene, dass sie sich noch nie an der Käsetheke gesehen hatten. Die kleine Alte mit dem verwitterten Gesicht wäre ihr sicherlich aufgefallen.

»Kreislaufprobleme?«, hatte Gitti gefragt, als Helene sich kurz gegen den Schreibtisch gelehnt hatte, um sich vom positiven Schock ihrer Entdeckung zu erholen.

»Geht schon wieder«, hatte Helene geantwortet und Gitti hatte sich nahtlos weiter ihren Fingernägeln gewidmet.

Helene lächelte Emmy Frese, geboren 1904 in Buëa, Deutsch-Kamerun, freundlich an. Sieht ja noch ganz schön fit aus, dabei ist sie schon fast hundert Jahre alt, dachte sie sich. In dem Alter zählte man sicher nur noch die Tage. Zeitverlust konnte sie sich also nicht leisten.

»Wissen Sie«, sagte Helene deshalb, »ich arbeite als Rechtsanwaltsgehilfin. Aber ich dachte mir, ich könnte noch ein kleines Zubrot verdienen. Ein paar Stunden die Woche. Sie wissen ja«, Helene seufzte melodramatisch, »München ist ein ganz schön teures Pflaster.«

Emmy Frese seufzte solidarisch mit und winkte mit ihrer welken Hand wissend ab. »Wem sagen Sie das. Und eine junge, so hübsche Frau wie Sie hat bestimmt viele Verehrer, für die Sie sich schön machen wollen. Oh, ich weiß, was all die Sachen kosten, die wir Frauen so brauchen.« Sie zwinkerte verschwörerisch.

Verehrer! Was für ein schönes Wort für die Flops, die Helene in der letzten Zeit um sich gehabt hatte. Mal kürzer, mal länger. Einzige Ausnahme war Bert, mit dem sie fünf Jahre in trauter Zweisamkeit gelebt hatte, bis sie dann herausfand, dass die Zweisamkeit schon seit längerem eine Dreisamkeit war. Trotzdem hatte sie ihn geliebt und war nach der Trennung monatelang mit Grabesmiene herumgelaufen, wobei sie im Beruf zu einer neuen Höchstform im freundlichen Säuseln aufgelaufen war. Nun gut, über Bert war sie endlich hinweg, trotzdem war er im Vergleich zu den anderen Flitzpiepen der reinste Gott gewesen. Helene hätte der Alten da Geschichten erzählen können – von wegen Verehrer. Seit der Trennung von Bert hatte es nur zwei One-Night-Stands gegeben.

»Anwaltsgehilfin, so, so«, sagte Emmy Frese.

Beschwingt machte sich Helene auf den Nachhauseweg. Dreimal die Woche für jeweils zwei Stunden in der Nähe von Emmy Frese, einkaufen, aufräumen, ihr Vertrauen gewinnen und alles erfahren, was Helene wissen wollte. Dazu noch etwas Geld verdienen, auch wenn sie es nicht brauchen würde, wenn alles nach Plan liefe. Dann würde sie nämlich nie mehr Geldsorgen haben. Sie lief die Arndtstraße entlang, dann durch den schmalen Park, durch den der Westermühlbach fließt. Der Glockenbach, nach dem das Viertel benannt ist, verläuft schon seit Jahrzehnten unterirdisch. Selbst der kleine vereiste Abhang, der zum Alten Südlichen Friedhof hinauf führt und den sie sonst bei winterlichen Straßenverhältnissen mied, weil sie schon zweimal dort ausgerutscht und böse hingefallen war, schreckte sie diesmal nicht. Bald bin ich reich, reich, reich, dachte sie bei jedem Schritt, alles wird gut, gut, gut.

Auf dem Weg, der, eingesäumt von den hohen Mauern, die die beiden Teile des Friedhofs trennen, den direkten Durchgang von der Pestalozzistraße zur Thalkirchner Straße ermöglicht, spielten ein paar Kinder. Wie immer, wenn Helene diesen Weg ging, und sie ging ihn möglichst oft, denn es gehörte zu einer Art Ritual, ständig mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden, blieb sie kurz vor der Gedenktafel für die im Krieg gefallenen Soldaten stehen. Zielsicher fiel ihr Blick auf das untere rechte Eck, auf dem die in den Kolonialkriegen Gefallenen geehrt wurden. Bisher war sie nach einer kurzen Pause immer stumm weitergegangen. Diesmal öffnete sie den Mund und hauchte »Danke« in die frostige Nachmittagsluft.

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