Kitabı oku: «Das geschenkte Mädchen», sayfa 4
»In Jokó sind wir dann wenigstens die Pfaffen los. Wenn sie nicht schon vorher von den Heiden aufgeknüpft werden«, sagte unser Anführer mit vollem Mund und machte eine Kopfbewegung zu den zwei Missionaren, die mit uns zogen. Es waren die Brüder Alois und Alfred Kottbauer aus dem Badischen. Sie hatten den wagemutigen Plan, in Jokó eine Missionsstation zu gründen. Noch nie hatten sich Missionare so tief ins Gebiet der Mohammedaner gewagt. Die beiden Männer waren eben damit beschäftigt, sich ein paar Brocken Affenfleisch vom Braten abzuschneiden. Mit ihren vollen Tellern eilten sie dann wieder hinüber zu den erbärmlichen Hütten, in denen eine Sippe unterentwickelter Urwaldbewohner ihr Zuhause hatte. Wie in den vergangenen Tagen hatten wir uns eine solche Siedlung als Nachtcamp ausgewählt. Die Dschungelneger lebten meist an einem Flußlauf, rund um die Hütten war ein kleines Stück Land gerodet, auf dem einige Nutzpflanzen wie Maniok und Süßkartoffeln angebaut wurden.
»Na, wenn wir Glück haben, bleiben die Pfaffen gleich hier«, gluckste er. Klagendes Geschrei und sonderbar weiches Vorübergleiten kündete davon, daß Flughunde über uns auf Jagd waren. »Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir sie nicht hätten mitnehmen müssen. Sie fangen schon an, meine Wute-Krieger zu bequatschen, und ständig schleichen sie um unsere Träger herum. Die Krieger sollen uns beschützen und die Träger unsere Sachen schleppen. Der Lohn, den wir ihnen zahlen, ist dafür genug. Da brauchen sie nicht noch das Himmelreich als Trinkgeld in Aussicht gestellt zu bekommen.« Der Mann machte mich wegen seiner ungehobelten Art zum unzähligsten Mal wütend auf sich. Er stand auf. »Ich gehe noch mal zu meinen Kriegern, um ihnen die Flausen von Nächstenliebe aus dem Kopf zu treiben. Wir werden die primitive Urgewalt brauchen, wenn wir unterwegs Schwierigkeiten haben, nicht die vergebende Hand Gottes.« Er lief auf das munter prasselnde Feuer zu, um das sich die Krieger vom Stamm der Wute geschart hatten.
So marschierten wir Tag um Tag durch den Dschungel. Sofern man bei Tag von »Tag« sprechen kann. Unter dem feuchten, dumpfen, halbdunklen Blättergewölbe herrscht auch bei strahlendem Sonnenschein ständig dunstiges Dämmerlicht. Tagelang stolperten wir da unten zwischen den mächtigen Pfeilerstämmen, dem Gewirr, Gestrüpp und Wurzelwerk und den endlosen Lianen auf unserem Weg entlang. Oft schwirren einem kostbare Edelsteine vor den Augen: Kleine bunte Vögel stehen über einer Blüte und bewegen ihre Flügel so schnell, daß man nur den winzigen Leib im Licht irisieren sieht. Etwas hingegen sieht man im Dschungel nie: die wilden großen Tiere. Elefanten, Leoparden, Löwen oder Panther halten sich im Dickicht verborgen und denken gar nicht daran, den Menschen anzugreifen oder vor seine Flinte zu laufen. Ich hatte schnell meine Furcht vor den »mörderischen Bestien« abgelegt. Gefahr drohte uns von dieser Seite keine, auch nicht von den Schlangen. Die größeren giftigen Reptilien, die mit ihrem Biß das feste Schuhwerk des Europäers durchdringen können, kann man leicht umgehen, wenn man aufmerksam ist.
Gefahr drohte uns allein von den Tieren, die jeder Urwaldkenner zu Recht fürchtet: Ungeziefer, die wahren Bestien Afrikas. Flöhe, die einen piesacken und sich heimtückisch unter die Zehennägel bohren, um dort schmerzende Geschwüre zu erzeugen, die den Wanderer für Wochen vollkommen marschunfähig machen; Ameisen, die zu Tausenden überall hineinkrabbeln und einem schmerzhafte Bisse zufügen; Ratten, die Stiefel und Proviant anknabbern und nächtliche Kletterübungen an den Schläfern machen; Fliegen, die in Mund, Augen und Nase eindringen und den Körper mit brennenden Stichen martern, oder sich eitererzeugend in Wunden setzen.
07 »Sansibar war immer mein Traum. Sansibar – schon der Name allein verheißt die süßesten Träume von Exotik«, pflegte ich immer zu sagen – Helene kannte diesen Satz in- und auswendig. Sie hatte ihn immer wieder gelesen. Immer wieder. Irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen, wie oft sie schon die Erinnerungen von Leopold Konrad Frese gelesen hatte. Dennoch heuchelte sie Interesse, als ihr Emmy Frese das aufgeschlagene Buch in die Hand drückte.
»Hier«, sagte die Greisin, »lesen Sie mal. Dann wissen Sie alles über mich und meine Familie.«
»Gerne, Frau Frese«, antwortete Helene und legte das abgegriffene Büchlein beiseite. Das Büchlein mit dem Titel , das sie schon ihr ganzes Leben begleitete und das sie seit einem halben Jahr beinahe ständig bei sich trug. »Aber jetzt sagen Sie mir erst, wo ich die Konservendosen verstauen soll.« Sie hatte die Einkäufe auf den Küchentisch gestellt und begonnen, die Kartons mit Altglas in eine Ecke zu stapeln. Einen guten Teil des Mülls in der Küche hatte sie schon entsorgt. Bald würde es hier wie bei einem normalen Menschen aussehen. Natürlich gab es, entgegen der Behauptung der Alten, keine Putzfrau, die die Küche auf Vordermann bringen würde.
»Ach, das hat doch Zeit«, erwiderte Emmy Frese. »Ich habe uns einen Nusskuchen gebacken und der Tee ist noch warm. Steht alles in der Stube. Kommen Sie, mein Kind.« Die alte Frau zog Helene ins Wohnzimmer und wies ihr einen Platz auf dem beigen Breitcordsofa zu. Im Gegensatz zur Küche war das Wohnzimmer tipptopp aufgeräumt und oberflächlich sauber. Lediglich die Bezüge der zwei Sofas und drei Sessel waren speckig und abgewetzt. Helene ekelte sich ein klein wenig vor dem, worauf sie saß.
»Ja«, fuhr Emmy Frese fort, als sie den längst nur noch lauwarmen Tee eingeschenkt hatte. Sie lehnte sich in dem Fernsehsessel zurück und schlug die Beine übereinander. Sie trug heute keine Kittelschürze, sondern ein schlichtes dunkelblaues Kleid mit weißem Kragen. Sie hatte sogar etwas Make-up aufgelegt. Der rote Lippenstift war ihr in die zahlreichen kleinen Runzeln gelaufen, die ihren Mund säumten. »Da staunen Sie sicher, Frau Marwitz. Aber ich bin tatsächlich in Kamerun geboren worden. Damals, als es noch deutsche Kolonie war. In Buëa, das war der Sitz des Gouverneurs. Aber das interessiert ja heute keinen mehr. Olle Kamellen.«
»Doch doch, Frau Frese«, sagte Helene mit vollem Mund und versuchte den staubtrockenen Kuchen mit ein paar Schluck labbrigem Tee hinunterzuspülen.
»Erzählen Sie mir davon. Sie haben bestimmt viel erlebt.«
»Oh ja.« Die Alte schloss verträumt die Augen. »All die vielen Negerkinder, mit denen wir gespielt haben, obwohl das nicht gerne gesehen wurde …« Das Klingeln des Telefons unterbrach sie. »Nanu, wer kann das sein?«, sagte Emmy Frese leise und erhob sich stöhnend. »Ja bitte«, brüllte sie dann in den Hörer. »Ach, du bist es, Ludwig … Ja, ich habe deinen letzten Brief bekommen … Ja … Nein …«
Während die Alte telefonierte, schweiften Helenes Blicke durch den Raum. Altdeutsch-rustikal nannte man wohl die Möbelungetüme, die herumstanden – und vertrocknet die Palme in der Zimmerecke. Ein paar kleinere Ölgemälde, auf denen sich Elefanten, Löwen und andere afrikanische Tiere tummelten, zierten die Wände. Eher Kitsch als Kunst, fand Helene. Über der Kommode hingen Fotos im Silberrahmen. Vermutlich Familienmitglieder, Helene interessierte sich nicht dafür, sondern für das vergilbte große Foto im Zentrum, um das sämtliche anderen Bilder herum gruppiert waren. Es war das Foto, das sie ebenfalls besaß. Eine Kopie davon hatte sie in ihrer Handtasche bei sich.
»Ach, die liebe Familie«, seufzte Emmy Frese, als sie das Telefonat beendet und wieder Platz genommen hatte. »Kaum geht man auf die Hundert zu, schon entdecken sie einen wieder und wollen ihren Erbteil sichern.« Sie kicherte, es klang wie das Rascheln von trockenem Schilf im Wind.
»Ihr Sohn?«, fragte Helene.
»Nein, mein Großneffe«, antwortete die Greisin. »Mir war es leider nicht vergönnt, Kinder großzuziehen. Ich war nicht verheiratet. Ich bin ein altes Fräulein. Meine Familie sind die Kinder meines Bruders und deren Kinder. Meine lieben Großnichten und -neffen. Seit kurzem haben sie mich wiederentdeckt.« Sie machte mit Daumen und Zeigefinger ihrer runzeligen Hand die eindeutige Bewegung für Geld.
»Gibt es denn so viel zu erben?«, fragte Helene und tat möglichst unbefangen.
»Na, das Haus hier zum Beispiel«, Emmy Frese breitete die Arme aus und sah zur Decke hoch. »Und ein bisschen Geld, das ich zur Seite gelegt habe. Viel ist es nicht. Ich bekomme eine bescheidene Rente. Wissen Sie, ich war Krankenschwester, wie meine Mutter selig. Und dann sind da noch …« Diesmal wurde sie vom Klingeln an der Haustür unterbrochen. »Heute ist hier aber ein Betrieb«, sagte die Alte und wollte sich aus dem Sessel hochrappeln.
»Lassen Sie nur.« Helene sprang auf. »Ich geh schon.«
»Kriminalrat Max Pfeffer, Kripo München. Mein Kollege Paul Freudensprung«, sagte der Mann mit flauschigem Samtblick und hielt seinen Ausweis hoch.
Helene konnte sich nicht von diesen Augen losreißen, sie hatten sie ins Mark getroffen.
Freudensprung stöhnte innerlich. Schon wieder! Sein Chef hatte einfach einen Schlag bei Frauen, der Plüschtier-Effekt, wie Freudensprung es zu nennen pflegte. Freudensprung beneidete ihn und freute sich gleichzeitig, dass Pfeffer den Effekt nicht ausnutzen konnte oder wollte.
»Helene Marwitz«, flüsterte Helene leise in dieses dunkle Kuscheln hinein. Nun erst bemerkte sie seine silbergrauen Haare, die in seltsamem Kontrast zu dem jung gebliebenen Gesicht standen.
»Dürfen wir reinkommen, Frau Marwitz?«, fragte Pfeffer ebenso leise und fühlte sich wie ein Idiot, weil er die Schönheit der Frau in sich aufsaugte. Ihre vollen Lippen, die kastanienfarbenen, geheimnisvollen Augen, die dunkelbraunen Naturlocken, die ihr üppig über die Schulter fielen, der Teint, der einen ganz leichten Stich ins Olive hatte. Alles war Rasse und Klasse an Helene Marwitz. Obwohl sie einen dicken Winterpulli und eine Flanellhose trug, konnte Pfeffer erahnen, dass sie eine gute Figur haben musste. Mit Sicherheit machte sie Jazzdance oder etwas Ähnliches.
»Sie machen Aerobic?«, platzte er heraus und wollte sich in derselben Sekunde ohrfeigen.
»Tae Bo«, antwortete Helene und kicherte. »Und Sie? Judo?«
»Zu selten.« Auch Pfeffer lachte. »Hauptsächlich Trimmtrab.«
»Dann hätten wir das also geklärt«, sagte Helene, riss sich von den samtigsten Augen der Welt los und ließ die Männer in die Wohnung.
Es passierte so gut wie nie, dass Pfeffer eine Frau einfach anstarren musste, dass eine Frau das in ihm auslöste, was schon lange in seinem Innersten begraben war: das Gefühl, es vielleicht doch noch einmal probieren zu wollen. Es war eigentlich kein Gefühl, sondern nur ein Hauch, denn Pfeffer wusste, was er wollte. Und er erinnerte sich nur noch mit Schaudern daran zurück, wie er sich früher total verbogen hatte aus dem Drang heraus, sich anpassen zu wollen, nicht ›anders‹ sein zu wollen. Bis er radikal sein Leben geändert hatte, nachdem er auf einem Konzert der amerikanischen Performancekünstlerin Laurie Anderson seinen Tim kennen gelernt hatte. Heute wunderte er sich bloß ein wenig, wenn er diesen seltsamen Hauch verspürte. Es passierte ohnehin nur alle Jubeljahre. Pfeffer riss sich zusammen und folgte der dunklen Schönheit ins Wohnzimmer, wo er sich mit routinierter Neugier umsah.
»Frau Frese«, sagte er zu der Alten und war für einen Moment versucht, ihr die verrutschten grauen Socken, die sich um ihre Fußgelenke kringelten, wieder hochzuziehen. »Wir kommen wegen Ihres Neffen oder Großneffen. Georg Frese-Mayer.«
»Meine Güte«, quietschte die Alte. »Ist ihm etwas passiert?!«
»Keine Sorge.« Pfeffer lächelte beruhigend. »Wir haben nur von seiner Frau erfahren, dass er Sie häufig besucht, und wir möchten ihm ein paar Fragen stellen.«
»Mein Neffe ist beim Skifahren. Worum geht es denn?«
»Das sollten wir am besten mit Ihrem Neffen besprechen. Sie wohnen alleine hier, Frau Frese?«, fragte Pfeffer aus reiner Neugierde und ließ seinen Blick über die gerahmten Fotografien schweifen.
»Ja«, antwortete die Greisin. »Frau Marwitz hilft mir drei Tage die Woche ein wenig im Haushalt. Aber sonst kann ich mich noch sehr gut selbst versorgen, falls Sie das meinen. So hinfällig bin ich auch noch nicht!« Ihr Ton wurde etwas spitz. »Und falls mal was passieren sollte, ist fast immer jemand im Haus. Ich habe die Wohnung im ersten Stock an ein paar Studenten vermietet.«
»Und Ihr Großneffe, übernachtet der auch manchmal bei Ihnen?«, hakte Freudensprung nach.
»Sicher, oben. Er hat sich unter dem Dach ein kleines Refugium ausgebaut. Da trifft er sich oft mit seinen Freunden zum Kartenspielen.« Emmy Frese zwinkerte verschwörerisch. »Seine Frau hat es nämlich gar nicht gern, wenn Georg seine Kartenfreunde bei sich zu Hause empfängt. Die karteln jeden Freitag oben in meinem Dachstübchen.« Sie kicherte mädchenhaft.
»Sie scheinen ein gutes Verhältnis zu Ihrem Großneffen zu haben«, meinte Pfeffer und heftete seinen Blick erneut auf das große vergilbte Foto, das schon wegen seines Alters aus den anderen Aufnahmen ringsherum herausstach. Das Bild zeigte einen Herrn mit mächtigem Schnauzbart, der einen weißen Tropenanzug trug und selbstzufrieden und lässig im Korbstuhl auf einer Veranda saß. Auf dem Schoß hielt er ein kleines Mädchen, neben ihm stand ein grinsender Bursche. Hinter dem Mann stand eine Frau mit ernstem Blick. Etwas abseits sah eine Schwarze mit Turban dem Betrachter unsicher direkt in die Augen. Sie hatte ihre linke Hand auf die Schulter eines dunkelhäutigen Jungen gelegt, der ungefähr zehn Jahre alt war. Auf einem niedrigen Tisch im Bildvordergrund standen ein paar Limonadengläser sowie eine afrikanische Figur. Auch Paul Freudensprung musterte nun das Foto eingehend.
»Georg ist mein Liebling«, antwortete Emmy Frese, doch Pfeffer hörte gar nicht richtig hin. Afrika, schoss es ihm durch den Kopf und er zog die Figur aus seiner sportiven Umhängetasche und stellte gleichzeitig die Frage: »Kennen Sie die?«
Die Alte kniff die Augen zusammen und streckte ihre knotige Hand aus. Pfeffer gab ihr die Figur. Die Alte hielt sich die Holzstatuette so dicht vor die Augen, dass man hören konnte, wie sich ihre Nase am Holz rieb. Helene Marwitz, das hatte Pfeffer beobachtet, war zunächst erstarrt, dann neugierig herangetreten, hatte die Statue ganz unauffällig näher betrachtet und sich wieder entspannt.
»Sieht ein bisschen aus wie die Sachen, die ich meinem Schorschi gegeben habe«, meinte die Alte. »Aber diese Figur habe ich noch nie gesehen. Nein, Herr Kommissar, das sagt mir gar nichts.«
»Kriminalrat, aber egal. Und sagt Ihnen der Name Doktor Sönke Westphal etwas?«
»Nein«, antwortete die Alte unbekümmert. Doch viel mehr interessierte Pfeffer die Reaktion von Helene Marwitz. Sie war zusammengezuckt, als der Name des Toten gefallen war.
»Und Ihnen, Frau Marwitz?«
Bevor Helene etwas sagen, lügen konnte, rief Emmy Frese: »Doch, halt.
Ich glaube, so hieß der junge Mann, der vor etlichen Jahren mal bei mir vorstellig geworden ist. Ein eingebildeter Kerl.«
»Wann war das?«, erkundigte sich Freudensprung.
»Das ist bestimmt schon über fünfzehn Jahre her. Irgendwann in den Achtzigern. Sönke Westphal, ja, ich bin mir sicher, auf meine kleinen grauen Zellen ist doch noch Verlass.« Sie machte ein triumphierendes Gesicht und tippte sich an die Stirn. »Er hat Völkerkunde studiert und wollte die Aufzeichnungen meines Vaters einsehen. Wir haben nämlich mal in Kamerun gelebt, wissen Sie? Aber ich habe ihm die Tagebücher meines Vaters nicht gegeben. Dieser Westphal wollte dort hin, wo ich einst aufgewachsen bin, um bei den Negern zu leben und sie zu studieren. Auf was für Ideen die Leute heutzutage kommen! Wir haben da gelebt, und ich kann Ihnen sagen, dass es sich wirklich nicht lohnt, diese Eingeborenen zu studieren!«
08
Raubkatzen sind für den Wanderer in der Wildnis nicht gefährlich, das hatte ich bereits geschrieben. Ich sollte aber hinzufügen, daß sie einem sehr wohl gefährlich werden können, wenn sie angeschossen sind und sich in die Enge getrieben fühlen. So wie der Panther, der mich plötzlich wild fauchend ansprang und mir mit seiner mächtigen Pranke einen bösen Schlag gegen die rechte Brust versetzte. Ich hatte mich gerade auf einen umgestürzten Baumstamm setzen wollen, um die Sonne zu genießen, denn der Wald wurde lichter und kündigte schon den Übergang vom Urwald zur Graslandschaft an. Leider hatte sich der Panther ausgerechnet hinter diesen Baumstamm vor den Gewehrsalven unseres Expeditionsleiters geflüchtet. Jener hatte sich schon vor ein paar Stunden von unserem Trupp gelöst, um mit zweien seiner Wute-Krieger das Raubtier zu jagen. Wir Zurückgebliebenen stapften unseren Weg weiter, hörten gelegentlich in der Ferne Schüsse und als wir dann eine Rast einlegten, passierte das Unglück.
Ich sah nur einen schwarzen Schatten, der auf mich zustürzte, roch den Atem des Todes, als die Bestie ihr Maul mit den messerscharfen Fangzähnen aufriß, spürte einen reißenden Schmerz auf meiner linken Brust und verlor dann kurz das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, lag das Tier von Wute-Speeren durchbohrt neben mir. Die beiden Missionsbrüder knieten an meiner Seite. Mein Boy Robert drängte sie beiseite. »Alles in Ordnung, Massa?« fragte er besorgt.
»Schon gut«, antwortete ich schwach. »Mir ist nichts passiert.« Dann packte mich Wut. »Wo ist dieser Sonntagsjäger?« schrie ich. »Ich bringe ihn eigenhändig um!« Ich wollte mich aufrichten, doch der stechende Schmerz in meiner Brust ließ mich zurücksinken.
»Schsch, Massa«, beruhigte mich mein Boy. »Sie sind schwer verletzt. Der Massa Führer ist noch nicht zurück. Ich werde mich jetzt um Ihre Wunde kümmern.« Es bereitete mir ein wohliges Gefühl, daß es jemanden in dieser Wildnis gab, der so besorgt um mein Wohlergehen war. Unserem Trupp blieb nichts anderes übrig, als an dieser Stelle das Nachtlager aufzuschlagen. Mein Boy Robert zerstampfte verschiedene Blätter, etwas Rinde und ein paar Wurzeln in einem Topf zu Brei. Dann spuckte er zweimal kräftig hinein, goß noch ein paar Tropfen Palmöl dazu und ging mit dem Topf nach draußen. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück und begann meine Wunde zu säubern. Die Krallen der Bestie hatten mich schwer gezeichnet. Mein Boy wollte die selbstgebraute Paste auftragen.
»Robert!« Ich packte seine Hand. »Was ist das, was du mir da auf die Wunde schmieren willst? Was hast du draußen noch reingetan?«
»Das will der Massa gar nicht wissen«, entgegnete Robert bestimmt. »Das ist ein altes Mittel gegen böse Wunden. Es hat schon vielen geholfen.« Er trug die Paste auf. Was hätte ich tun sollen? Weitab vom Krankenhaus von Duala blieb mir keine andere Möglichkeit, als auf die Naturmedizin eines Primitiven zu vertrauen. Kaum war er fertig, betrat der ältere der beiden Missionsbrüder mein Zelt, Alois Kottbauer.
»Herr Frese«, sagte er und trat näher. »Ich habe da was für Sie, was Ihnen zumindest die Schmerzen erträglicher macht.« Er reichte mir eine Schachtel mit Opiumpastillen. Dankbar schluckte ich zwei. Mir fiel wieder ein, daß ich auch etwas Kokainpulver im Reisegepäck hatte. »Werden Sie nun nach Duala zurückkehren?«, fragte mich Kottbauer.
»Wozu?« entgegnete ich. »Wieder fünfzehn Tage durch den Dschungel? Wenn ich die Rückreise überleben sollte, kann ich genausogut weiter Richtung Jokó ziehen. Nein, wir müssen nach Jokó.«
»Sie müssen gar nichts. Wir können auch ohne Sie weiterziehen. Warum wollen Sie unbedingt nach Jokó?«
»Ich will sogar noch weiter«, erklärte ich und spürte, wie die Schmerzen allmählich nachließen. »Unser Ziel ist Sanseri-Tibati!«
Kottbauer pfiff durch die Zähne. »Sanseri, die neue Hauptstadt der Tibati. Da haben Sie sich aber etwas vorgenommen. Man hört so einiges über den Emir, nein, ich wollte mir ja angewöhnen, den einheimischen Ausdruck zu verwenden, also den Lamido von Tibati. Vor allem nicht viel Freundliches.« Kottbauer spielte darauf an, daß die Fulbe ihre Könige, die gleichzeitig geistliche Oberhäupter sind, nicht Emir, sondern Lamido nennen.
»Gerede.« Ich winkte ab. »Sanseri und der Lamido von Tibati sind mein Ziel, und das will ich so schnell wie möglich erreichen.«
»Wozu diese unchristliche Eile?« Kottbauer gab nicht auf, mich zur Rückkehr nach Duala zu bewegen. Er schwärmte mir vor, welches Elysium der modernen Medizin mich im Krankenhaus von Duala erwarten würde. »Kurieren Sie sich dort aus, und nächstes Jahr können Sie dann gemütlich nach Sanseri.«
»Nächstes Jahr, mein guter Kottbauer, ist es zu spät«, sagte ich, während ich merkte, daß das Opium seine Wirkung tat. Ich begann angenehm leicht zu schweben. Gott segne die moderne Medizin und ihre Medikamente. »Sie wissen vielleicht nicht, daß sich ein Handelsagent von Gaillard & Fils, einem großen französischen Handelshaus, auch auf dem Weg nach Tibati befindet. Wir wissen mit absoluter Sicherheit, daß er mit einer Expedition den Kongofluß hinaufgefahren ist und nun versucht, vom Landesinneren aus nach Sanseri-Tibati vorzustoßen. Hören Sie!« Ich versuchte mich aufzurichten, doch mein Kopf schwamm immer mehr und ich fiel auf mein Lager zurück. »Wir müssen vor dem Franzmann mit dem Lamido von Tibati handelseinig werden. Nicht auszudenken, wenn er uns zuvorkommt!«
»Oha!« Kottbauer zwirbelte seinen aschblonden Schnurrbart. »Da haben wir wohl ein Wettrennen durch die Wildnis vor uns.«
»Wir haben es nicht vor uns, wir stecken mittendrin.«
Da meine Kräfte nicht mehr für einen Fußmarsch ausreichten, mußte ich fortan in einer Hängematte, die meine Leute aus Bast hergestellt hatten und die an einer Bambusstange befestigt war, getragen werden. Das Schwanken meines Transportgeräts machte mich erst völlig seekrank, doch allmählich gewöhnte ich mich daran, denn es war noch das geringste Übel, mit dem ich zu kämpfen hatte. Fieber und Krämpfe schüttelten mich, nur die Schmerzen waren dank des Opiums und des Kokains halbwegs erträglich.
Unser teuer erworbener Expeditionsführer hatte es offenbar vorgezogen, im Dschungel verlorenzugehen. Er blieb mit den beiden Wute-Kriegern verschwunden. Nun war ich der Expeditionsleiter wider meinen Willen. Wir zogen durch das Hochland. In meinem Dämmerzustand nahm ich wenig wahr. Es ging bergauf und bergab. Wir wateten durch Flüsse und kleine Sümpfe, kamen in größere und kleinere Dörfer, wo wir von den Eingeborenen Lebensmittel kauften und Führer für die nächste Wegstrecke warben. Haine mit Bananen, Kakao, Öl- oder Weinpalmen zogen an uns vorbei. Tabakfelder, Mais und Hirse – selbst gebeutelt von Fieberanfällen konnte ich die unglaubliche Fruchtbarkeit des Landes wahrnehmen. Was für ein Jammer, daß ich nicht überall mit den Häuptlingen über Handelsbeziehungen verhandeln konnte. Und dann immer wieder schier endlose Flächen mit meterhohem Elefanten- oder Schilfgras, in denen nur mattrot- oder gelbblühende Indigopflanzen farbige Akzente setzten. Natürlich hatte ich längst bemerkt, daß wir nicht in Richtung Balinga zogen. Die Negerstadt mußte weiter südlich liegen, doch unsere Wute-Krieger meinten, sie würden eine Strecke kennen, die uns auch ohne den Umweg nach Balinga auf eine Karawanenstraße bringen würde.
Ich litt, fieberte und phantasierte, sah Elefanten, wo nur Antilopen weideten, fühlte Regen, wo nur ein Windhauch aufgekommen war, wollte mich vor der stechenden Sonne schützen, obwohl es aus Kübeln goß, dachte, Robert wolle mich ermorden, wenn er mir nur frisches Wasser zur Labung auf die Stirn träufelte. Ach mein herzensguter Boy Robert, wie sehr er mit mir litt!
Und dann sah ich plötzlich, als wir einen Bananenhain durchquerten, die feine Dame, die in einem eleganten Straßenkostüm, den Kopf mit einem englischen Strohhut bedeckt, am Wegesrand stand. Nun hat mich das Wundfieber endgültig verrückt gemacht, dachte ich bei mir und schloß die Augen für einen Moment. Du bist nicht in Bremen oder München beim Sonntagsspaziergang, rief ich mir ins Bewußtsein, mach die Augen wieder auf und sie wird weg sein. Ich öffnete die Augen, aber die Dame war noch da. Jetzt erst bemerkte ich, daß sie nur wie eine Europäerin gekleidet war, sie war eine schwarze Frau mittleren Alters. Kleid und Hut hatte sie wohl bei einem Haussa-Händler eingetauscht. Sie lächelte mich freundlich an, ihr fehlten fast alle unteren Zähne, die der oberen Zahnreihe waren spitz zugefeilt. Ich bin weder Ethnologe noch Rassekundler, doch aus ihrem langgliedrigen, schlanken Wuchs und dem recht hellen Braunton ihrer Haut schloß ich, daß sie eher zum Volk der Sudan- als der Bantuneger gehörte. Vielleicht hatten sich hier auch schon Haussa oder Fulbe mit den Ureinwohnern vermischt.
Nach langem Palaver, das unser Wute-Dolmetscher führte, stellte sich heraus, daß die Dame im nächsten Dorf das Amt des Häuptlings ausfüllte. Mir war in Afrika schon viel begegnet, aber noch nie eine Frau als Stammesoberhaupt. Das Dorf Ndjamele, das in einer sanften Hügellandschaft umringt von Feldern lag, war durch nichts befriedet oder gesichert. Es war kaum mehr als ein Häuflein von Gehöften in typischer Rundbauweise, zwischen denen muntere Kinder und Ziegen herumtollten. Eines dieser Gehöfte stand leer, es wurde uns als Nachtlager zugewiesen.
Vor langer Zeit, so erklärte uns die Frau Häuptling beim üppigen Nachtmahl, das aus Rindfleisch, Kochbananen, kräftigen Saucen mit viel Pfeffer, Hirsebrei und frischen Früchten bestand, sei dies das Gehöft ihres Bruders gewesen, wobei sie offen ließ, was »vor langer Zeit« bedeutete. Der Afrikaner besitzt bekanntlich keinerlei Zeitgefühl – was sich leider auch sehr negativ auf die Erziehung zur Pünktlichkeit niederschlägt. Also konnte »vor langer Zeit« gestern oder vor zwanzig Jahren bedeuten. Ihr Bruder sei Häuptling gewesen. Er hätte drei Frauen, neun Kinder und unzählige Rinder gehabt. Doch dann seien die Häscher des Lamido von Tibati gekommen und hätten viele Frauen und Kinder auf den Feldern oder beim Viehhüten überrascht, gefangengenommen und als Sklaven verschleppt. Auch der Häuptling, der sich heldenhaft gewehrt habe, sei versklavt worden. Daß viele Fulbe-Völker, die weite Regionen Afrikas beherrschen, seit langem regen Sklavenhandel treiben, wobei vor allem die viel dunkelhäutigeren Sudan- und Bantuneger ihre »Ware« sind, ist sattsam bekannt. Leider waren in der Vergangenheit viele europäische Händler Hauptabnehmer dieser »Ware«. Der schändliche Sklavenhandel wird hoffentlich endgültig vorbei sein, wenn die mohammedanischen Fulbe-Königreiche endlich von europäischen Mächten zur Raison gebracht werden.
Nachdem die Familie der Frau Häuptling also dieses erschütternde Schicksal ereilt hatte, wurde sie als älteste Schwester des Häuptlings zum neuen Sippenvorstand gewählt. Auf mein verwundertes Nachfragen, ob das denn so üblich sei, bekam ich nur die Anwort, man verstehe meine Frage nicht. Die Bewohner des Dorfes, die uns alle beim Mahl umringten und eifrig mitaßen, bekräftigten einzelne Aussagen ihrer Anführerin mit lautem Gemurmel oder Geseufze. Als die Verschleppung das Thema war, fingen einige alte Weiber zu kreischen und wehklagen an. Ich gebe hier nur die Quintessenz des langen Berichts wieder, denn je später der Abend wurde, und vor allem je mehr vergorener Palmwein durch die Kehlen geflossen war, desto dramatischere Einzelheiten flossen in die Erzählung ein. Im Schein des Feuers funkelten die Augen, die bunten Gewänder der Eingeborenen flirrten, die Stimmen überschlugen sich, unser Dolmetscher kam kaum noch mit dem Übersetzen nach. Nun, so schloß die Frau Häuptling endlich ihre Rede, lebten sie nicht nur in der Furcht vor ihren Nachbarn, die bekanntlich Kannibalen seien (was unsere Wute-Männer mit beifälligem Gemurmel bestätigten), sondern auch in der Furcht vor den fernen Fulbe-Fürsten, die immer weiter in ihr Land eindringen würden. Ja, man munkelte gar, die Kannibalen-Nachbarn seien bereits von den Fulbe unterworfen worden, was diesen Wilden, die im Prinzip kaum mehr als räudige Hunde seien, aber nur recht geschehe. Frau Häuptling überlegte sogar, ob man nicht den Schutz des mächtigen Königs von Fumban erflehen solle, denn gegen diesen König aus dem sagenhaften Reich im Norden seien selbst die Fulbe machtlos. Überflüssig zu erwähnen, daß dieser Abend mit dem üblichen Tanz und Gesang ausklang.
Ich war froh, ein sauberes Lager zu haben. Die Negerhütten im Hochland, das muß an dieser Stelle gesagt sein, sind entgegen unserer allgemeinen Ansicht durchaus sauber. Die Frauen kehren und putzen täglich mehrmals. Die Hochlandneger stehen augenscheinlich auf einer höheren Zivilisationsstufe als die Wald- und Küstenbewohner. Sie begnügen sich nicht mit einfachen Lendenschurzen, sondern legen Wert auf vollständige Bekleidung, meist kunterbunte Gewänder. Ihre Weiber laufen selten so unzüchtig unbekleidet herum, wie es in Duala oder im Wald gang und gäbe ist.
Vielleicht lag es an dem reichlichen Palmwein, doch in dieser Nacht schlief ich das erste Mal wieder ruhig und wachte nicht von Fieberkrämpfen gebeutelt auf. Trotzdem war ich noch nicht stark genug, wieder auf meinen zwei Beinen sicheren Schritts Richtung Jokó zu gehen. Die Wunde verheilte zusehends. Mittlerweile wußte ich auch, was die geheimnisvolle Substanz war, die Robert außer Kräutern, Rinde und Wurzeln in die Heilpaste mischte: Urin. Ich hatte ihn einmal gesehen, wie er in den Topf pinkelte und war mir ganz sicher, daß dies keine Fieberphantasmagorie gewesen war. Doch da die Medizin ihre Wirkung nicht verfehlte, tat ich, als hätte ich nichts gesehen.
Als sich unsere kleine Karawane am nächsten Tag bei strömendem Regen in Bewegung setzte, kam die Anführerin noch einmal zu mir gelaufen und warnte mich ausdrücklich vor dem Nachbarstamm, der schon zwei Dörfer weiter hinter den Hügeln hausen würde und dessen Heißhunger auf Menschenfleisch geradezu legendär sei. Doch wie nicht anders zu erwarten, landeten wir weder zwei Dörfer weiter noch sonst irgendwo in einem Kochtopf.