Kitabı oku: «Die Knochennäherin», sayfa 3

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»Halt! Deinen Müll solltest du dir schon mitnehmen.« Traudl holte ihn auf der zweiten Stufe ein und drückte ihm seine Thermoskanne in die Hand, die er neben dem Waschbecken hatte stehen lassen.

Er grunzte etwas und ging mühsam weiter die Treppen hinauf. Oben musste er zunächst wieder die Toilette aufsuchen und sich übergeben. Dann betrat er die Herrenschneiderei und versuchte, den Blicken der Schneider auszuweichen. Er rang um Haltung, ging zu seinem Arbeitstisch und sah seinen Kollegen, den er für sich immer noch den Neuen nannte, obwohl der schon seit mehr als zwei Jahren hier arbeitete, verbissen lächelnd an.

»Du, Basti, ich muss zum Arzt. Mir gehts nicht gut.«

»Hmmm«, brummte der Angesprochene, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er zeichnete mit geübten Bewegungen einen Halbkreis auf den riesigen Bogen braunen Papiers, das auf seinem Arbeitstisch lag. »Du hast heute noch eine Anprobe mit Levent Demir für ›Kanakenbraut‹.«

»Weiß ich, Basti, weiß ich. Grad drum … tut mir auch wirklich leid. Aber mir geht’s gar nicht gut.« Er beugte sich vor, um den Blick von Sebastian Oßwald zu erhaschen. Doch der konzentrierte sich demonstrativ auf das Schnittmuster für ein Sakko, das er zeichnete, dabei pulsierte eine Ader an der Schläfe und seine Wangenmuskeln mahlten.

»Schon gut, Sepp. Ist dir wieder so wahnsinnig schlecht? Wieder alles bitter?« Sebastian sprach so beherrscht, als wäre es nicht gang und gäbe, dass sein Kollege ihn in der heißen Phase, wenn die Endproben und die fertigen Kostüme anstanden, im Stich ließ und eine Krankheit vorschob. Sebastian Oßwald konnte die Stunden zählen, in denen sein Kollege bei der Arbeit war, nicht umgekehrt. »Geh nur, Sepp. Ich mach die Anprobe mit Levent Demir. Soll ich morgen gleich noch die Anprobe mit Werner Androsch einplanen? Ich habe ja sonst nichts zu tun.«

Der letzte Satz peitschte durch die Luft wie ein Goaßlschnoizer. Die Schneider im Nebenraum, die durch die offene Doppelflügeltür jedes Wort mitbekamen, tauschten verstohlene Blicke, senkten die Köpfe über ihrer Arbeit und vermieden jedes Geräusch, um nichts zu verpassen. Keine Nähmaschine surrte, keine Bügelmaschine zischte, alle hatten plötzlich dringende Handarbeit zu erledigen.

»Tut mir ja leid, Basti, wirklich.« Sepp lächelte verkrampft. »Ich … morgen bin ich wieder auf dem Damm. Verlass dich drauf, gell, Basti.«

»Geh jetzt besser, Sepp. Morgen ist ein neuer Tag.« Sebastian Oßwald, der es hasste, wenn man ihn Basti nannte, zweiter Gewandmeister am Staatsschauspiel München, bebte vor Wut, biss sich auf die Lippen und freute sich auf den kommenden Tag, der einiges an Veränderung bringen würde. Dafür hatte er gesorgt. Er packte die Thermosflasche, die Sepp einfach auf seinem Arbeitstisch abgestellt hatte, und trug sie hinüber auf seines Kollegen Tisch. Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit und sah nicht auf, als Joseph Bloch, genannt Sepp, erster Gewandmeister am Staatsschauspiel München, das letzte Mal in seinem Leben die Herrenkostümwerkstatt verließ.

Sepp Bloch taumelte. Er kannte sich selbst nicht wieder. Sicher, sein Kollege hielt ihn für einen Hypochonder, doch was wusste der junge Hupfer schon von den Gebrechen des Älterwerdens! Diese Krämpfe. Womöglich sein zweiter Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Magendurchbruch? Er musste sich so sehr auf das Gehen konzentrieren, dass er niemanden wahrnahm, der ihm entgegenkam. Nicht Traudl, die die Toilette verließ und ihm einen bösen Blick hinterherschickte. Nicht Nives Marell, die nach Beendigung der Proben auf dem Weg zur ersten Anprobe für ihr Kostüm war und ihm »Hat dieses Leben nicht endlich genug von dir?« zuraunte. Nicht Werner Androsch, der mit seinem Kollegen Levent Demir vor dem Aufzug wartete und sich dann für die Treppen entschied, weil er mit Sepp Bloch nicht Lift fahren wollte. »Der Lift ist zu klein für uns beide«, sagte er schnippisch, als er Levent Demir und Sepp Bloch alleine die Kabine betreten ließ und sich abwandte.

»Was hat der denn?«, fragte Levent Demir.

Nun erst nahm Sepp den jungen Mann wahr. Er konnte kaum die Lider heben. Statt zu antworten, machte er eine fahrige Handbewegung.

»Ihnen geht es aber auch nicht gut, Sepp. Sie sollten zum Arzt gehen.«

»Schon gut«, sagte Sepp müde. »Bin auf dem Weg.«

»Brauchen Sie Hilfe? Sie sehen sehr mitgenommen aus.«

»Schon in Ordnung. Passt schon!«

»Dann macht der Sebastian später die Anprobe mit mir?«

Sepp Bloch nickte und schwankte nach draußen, als sich die Aufzugstür im Erdgeschoss endlich öffnete. Ihm entging, wie Levent Demir erleichtert ausatmete und gleichzeitig missbilligend den Kopf schüttelte.

Ein Bier – nein, erst einen Magenbitter, dann wird alles besser, dachte er, als er am Pförtner vorbeitaumelte, die wenigen Stufen zum Hof beinahe hinunterstürzte und über den düsteren Innenhof in Richtung Färberei steuerte. Meinen Jägermeister! Erst einen Jägermeister, dann geh ich zum Arzt.

04

Pfeffer blinzelte in die Herbstsonne, die tief über dem Wald hinter der Talsenke am Himmel stand. Ihr Licht goss sich golden über die bunt belaubten Bäume, die saftigen Wiesen in der Ferne und über das Wasser des kleinen Bachs, der träge hinter den hohen Pappeln floss, und es spiegelte sich kupfern in den Fenster des kleinen roten Baggers, der neben dem Erdhaufen parkte. Der Baggerarm mit der zinnfarbenen Schaufel schwebte wie ein krummer Zeigefinger gute zwei Meter über dem Erdboden. Vor dem Bagger standen zwei Arbeiter in schmutzigen Blaumännern und rauchten. Neugier lag in ihren Blicken, kein Anzeichen dafür, dass sie ihr Fund erschreckt oder auch nur irritiert hätte. Kommissarin Annabella Scholz befragte sie und machte sich dabei Notizen. Seit sie sich die langen Locken abgeschnitten hatte und eine Kurzhaarfrisur trug, seit sie sich ein wenig schminkte und vorteilhafter kleidete – kurz, seit sie glücklich verliebt war, fand Pfeffer seine Kollegin erheblich selbstbewusster. Statt der ruppigen Burschikosität, hinter der sie früher ihre Unsicherheit versteckt hatte, legte Annabella Scholz nun immer häufiger gelassene Souveränität an den Tag. Ab und zu verzog sie abschätzig den Mund und warf genervte Blicke zu Pfeffer hinüber.

Max Pfeffer blickte den Graben entlang, den die Arbeiter ausgehoben hatten. Eine kerzengerade Linie, die sich über die Nachbargrundstücke zog, mitten durch sorgsam angelegte, großzügige Gärten führte, Hecken, Mäuerchen und Zäune durchtrennte und abrupt in einem abgeernteten Gemüsebeet inmitten der Wiese endete, auf der er, seine Kollegin sowie ein Team von der Spurensicherung standen.

Das Beet und die Wiese gehörten zu einem herrlichen alten Bauernhof, der einige Hundert Meter weiter zur Ortsmitte hin stand. Der Hof grenzte unmittelbar an den großen Friedhof, der die Kirche des Heiligen Zachäus umgab. Das Gebäude mochte mehrere Hundert Jahre alt sein, so wie fast alle anderen Höfe im Ortskern von Zacherlkirchen. Alles aufwendig saniert und restauriert, alles unter Denkmalschutz. Schließlich war das südwestlich von München gelegene Dorf nicht nur ein regional einigermaßen bekannter Wallfahrtsort, sondern ein bayrisches Postkartenidyll. Detailgenau bis zu den Geranienkaskaden, die sich über die Balkone der alten Höfe ergossen. Natürlich wohnten längst keine Bauern mehr im alten Ortsteil. Reiche Emporkömmlinge der Umgebung, meist identisch mit den Gemeinderäten und deren Verwandtschaft, sowie wohlhabende Städter hatten sich in den historischen Höfen eingenistet, oder in den Neubaugebieten ihre Villen gebaut und genossen die ländliche Idylle einen Katzensprung vor den Toren Münchens. Bei der Fahrt in den Ort war Pfeffer die Armada von nicht geländefähigen Geländewagen deutscher und skandinavischer Luxusautobauer aufgefallen, die an der Straße und vor den Supermärkten parkte.

Pfeffer riss seinen Blick von der eingerüsteten Wallfahrtskirche los, die hinter den Obstbaumwipfeln sichtbar war. Sie thronte auf dem Hügel hinter der meterhohen natursteinernen Friedhofsmauer. Pfeffer trat an den Rand des Grabens und blickte hinunter. Zwei Köpfe tauchten auf, dann richteten sich die beiden Personen im Graben ganz auf.

»Nichts«, sagte Rechtsmedizinerin Doktor Gerda Pettenkofer. »Ich habe wirklich nichts mehr gesehen.« Sie streckte Pfeffer ihre beiden Hände entgegen, damit er sie herausziehen konnte. Der Graben war zwar nur ungefähr hüfttief, doch Gerda Pettenkofer folgte der Devise, dass Sport Mord sei und hatte Essen zu ihrem Hobby erklärt. Allein würde sie es nie herausschaffen.

»Gerda in der Grube«, sang Max Pfeffer leise zu der Melodie von »Häschen in der Grube« und half ihr aus dem Graben. Ihre dünnen Einmalhandschuhe quietschten leise.

»Du, mein starker Held«, schnaufte die Medizinerin. »Also, ich glaube nicht, dass wir da drin weitere Knochen oder sonstige Hinweise finden werden.« Sie klopfte sich etwas Erde von der Hose. »Sie, Doktor Keppler?«

»Nein«, antwortete der magere grauhaarige Mann mit den schlecht sitzenden Kakihosen und dem rostfarbenen Rollkragenpullover, der nun behände aus dem Graben kletterte. Er mochte um die fünfzig Jahre alt sein. Sein fransiger, kleiner Schnurrbart war vom Rauchen vergilbt. Auf dem Kopf trug er eine billige, verblasste rote Baseballkappe, auf der in schmutzig gelben Lettern ›MacGyver‹ stand. »Nein, ich bin auch sicher, dass wir alles haben.«

Die Rechtsmedizinerin zündete sich eine Zigarette an. Sie bot Pfeffer einer alten Gewohnheit folgend auch eine an und murmelte dann: »Ach, du rauchst ja nicht mehr.« Doch zu ihrer Überraschung nahm er an. »Doch wieder?«, fragte sie mit aufgerissenen Augen.

»Ja. Frag nicht. Es passierte einfach so.«

»Das hast du auch damals behauptet, als du einfach so aufgehört hast. Nichts passiert einfach so.«

»Doch. Ich rauche wieder seit zwei Monaten. Einfach so. Weil ich eines Morgens Lust drauf hatte. Übrigens – diesmal nicht heimlich. Wir haben uns auf fünf am Tag geeinigt, und ich kann es einhalten. Kein Problem.« Pfeffer inhalierte und konzentrierte sich auf den beißenden Zigarettenqualm in seinem Rachen, denn er fand, dass der Mann, der aus dem Graben gestiegen war, höchst unangenehm roch. Er schwoaßelte nicht, wie man auf Bayrisch über einen ungepflegten, nach altem Schweiß riechenden Menschen sagte – das wäre zu harmlos gewesen. Er stank. Nach wochenlang getragener Unterwäsche und Seifenallergie, einfach nach Stink.

Kommissarin Annabella Scholz gesellte sich zu der Gruppe. »Das sind vielleicht zwei Herzchen.« Sie deutete zu den beiden Blaumännern und verdrehte die Augen.

»So, Frau Doktor«, sagte Pfeffer, »erzählen Sie doch bitte mal, was wir wissen sollten.«

»Darf ich erst einmal Doktor Jens-Uwe Keppler vom Landesamt für Denkmalpflege vorstellen?« Man schüttelte sich die Hände. »Okay, folgendes Szenario: Unsere beiden Blaumänner dort graben einen Graben, heben mit der Schaufel schön Kubikmeter für Kubikmeter Erde heraus und häufeln sie neben dem Graben auf, denn der Graben soll ja später wieder zugeschüttet werden. Da plötzlich fällt dem Baggerführer auf, dass mit dem letzten Aushub nicht nur Steine und Erde aus der Schaufel fallen, sondern auch ein Knochen. Er denkt sich noch nichts dabei. Könnte ja auch von einer Kuh sein. Doch zwei Schaufelstiche später ist ein Schädel dabei, der eindeutig keiner Kuh zuzuordnen wäre. Nun denkt sich der Mann: Holla, da sollte ich mal zu baggern aufhören und die Polizei anrufen. Voilà, da sind wir.«

»Du solltest Polizeireporterin werden«, sagte Pfeffer. »So packend, wie du erzählst.«

»Spotte nur, Maximilian Pfeffer. Kurz gesagt, wenn der Gute etwas früher aufgehört hätte zu baggern, dann hätten wir auf jeden Fall mehr in der Hand. Aber so! Er hat ganz eindeutig ein komplettes menschliches Skelett aus der Erde geholt und schön verstreut.« Sie deutete hinüber auf die Wiese, wo auf einer schwarzen Plastikplane ein Skelett lag. »Die Kollegen von der Spurensicherung haben alles durchwühlt und jeden Knochen dort zusammengetragen. Ich habe mal grob die natürliche Lage nachgelegt und nachgezählt, es dürfte alles da sein. Es scheint komplett. Ohne Gewähr. Und nun die große Rätselfrage!« Sie zeigte auf das Becken. »Wir haben: schmaler Beckeneingang, kräftige Schambeine, schmale Einbuchtung zwischen der hinteren Sitz- und Darmbeinkante.« Ihr Zeigefinger wanderte zum Schädel. »Recht vorstehende Brauenwülste, stumpfe Orbitalränder und große Knochenleisten …« Sie brach ab und sah Pfeffer auffordern an. »Was schließen wir daraus?«

»Alles klar.« Pfeffer tat so, als wüsste er Bescheid. Männlein oder Weiblein. Seine Chancen standen fifty-fifty. »Also ein Bilderbuchmann.«

»Treffer, Pfeffer. Ein Mann. Außerdem nicht sehr groß, vielleicht um die einssechzig bis einsfünfundsechzig. Nach dem Zustand der Schambeinfugen würde ich sagen, dass er zwischen dreißig und vierzig Jahre alt gewesen sein dürfte. Aber da lege ich mich noch nicht fest. Da das Skelett komplett scheint, hat es meiner Meinung nach also wenig bis keinen Sinn, wenn die Kollegen nun noch das Loch weiter ausgraben und weitersuchen. Zumal es so scheint, als wärt ihr ganz umsonst gekommen, Maxl.«

»Wieso?«

»Nun, mir kam gleich ein Verdacht. Darum habe ich den Staatsanwalt gebeten, Doktor Keppler zu informieren. Wir erinnern uns? Er ist vom Landesamt für Denkmalpflege. Normalerweise schicken die bei solchen Funden einfach einen Grabungsleiter oder Grabungstechniker, doch Doktor Keppler ist sogar Archäologe.«

»Wir leiden momentan unter Personalmangel«, mischte sich nun der Archäologe ein, während er eine Pfeife stopfte. »Außerdem lebe ich hier in Zacherlkirchen, da lag es nahe, dass ich vorbeischaue. Frau Doktor Pettenkofer war so freundlich, mich rufen zu lassen, denn allem Anschein nach haben wir es hier mit keinem aktuellen Todesfall zu tun.« Er deutete auf die Grabenführung. »Sehen Sie, der Bagger hat das komplette Skelett ausgehoben. Ein Zufall, sicherlich, der jedoch gut zu meinem Verdacht passt. Wenn es sich um eine normale Bestattung gehandelt hätte, wäre die Leiche ausgestreckt in der Erde gelegen, ein kompletter Aushub wie dieser wäre also ein sehr, sehr großer Zufall. Praktisch unmöglich. Doch die Schaufel hat mit nur wenigen Bewegungen das komplette Skelett ausgehoben. Meiner Ansicht nach handelt es sich hier eindeutig um eine Sekundärbestattung. Die Knochen wurden als kleines Bündel arrangiert und dann in einem flächenmäßig recht kleinen Grab beigesetzt. Es gibt keine Spuren an den Knochen, zumindest soweit wir das bisher beurteilen konnten. Außerdem keine Beigaben, keine Kleidung, kein Schmuck, nichts. Erstaunlicherweise ist das Gebiss fast komplett, nur der obere linke Schneidezahn fehlt, dafür haben fast alle Backenzähne Karieslöcher. Weder Plomben, noch Kronen oder Füllungen. Nichts.« Er steckte sich die Pfeife in den Mund und zündete sie umständlich mit einem silbernen Feuerzeug an.

»Auch keinerlei Gewebeanhaftungen, keine Hautreste, Fleisch oder Ähnliches«, ergänzte die Rechtsmedizinerin. »Alles weg.«

»Der Tote wurde schon einmal woanders begraben, ausgegraben und dann wieder hier beigesetzt?«, fragte Annabella Scholz und notierte etwas auf ihrem Block.

»Höchstwahrscheinlich bis sicher«, antwortete Doktor Keppler. »Nun macht das Fehlen jeglicher Kleidung, jeglicher Beigaben eine Zuordnung und vor allem eine Altersbestimmung wahnsinnig schwer. Außerdem hat der Bagger zwar die Erdschichten freigelegt …« Er deutete in den Graben. »Doch wir wissen bekanntlich nicht, in welcher Schicht die Knochen lagen. Wir können daher auch nicht nachvollziehen, ob jemand erst kürzlich eine Grube ausgehoben hat. Der Bagger hat für meine Arbeit zu großen Schaden angerichtet. Außerdem ist die Fundstelle ausgerechnet ein Gemüsebeet.« Er bückte sich und hob eine verschrumpelte Karotte hoch. »Offenbar gelbe Rüben. Da sind die obersten Schichten vermutlich eh oft umgegraben worden. Dazu noch der Bach da hinten, die Laff. Die hat in den letzten zehn Jahren viermal starkes Hochwasser geführt, da war alles bis fast an die Häuser heran überflutet. Da wurden sicher Erdschichten abgetragen oder angeschwemmt. Sie sehen, gar nicht so einfach. Doktor Pettenkofer und ich sind uns aber auf jeden Fall darin einig, dass nach optischer Begutachtung des Fundes der Tote mehrere Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte … ähm … ja … eben tot ist!«

»Ein historischer Fund?« Pfeffer sah die Rechtsmedizinerin fragend an. »Dann wären wir hier wirklich überflüssig.« Er erinnerte sich an einen ähnlichen Fall in seiner Karriere. Da hatte man in einem noblen Münchner Vorort mitten im Vorgarten der Doppelhaushälfte eines Lehrerehepaares bei Kanalarbeiten ein Skelett gefunden. Pfeffer war damals als ermittelnder Kommissar hinzugezogen worden. Doch dann fand die Spurensicherung einen goldenen Ring sowie zwei Tonkrüge. Ein herbeigerufener Mitarbeiter des Landesamts für Denkmalpflege hatte die Fundsachen sofort ins erste Jahrhundert nach Christus datieren können, und damit hatte das Lehrerehepaar in seinem Vorgarten einen toten Kelten, kein Mordopfer.

Daher fragte Pfeffer: »Was meinen Sie? Keltisch? Bronzezeit?«

Der Archäologe schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht. Es fehlen die Grabbeigaben. Natürlich kann es sein, dass irgendwelche Grabräuber ein keltisches Grab geplündert, alles mitgenommen und die Gebeine dann in einer Grube entsorgt haben. Alles möglich!«

»Dann wäre es aber auch möglich, dass wir es hier doch mit einem Mordopfer zu tun haben und die Behörden sehr wohl ermitteln müssen, oder?« Pfeffer sah den Wissenschaftler durchdringend an. »Wenn ich zusammenfasse, dann könnte es sein, dass ein historischer Fund vorliegt. Könnte reicht mir nicht. Konjunktive sind ein schwaches Argument. Selbst wenn wir es hier mit einem Verbrechen zu tun haben, das mehrere Jahre oder einige Jahrzehnte zurückliegt, müssen wir ermitteln.« Er ging langsam zu dem Skelett auf der schwarzen Folie und betrachtete es. Karamellbonbonfarbene Knochen. Pfeffer kamen sie alt vor, was aber nur an der leicht gelblichen Farbe lag. Was hatte er erwartet? Ein strahlend weißes Gerippe? Gebleicht von der erbarmungslosen Sonne des Llano Estacado wie bei Karl May? Neben den Gebeinen lagen auf einer kleineren gelben Folie ein paar Gegenstände, die die Spurensicherung bisher aus den Erdhaufen herausgefiltert hatte: vier Kronkorken verschiedener Münchner Biere, zwei große Scherben einer Colaflasche, ein paar kleine blau-weiße Porzellanscherben, das Skelett eines Maulwurfs, ein Zehnpfennigstück von 1952, eine verrostete Gabel, einige krumme, verrostete Nägel und das vermoderte Stück eines Balkens.

»Nicht sehr keltisch«, sagte Kommissarin Scholz und sah dann auf, weil sich die beiden Blaumänner der Gruppe näherten.

»Chef«, sagte der kräftigere Blaumann zu Max Pfeffer und grüßte lässig, indem er die Hand kurz anhob. »Können wir jetzt abhauen? Oder braucht ihr uns noch?«

»Wofür ziehen Sie hier den Graben?«, fragte Pfeffer.

»Neue Glasfaserkabel der Telekom«, antwortete der Blaumann. »Und Kanalisation für die Gebäude der Kirche da drüben. Das ist die Strecke, in der sie in den Fünfzigern mal die Kanalisation und Wasserversorgung angelegt haben. Der alte Kanal ist total marode. Habe ich eben Ihrem Frollein Kollegin schon erzählt.« Er sah Annabella Scholz provozierend an, wartete auf eine Reaktion. Doch die Kommissarin erwiderte seinen Blick ruhig und teilnahmslos.

»Quer durch die Gärten?«, fragte Pfeffer. »Nicht vorne an der Straße?«

Der Arbeiter zuckte mit den Schultern. »Ist wohl die kürzere Strecke, oder?«

»Na, wenn der Graben einem alten Graben folgt, können wir das mit den Erdschichten eh vergessen«, warf Doktor Keppler ein.

»Was haben Sie eigentlich sonst noch so gefunden mit Ihrem Bagger?« Pfeffer deutete den Graben entlang.

»Nix. Was soll man schon finden?« Der Blaumann steckte die Hände in die Taschen. »Kronkorken, Scherben und immer wieder Bauschutt, der irgendwann einfach entsorgt wurde. Das übliche. Da drüben, zwei Häuser weiter, waren lauter alte Badezimmerkacheln verbuddelt. Mann, das waren früher Bauernhäuser, da wurde auf dem eigenen Grund entsorgt. Da hat niemand nach gefragt.« Er deutete mit der Fußspitze auf das Skelett. »Wer weiß, vielleicht hat irgendjemand mal einem alten Bauern nicht den Austrag gegönnt …«

»Den was?«, fragte Annabella Scholz.

»Den Austrag.« Der Blaumann feixte. »Sie sind nicht vom Land?«

»Nein.«

»Der Austrag ist das Altenteil für Bauern«, sagte Max Pfeffer zu seiner Kollegin. »Wenn der alte Bauer dem jungen den Hof übergeben hat, dann zieht er sich ins kleine Austragshäusl zurück und lebt nur noch von dem, was ihm der junge Bauer zugesteht. Deshalb weigern sich viele Bauern, jemals in Austrag zu gehen.«

»Verstehe.« Die Kommissarin nickte.

»Ich denke, dass ein toter Austragbauer sicherlich vermisst worden wäre«, sagte Pfeffer. »Besonders hier auf dem Land.«

»Besonders hier auf dem Land?« Der Blaumann lachte dümmlich, und sein Kollege grinste verschämt. »Hier werden Sachen, die niemand vermissen will, von niemandem vermisst.«

»Sachen?«

»Sachen. Und Menschen halt.«

Pfeffer winkte einen Kollegen der Spurensicherung herbei. »Wenn Sie mit der Bestandsaufnahme an der Oberfläche fertig sind, graben Sie in einem zehn Meter Radius um die Fundstelle. Hier, die beiden Herren haben sicher noch ein wenig Zeit und außerdem einen Bagger. Wer weiß, vielleicht finden wir da eine Spur.« Er wandte sich zu dem Archäologen. »Oder vielleicht ein keltisches Gräberfeld.«

Heinrich Keppler seufzte. »Hoffentlich nicht! Wer sollte das denn sichten?«

»Weiß der Staatsanwalt …«, begann der Kollege von der Spurensicherung.

»Darum kümmere ich mich schon«, beruhigte Pfeffer. »Graben Sie.«

»Dabei können wir aber keinen Bagger brauchen, das muss mit Schaufeln gemacht werden«, grummelte der Mann von der Spurensicherung und entfernte sich mit den Blaumännern.

»Was passiert mit unserem Herren hier?« Die Rechtsmedizinerin deutete auf die Gebeine. »Soll der nun zu mir in die Asservatenkammer oder zu euch ins Museumsarchiv?«

»Als ob wir nicht schon genug Leichen im Keller hätten«, witzelte Doktor Keppler und schmauchte an seiner Pfeife. Keiner lachte. »Im Ernst. Funde wie dieser kommen in eine Kiste, fein säuberlich archiviert, und landen dann im Keller. Vielleicht nimmt sich irgendwann mal ein Student seiner an. Oder auch niemand. So unspezifische Funde interessieren keinen wirklich.«

»Dieser Herr hier kommt nicht in Ihren Keller, Doktor Keppler, dafür gibt es mir zu viele Konjunktive, sondern zu dir, Gerda«, sagte Pfeffer bestimmt. »Dass er keine Zahnplomben oder Kronen hat, hat nichts zu sagen, oder? Die können rausgebrochen worden sein. Kann man überprüfen, oder? Also eine Aufgabe für dich.«

»Maxl, unser Kandidat ist augenscheinlich lange, lange, laaaaange tot. Wirklich lange. Zur genauen Altersbestimmung brauchen wir meiner Meinung nach eine C-14-Analyse«, warf die Rechtsmedizinerin ein und drückte ihre Zigarette in einem kleinen Taschenaschenbecher aus.

»Und?« Pfeffer zuckte mit den Schultern.

»Wer zahlt das? Das kostet eine Kleinigkeit.«

»Das entscheidet der Staatsanwalt. Ich will nur auf Nummer sicher gehen.«

»Wem gehört eigentlich dieser Traum vom Landleben, Bella?«, fragte Max Pfeffer, während er und seine Kollegin vom Gemüsebeet weg über die Wiese Richtung Gebäude gingen. Das Gelände stieg sacht an. Ein paar alte Obstbäume standen verstreut herum. Unter einem Apfelbaum, dessen Zweige sich vom Gewicht der gelb-roten kleinen Äpfelchen gen Boden bogen, summte und brummte es: Bienen und Wespen labten sich an den abgefallenen Äpfeln, die halb verfault auf der Erde lagen. Die Zwetschgenbäume hingegen schienen bis auf wenige Früchte, die hoch oben in den Kronen noch bläulich schimmerten, komplett abgeerntet. Zwischen dem Haupthaus und den beiden Nebengebäuden, da, wo in alten Höfen sonst ein Bauerngarten angelegt war, hatte der Besitzer ein lauschiges Terrassenparadies mit Terrakottakübeln voller Wandelröschen-Bäume und Oleander unterschiedlichster Farben geschaffen.

»Der Hof gehört einer gewissen …«, Annabella Scholz blätterte in ihrem Block herum. »Hat so einen komischen Namen, einen ganz komischen … hier: Nives Marell.«

»Nives Marell?« Pfeffer pfiff durch die Zähne. »DIE Nives Marell? LA Nives?«

»Ja, vermutlich, was auch immer du mit DIE oder LA meinst. DIE oder LA ist übrigens nicht da. Es ist gar niemand da. Die Kollegen haben aber schon mit ihr gesprochen. Sie weiß Bescheid, sie ist noch in der Stadt unterwegs. Kommt morgen früh zu uns ins Präsidium.«

»Dann gehen wir einfach mal zu den Nachbarn. Und bitte, erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, wer Nives Marell ist! So häufig ist der Name wohl nicht, Bella. Noch dazu, wo jetzt dein Hase mit ihr auf den Brettern steht, die die Welt bedeuten.«

»Levent mit Nives Marell? Ach, die soll das sein?! Nives Marell. Klar, logisch. Dann hatte sie heute Proben am Theater. Müssten aber schon vorbei sein.« Annabella Scholz sah auf ihre Uhr. »Levent guckt sich momentan alle Fritz-Roloff-Filme an. Teilweise happige Kost. Ehrlich gesagt, kannte ich die Marell vorher gar nicht. Nie von der gehört.« Die Kommissarin war zu jung, um die Glanzzeit der Nives Marell erlebt zu haben. Sie machte auch keinen Hehl daraus, dass sie in manchen kulturellen Aspekten mit ihrem Lebensgefährten Levent Demir nicht mithalten konnte und wollte. Die als künstlerisch wertvoll gehandelten Filmemacher-Filme der Sechziger- und Siebzigerjahre langweilten sie bis ins Mark.

Ihr Freund Levent war ein bekannter TV-Star, der jahrelang mit seiner Action-Krimi-Serie ›Mörderischer Einsatz‹ Traumquoten erzielt hatte. Doch Levent Demir war auch ein Künstler, ein ernsthafter Schauspieler, der sein Handwerk an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule gelernt hatte und mit der Rolle des muskelbepackten Testosteronbullen, der erst schießt und dann denkt, mehr als unterfordert war. Er war unglaublich stolz, als er die Rolle des Kanaken in der Jubiläumsinszenierung von ›Kanakenbraut‹, dem berühmten Erstlingswerk von Fritz Roloff, bekommen hatte. Noch dazu am Residenztheater, einer der führenden Bühnen Deutschlands, in einer Inszenierung des Intendanten Hannes Wachsmuth. Ein Ritterschlag. Als absolutes Highlight dann auch noch die Tatsache, dass das Stück mit alten Weggefährten von Roloff realisiert wurde – allen voran der legendären Nives Marell. Levent schwebte seitdem auf Wolke sieben und haderte nicht einmal damit, dass er gut die Hälfte der Zeit seines Auftritts nackt sein musste. Er sah sich jeden Roloff- und jeden Marell-Film an, der im Fernsehen lief. In der Regel im Nachmitternachtprogramm.

Annabella schaute oft mit, meist total gelangweilt. Einmal rutschte ihr ein ›ödes Betroffenheitsgesumse aus den Siebzigern‹ raus, da wurde Levent richtig wütend und nannte sie ohne einen Funken Ironie einen »ignoranten Eisklotz aus den Zweitausendern«. Dabei hatte sie sich noch nicht einmal über die – ihrer Meinung nach – laienhafte Schauspielerei der Akteure und die stümperhaften Dialoge mokiert. Es kostete sie nach Ende des Films auf dem Sofa noch alle erdenkliche Mühe, ihm zu beweisen, dass sie kein Eisklotz war. Er grollte und widerstand erstaunlich lange, musste sich letztlich aber geschlagen geben. Wie sie ihn liebte, wenn er unter ihr lag und sich vergaß, während sie sich mit den Händen auf seiner breiten Brust abstützte und den Takt vorgab. Am folgenden Tag kaufte er eine DVD-Sammlung mit Roloff-Filmen, und sie sahen jeden Abend erst einen Film an und liebten sich dann auf dem Sofa. Roloff hatte glücklicherweise ein umfangreiches Werk hinterlassen.

»Fritz Roloff hat bestimmt ein Dutzend Filme mit Nives Marell gemacht. Sie war sein Star«, sagte Pfeffer, als sie zwischen Oleandern standen und sich umsahen.

Das Gebäude links von ihnen war einst ein Stall gewesen, nun diente es vermutlich als Garage, Abstellraum und Rumpelkammer. Das rechte Haus war früher wohl eine Kombination aus Scheune und angebautem Austragshäusl. Jetzt schien das Häusl als Gästehaus hergerichtet zu sein. In der Scheune, die durch mächtige Holztore verschlossen war, vermutete Pfeffer ein Schwimmbad. Neureiche tendierten dazu, in die Scheunen alter Höfe Pools einzubauen. Wahrscheinlich verbargen sich hinter den Holztoren bodentiefe Glasfenster. Vor den Toren war ein großes Rechteck flach in den Boden gegraben. Ein Sandhaufen, ein kleinerer Kieshaufen sowie säuberlich aufgestapelte Pflastersteine verrieten, dass hier eine neue Terrasse angelegt wurde. Neben den Pflastersteinen standen eine Rüttelmaschine sowie ein Stampfer.

Die beiden Kriminaler passierten den schmalen Durchgang zwischen Garage und Hauptgebäude und näherten sich über den gepflasterten Vorplatz dem Eingangstor. Das Tor war von den Kollegen aufgebrochen worden, damit die Spurensicherung nicht den ganzen Weg über die Wiesen nehmen musste.

Der Bauernhof, den die alternde Schauspielerin Nives Marell bewohnte, grenzte an den großen Dorfplatz, der sacht zu dem Hügel anstieg, an dessen Fuß der Kreuzweg begann und auf dem die Wallfahrtskirche stand. Um den Platz herum gab es vier Wirtshäuser, ebenso viele Cafés, drei große Hotels (alle in historischen Gebäuden) sowie zahllose Devotionalien- und Souvenirläden, in denen die Pilger ihr Geld loswerden konnten, nachdem sie beim Heiligen Zachäus von Palmyra oben in der Kirche ihre Gebete, und nicht selten ihre Wunschkataloge für ein besseres Leben, losgeworden waren. Die Häuser, die Richtung Kirche unmittelbar an den Marell-Hof grenzten, waren preisgünstige Massenherbergen für Pilger, die der Kirche gehörten, daneben das Gemeinde- und das Pfarrhaus. Schmuck renovierter Spätbarock.

Pfeffer fiel auf, dass das Anwesen der Diva, obwohl mitten im Ort gelegen, beinahe nicht einsehbar war. Vorne die Mauer mit der Einfahrt, auf der einen Seite die hohe Mauer des Nachbarhofs, auf der anderen Seite die fensterlose Rückwand der kirchlichen Herbergen, danach dann der Friedhof mit seiner ungewöhnlich hohen Mauer. Den Blick vom Hügel der Wallfahrtskirche versperrten wiederum die Herbergshäuser. Wer hier wohnte, konnte sich ganz zurückziehen und blieb vom Pilgertrubel unbehelligt. Wem nach Menschen war, musste nur nach draußen gehen, um mitten im Leben zu stehen. Vom Dorfplatz und damit vom Hof weg führte die Straße Richtung Ortsausfahrt. Mehrere historische Gehöfte zu beiden Seiten der Straße und dann, je näher man den Ortsschildern kam, die unvermeidlichen Bausünden der Fünfziger bis Siebziger sowie ein Neubaugebiet. Vor dem Ortschild die großen Parkplätze für die Busse, denn im Ort herrschte Lkw- und Busfahrverbot.

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