Kitabı oku: «Die Knochennäherin», sayfa 5
07
Werner Androsch ließ das Textbuch von »Kanakenbraut« auf den Schoß sinken und seufzte. Er hatte immer noch Textunsicherheiten, obwohl sie sich schon mit riesigen Schritten den Endproben näherten. Besonders im zweiten Akt kam er immer wieder raus. Er konnte und wollte sich einfach nicht darauf verlassen, dass Nives ihm als Souffleuse diente. Sie beherrschte alle Dialoge auswendig, flüsterte ihm die Stichworte zu, wenn er hing. Auch er hätte eigentlich den kompletten Text von »Kanakenbraut« auswendig können müssen, schließlich hatte er früher auf der Bühne und im Film den Türken gespielt.
Werner Androsch starrte aus dem Fenster. Die beleuchteten Türme der Giesinger Kirche zeichneten sich gegen den indigoblauen Nachthimmel ab. Der Schauspieler liebte diesen Blick, er hatte damals den Ausschlag gegeben, diese Wohnung am Roecklplatz zu kaufen. Bei Tag konnte man die ganzen Isarauen überblicken, bei Föhn rückten die Alpen greifbar nah heran.
Der Schauspieler trommelte nervös mit den Fingern der rechten Hand auf die Sesselarmlehne. Nicht hinsehen, sagte er sich, nicht hinsehen. Es funktionierte nicht. Natürlich musste er hinsehen. Die Autosuggestion, die ihm sein Therapeut, zu dem er längst nicht mehr ging, in jeder Sitzung aufs Neue empfohlen hatte, funktionierte einfach nicht. Werner Androsch sah hin – er sah zu dem naturweißen Vorhang, der links neben dem großen Panoramafenster in akkuraten Falten hing. Sein Blick wanderte hinauf zu der Vorgangstange und den Metallringen, die den Vorhang hielten.
Nicht, sagte er zu sich, nicht. Lass es nicht zu. Es ist alles in Ordnung. Alles bestens!
Doch nichts war in Ordnung. Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, dann über die pomadigen Haare. Er hielt es nicht mehr aus. Er sprang auf und lief hinaus auf den Balkon. Die kühle Nachtluft kroch in seine Poren. Er schloss kurz die Augen. Sofort wurde ihm schwindelig und er riss sie panisch wieder auf. Unentschlossen zupfte er ein paar verwelkte Blüten von der roten Geranie und entsorgte sie in der kleinen braunen Biotonne. Als er wieder in die Wohnung zurückging, vermied er jeden Blick hinüber zum Vorhang. Werner Androsch begab sich schnurstracks in die Küche. Eigentlich war es nur eine Kochnische, die schlauchartig vom Wohnzimmer abging. Aus der untersten Schublade, in der er sein Werkzeug aufbewahrte, holte er das Metermaß. Für einen Moment zögerte er noch, warf das Maßband spielerisch von einer Hand in die andere. Er stand mit dem Rücken zum Fenster. Doch es half nichts, der Drang war stärker. Werner Androsch drehte sich um, schob einen Stuhl vor das Fenster und stieg hinauf. Er legte das Maß an und überprüfte die Abstände zwischen den Metallringen, die den Vorhang hielten. Er korrigierte vorsichtig mit den Fingerspitzen den einen oder anderen Ring. Hatte er sich doch nicht geirrt: Hier und da hatte sich der Abstand um ein bis zwei Millimeter verändert. Dabei hatte er erst am Vormittag kontrolliert. Wie jeden Vormittag, denn bevor Werner Androsch das Haus verließ, maß er immer den exakten Sitz der Vorhangringe nach. Ebenso die Breite der Falten, die der Stoff warf, die er nun ebenfalls überprüfte und korrigierte.
Wie konnte es sein, dass der Vorhang jeden Abend ein paar Millimeter anders hing, als er ihn morgens arrangierte?
Er wusste ganz objektiv, dass es völlig egal sein konnte, ob der Vorhang millimetergenau in Falten gerafft war. Das hatte er auch seinem Therapeuten gegenüber zugeben müssen. Doch das Wissen half ihm nichts. Der Zwang kümmerte sich nicht darum, er war stärker. Immerhin gab es Tage, so wie diesen, da schaffte Werner es, eine Zeitlang zu Hause zu sein, Essen zu machen, fernzusehen, zu lesen, ohne dass er sofort seinem Tick nachgeben musste. Für Werner Androsch war das ein enormer Fortschritt. Die Sache mit dem Vorhang war freilich nur einer von zahllosen Ticks in seinem Leben.
Als das Telefon klingelte, fiel ihm vor Überraschung das Maßband aus der Hand. Er starrte auf den Apparat. Sollte er rangehen? Er entschied sich dagegen. Es könnte allerdings Sabine sein. Der Anruf, den er sehnlich erwartete. Er stieg letztlich vom Stuhl und nahm das Gespräch an.
»Herzlichen Glückwunsch!«, zwitscherte eine fröhliche Frauenstimme. »Sie haben gewonnen!«
»Äh, wie?«, stammelte Werner Androsch irritiert. »Gewonnen?«
Die Frauenstimme quasselte einfach weiter, ohne auf seinen Zwischenruf einzugehen. Erst als sie sagte »Wenn Sie Ihren Gewinn abrufen wollen, drücken Sie jetzt bitte die Eins auf Ihrer Telefontastatur«, dämmerte es Werner und er legte wütend auf. Sofort klingelte es erneut. Diesmal ließ er es so lange läuten, bis der Anrufbeantworter ansprang. Wenn es wirklich Sabine sein sollte, würde sie ihm auf Band sprechen.
»Werner, bist du zu Hause?«, fragte leise eine Frauenstimme. »Wenn ja, geh bitte ran. Es ist wichtig.«
Pause.
»Es ist wegen Sepp«, sagte die Frau.
»Ja, ich bin da«, meldete sich der Schauspieler schließlich doch und stoppte den Anrufbeantworter. Er hatte die Stimme nicht wirklich erkannt, doch sie erinnerte ihn an eine Bekannte aus seiner Vergangenheit.
»Hallo, ich bins, Traudl.«
Werner Androsch sortierte gedanklich in Windeseile sein Adressbuch. Eine Traudl kam darin nicht vor. Zumindest nicht beim Schnellscan. »Traudl?«
»Ja. Weißt schon. Traudl Sonnenbichl.«
»Traudl«, sagte Werner überrascht. Er erinnerte sich an die Schneiderin, die früher, ganz, ganz früher zu ihrer Clique gehört hatte. Schlagartig erschien das Bild einer aufgedonnerten Landpomeranze mit einem weißblonden Storchennest auf dem Kopf vor seinem inneren Auge, die die gewagtesten Minikleider trug und in Schwabinger Nachtclubs mit Nives Marell oder Fritz Roloff oder auch mit ihm auf den Tischen tanzte. Das war über dreißig Jahre her. Wie sie wohl nun aussah? Nun, das hatte er bereits gehört, arbeitete sie ebenfalls am Residenztheater, allerdings im Gegensatz zu ihm in Festanstellung. Noch war er ihr nie bei den Proben begegnet.
»Erinnerst dich noch ein wenig an mich, gell, Werner?« Traudl Sonnenbichl flüsterte, ganz entgegen ihrer früheren Angewohnheit. Werner hatte sie als laut und lärmend in Erinnerung. »Grad hat mich der Erwin von der Nachtpforte angerufen. Sie haben den Sepp gefunden.«
»Sepp? Sepp Bloch? Wie gefunden?«
»Tot.«
»Oh.« Werner Androsch knete sich die Unterlippe. Traudl Sonnenbichl würde von ihm keine Betroffenheitsshow erwarten. »War ja eh nur eine Frage der Zeit, bis er sich totsäuft …«
»Er steckte mit dem Kopf im Färbetrog, drunten in der Färberei. Eine Praktikantin von der Oper hat ihn gefunden.«
»Warum rufst du mich deshalb an?«
»Ich dachte, es würde dich interessieren.«
»Alles, was mit Joseph Bloch zu tun hat, ist für mich absolut uninteressant. Auch sein Tod.« Werner Androsch fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Entschuldige, Traudl, aber … mir ist der Sepp egal … Das mag für dich hart klingen.«
»Nein, nein, Werner, klingt es nicht. Er war mir auch … egal …«
»Du hast ihn gehasst, Traudl. Das wusste jeder.«
»Ja, du aber auch. Nun ist er tot.«
»Dann freu dich doch.«
Traudl Sonnenbichl lachte trocken. »Du bist wie immer, Werner. Bloß nichts und niemanden an dich ranlassen.« Sie stockte. »Hast du … hast du vielleicht Lust, dich noch auf ein Bier mit mir zu treffen? Ich gehe gleich noch ins Trinkkisterl. Weißt, wo das ist?«
Werner wusste das nur zu gut. Er sah die speckige, heruntergekommene Eckkneipe in der Frauenlobstraße vor sich, sah die talgigen, verbrauchten Gesichter der Im-Leben-zu-kurz-Gekommenen, die das Stammpublikum bildeten, hörte die schlechte Schlagermusik, die aus alten Boxen schepperte und roch den Dunst aus Rauch und Alkohol. Er war zu oft im Trinkkisterl gewesen. Wenn das nun auch Traudls Stammkneipe war, warum hatte er sie dort nie gesehen? Nun beantwortete er ihre Frage mit einer Lüge. »Nein, kenn ich nicht.«
»Nicht? Na, ich geh da auch fast nie hin. Mir war nur grad so danach. Meist geh ich zu Biggi ins Walther-Stüberl in der Waltherstraße. Da können wir auch hin, wenn du willst.«
»Nein, Traudl, danke, ich will nicht.«
»Oh, na gut, dann geh ich eben allein. Aber erst werde ich noch den Sebastian anrufen.«
»Wen?«
»Meinen neuen Chef. Du kennst ihn, er übernahm immer die Anproben, wenn Sepp nicht da war. Sebastian Oßwald, unser Gewandmeister. Nives habe ich bisher noch nicht erreicht.«
08
»Kann mal bitte jemand den Toten abdecken?«, sagte Max Pfeffer barsch und deutete auf den Leichnam, dessen Gesichtszüge aussahen, als wären sie von einem modernen Künstler in Ätztechnik gestaltet worden. Pfeffer schmeckte noch die Mischung aus Cannabis und Tim auf seinen Lippen und wollte sich das nicht verderben lassen. Nach dem Anruf, der ihn hierherbestellt hatte, hatte sich Pfeffer nur schnell ein wenig Deo und ein paar Spritzer seines ebenso sündhaft teuren wie guten Lieblingsduftes Blenheim Bouquet gegönnt. Das musste reichen, um Frische vorzutäuschen.
Ein Mann von der Spurensicherung breitete eine weiße Plastikplane über den Körper, der in dem kleinen Raum neben einer riesigen doppelwannigen Edelstahlspüle lag. Pfeffer sah aus dem Fenster. Die Färberei des Residenztheaters befand sich ebenerdig in einem Seitentrakt des klassizistischen Gebäudes. Gegenüber lag der Marstall in abendlicher Festbeleuchtung.
Eine blasse kleine Frau stand an einen der beiden anderen Färbetröge gelehnt, die den kleinen Raum neben einem ramponierten Arbeitstisch beherrschten.
»Sie haben die Leiche gefunden?«, fragte Pfeffer.
Die blasse Frau nickte langsam. »Ich bin Praktikantin, verstehen Sie? Ich wusste nicht, dass das so wahnsinnig ätzt, dass man davon stirbt.« Sie schluchzte auf.
»Schsch«, machte Pfeffer. »Noch wissen wir nicht, woran er gestorben ist. Vorerst interessiert mich, warum Sie noch so spät abends hier in der Arbeit sind?«
»Ich sollte doch diesen Stoff rot färben«, sprudelte es aus ihr heraus. »Und ich wollte ihn ursprünglich über Nacht im Färbebad lassen, aber dann habe ich mir doch Sorgen gemacht, weil ich noch nie gefärbt habe und der Stoff schon seit sechs Stunden im Bad war, und da habe ich die Kostümassistentin angerufen und die hat mir gesagt, dass das reicht und ich den Stoff sofort rausholen und aufhängen soll, und da bin ich dann hergefahren mit meinem Fahrrad, und da habe ich mich schon gewundert, dass Licht an ist, denn ich war mir sicher, dass ich das ausgemacht habe, als ich gegangen bin, und dann lag der Mann mit dem Kopf im Waschbecken, in dem ich meinen Stoff … Dass es der Herr Bloch ist, habe ich nicht gesehen. Wirklich nicht.« Sie schluckte und begann zu weinen.
»Schon gut, Frau …«, Pfeffer wusste nicht, ob er den Namen der Blassen gehört hatte, wusste aber, dass die Kollegen die Aussage bereits protokolliert hatten. »Am besten, Sie gehen jetzt nach draußen und schnappen ein wenig frische Luft. Oder Sie gehen gleich heim.«
Die Blasse sah Pfeffer mit großen Augen an und entfernte sich dann.
»Schöner Chemikaliencocktail«, sagte Doktor Gerda Pettenkofer gelassen zu Max Pfeffer und deutete auf die rote Brühe, die in der einen Spülenhälfte stand. »Hier, die schreiben auf ihre Packungen, dass das Zeug ätzt. Aber hallo.« Sie hielt eine Blechdose hoch, die Färbepigmente für Stoffe enthielt. »Was genau drin ist, schreiben sie allerdings nicht. Aber so, wie der Tote aussieht, braucht man das auch nicht wissen. Kein Wunder, dass der Mann hier nicht mehr den gesündesten Teint hat.«
»Wie war die Auffindesituation?«, fragte Pfeffer.
»Er steckte mit dem Oberkörper in dem Färbetrog. Hier, Kopf, Schultern und Oberkörper bis fast zu den Brustwarzen waren im Farbbad. Die Arme hingen mit dem Rest des Körpers über den Rand nach außen. Der Mann muss also vornüber in den Trog gefallen sein. Ohne sich dabei mit den Händen abzufangen.« Die Rechtsmedizinerin stemmte die Arme in die Seiten. »Wenn du mich fragst, ist das schon ein wenig ungewöhnlich.«
»Vielleicht ist ihm bei den Chemiedämpfen hier schlecht geworden, und er ist deshalb …«, überlegte Pfeffer laut.
»Nein, Maxl, ist er nicht.« Gerda Pettenkofer schwieg einen Moment und legte den Zeigefinger auf den Mund, damit auch Pfeffer nichts sagte. »Hörst du? Der Abzug läuft.« Sie deutete zur Decke, dort hingen wie futuristische Trockenhauben zwei Plexiglasglocken an langen Metallschläuchen.
»Eben wegen der Chemikalien muss immer der Abzug laufen, damit niemand ohnmächtig wird oder sich die Atemwege verätzt«, mischte sich da ein großer blonder Mann ein, der sich die ganze Zeit ein wenig bleich neben der Eingangstür aufgehalten hatte. »Normalerweise sind die Fenster beim Färben zusätzlich geöffnet oder wie jetzt gekippt.«
»Danke, und Sie sind?«, fragte Pfeffer.
»Sebastian Oßwald.« Der Mann schüttelte ihm die Hand. Er mochte Mitte dreißig sein. »Ich bin Gewandmeister hier am Resi, also am Residenztheater. Sepp, Joseph Bloch war mein Kollege. Man hat mich verständigt, dass ich kommen soll. Ich bin nun für die Herrenwerkstatt, also die Herrenkostümabteilung verantwortlich.«
»Danke, Herr Oßwald«, sagte Pfeffer. »Das muss natürlich ein Schock für Sie sein.«
»Ja und nein. Dass er sich irgendwann totsäuft, war uns allen klar. Und die Gefahr, dass er dabei auch noch in den Farbtopf fällt … also, ehrlich gesagt, wundert es mich, dass das nicht schon viel früher passiert ist.«
»Wie meinen Sie das?«
Sebastian Oßwald zögerte und sah auf die Leiche, deren Konturen sich unter der Plane abzeichneten. Dann forderte er Pfeffer auf, ihm zu folgen, und ging durch eine Verbindungstür in den Nebenraum, in dem zwei monströse Waschmaschinen und große Schränke voller Färbemittel standen. Von hier führte eine weitere Tür in den Spritzraum. Auch hier Regale voller Farben und Pigmente. Dazu Spritzpistolen und eine gewaltige Absauganlage. »Kann ich hier schon was anfassen?«, fragte Sebastian Oßwald und bückte sich neben der farbbekleckerten Werkbank, die ganz am Ende des Raums stand.
Pfeffer nickte, die Spurensucher hatten diesen Teil des Raums bereits gecheckt.
Der Gewandmeister öffnete eine der Schubladen unten an der Werkbank und zog sie ganz heraus. Er kniete sich auf den Boden, beugte sich vor und langte mit dem Arm hinein. Fast der ganze Arm verschwand in der Tiefe der Aussparung. Als er ihn wieder herauszog, hielt er eine große Flasche Jägermeister in der Hand. »Da ist noch eine drin«, sagt er. »Sepp hat gedacht, dass niemand sein Geheimversteck kennt. Jeder kannte es. Die verkürzte Schublade hat er sich mal von einem Spezl in der Tischlerei anfertigen lassen.« Er langte noch einmal hinein und zog die zweite Flasche Kräuterschnaps hervor.
»Ich glaube, Sie fassen jetzt doch nichts mehr hier an«, sagte Max Pfeffer trocken. »Die Spurensicherung sollte da noch mal ran.«
»Es ist doch ein Unfall gewesen, oder? Warum machen Sie eigentlich einen solchen Aufwand?« Die beiden Männer verließen den Spritzraum, passierten den Waschmaschinenraum und blieben im Färberaum vor den raumhohen Regalen voller Farben stehen.
»Weil die Art, wie Ihr Kollege ums Leben gekommen ist, durchaus auch die Möglichkeit einer Fremdeinwirkung zulässt. Natürlich sieht es nach einem Unfall aus, aber er könnte in den Farbbottich gestoßen worden sein.«
»Stimmt. Wäre nicht unwahrscheinlich.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Ach, vergessen Sie’s. Ich und mein loses Mundwerk.« Sebastian Oßwald machte eine wegwerfende Handbewegung und kratzte sich dann an der Nase. »Tut mir leid. Ich klinge für Sie total herzlos, aber ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Er war mein Kollege seit zwei Jahren, und ich hatte kein besonders gutes Verhältnis zu ihm. Niemand hatte ein gutes Verhältnis zu ihm. Ich kann Ihnen gerne beizeiten mehr darüber erzählen.«
»Ich bitte darum.«
»Es ist nur so … bei mir ist noch nie jemand gestorben, den ich gut kannte oder dem ich irgendwie nahestand. Und sei es nur als Kollege. Es ist der erste Tote in meinem Umkreis. Und alles, was ich kann, ist sarkastische Bemerkungen fallen lassen.«
»Das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte Pfeffer. »Jeder reagiert anders. Sagen Sie, diese Praktikantin, die den Toten gefunden hat, seit wann ist die bei Ihnen?«
»Die ist gar nicht bei uns. Die ist von der Oper. Wir teilen uns hier die Räume mit der Staatsoper. Ist ja gleich nebenan.« Er deutete auf das Regal an der linken Wand. »Das sind alles Opern-Farben.« Er zeigte auf das Regal rechts. »Die dort drüben sind unsere. Darf ich nun gehen, oder brauchen Sie mich noch?«
»Ich hätte schon noch einige Frage über Ihren Kollegen an Sie.«
»Muss das hier sein?«
»Nein.« Pfeffer sah den jungen Mann an. Der blickte mit seinen grünen Augen tief in Pfeffers rehbraune. Den entscheidenden Tick zu lange, wie er schnell merkte. Sebastian Oßwald senkte verlegen den Blick.
Pfeffer schmunzelte und fuhr fort: »Nein, natürlich muss das nicht hier sein. So schnell geht das sowieso nicht. Es kann auch gut sein, dass gar keine Frage offenbleiben. Wenn zum Beispiel die Obduktion ergibt, dass keinerlei Fremdeinwirkung vorliegt.«
»Ah so.« Sebastian Oßwald grüßte lässig. »Sie wissen im Zweifelsfall ja, wo Sie mich finden können.«
»Warten Sie bitte«, sagte Pfeffer. »Zeigen Sie den Kollegen von der Spurensicherung noch den Arbeitsplatz Ihres Kollegen? Danke.«
»Sahneschnitte«, sagte Annabella Scholz, als sie zu ihrem Chef trat und dem Gewandmeister hinterhersah.
»Das kannste laut sagen«, raunte Max Pfeffer. Er fand, dass er sich gut im Griff hatte, dafür dass er bekifft war.
»Wer war das?«
»Der Gewandmeister.«
»Und was ist ein Gewandmeister?«
»Keine Ahnung!«
»Aha.« Die Kommissarin sah ihren Chef schief an. »Aber das wirst du bestimmt bald herausfinden.«
»Erraten. Und du findest jetzt heraus, ob die Lüftung auch lief, als die Praktikantin den Toten fand.«
09
»Die Praktikantin ist sich absolut sicher, dass die Lüftung lief, als sie den Toten fand«, referierte Annabella Scholz am nächsten Morgen ihre Recherchen. »So wie immer, wenn gefärbt wird. Das Zeug dort ist so giftig, dass es nur mit laufender Entlüftung verwendet werden darf. Die ganze Kammer wurde erst vor Kurzem renoviert, und die Anlage ist quasi neu. Die Frau ist übrigens erst seit einer Woche bei der Staatsoper.«
»Dann kann er also nicht von den Dämpfen ohnmächtig geworden sein. Gibt es schon Neuigkeiten aus der Pathologie?«
»Deine Freundin Gerda lässt ausrichten, dass du sie für die ersten Infos gleich mal anrufen sollst.« Die Kommissarin legte ihren Notizblock zur Seite. »Ach, und es wäre nicht schlecht, wenn du dich mit dem Oberstaatsanwalt zusammensetzt oder auch auseinandersetzt. Klingt völlig konträr, oder? Wenn man mal darüber nachdenkt, bedeutet aber letztlich beides dasselbe. Zusammensetzen – auseinandersetzen. Nein, bedeutet natürlich absolut nicht dasselbe … aber …«
»Du solltest beizeiten noch Germanistik studieren, Bella.«
»In einem anderen Leben, Chef. Die Staatsanwaltschaft will jedenfalls partout keine Gelder für eine Radiocarbonanalyse lockermachen.«
»Radiocarbonanalyse?«, fragte Pfeffer irritiert.
Annabella Scholz schlenderte zur neuen, chromblitzenden Espressomaschine, nicht irgendeine, sondern der Rolls-Royce unter den Espressomaschinen. Max Pfeffer hatte das Gerät auf eigene Kosten für teures Geld angeschafft, weil er die langweilig-bittere Plörre nicht mehr herunterwürgen konnte, die zuvor aus der asthmatisch röchelnden alten Kaffeemaschine getröpfelt war. Bella fühlte sich jedes Mal wie ein italienischer Barista, wenn sie die Dampfdüse in das Milchkännchen tauchte und Schaum produzierte. Fettarme H-Milch, so hatte sie gelernt, war die beste Schaumgrundlage, denn das Fett von Vollmilch verhinderte die Anreicherung mit Luftblasen. Bella war die Einzige, der Pfeffer erlaubte, mit der Maschine zu hantieren.
»Du wolltest doch eine Radiocarbonanalyse des Skeletts von Zacherlkirchen, oder? Der Staatsanwalt sieht dazu keine Notwendigkeit, denn laut deiner Freundin Gerda Pettenkofer und diesem Doktor Keppler handelt es sich um einen historischen Fund. Also soll da kein Geld verschwendet werden.«
Pfeffer seufzte. »Mach mir bitte auch einen Espresso macchiato. Danke.« Dann griff er zum Telefon. Bevor er eine Nummer wählte, legte er wieder auf und fragte: »Wie war das noch mal mit Angehörigen des Toten? Die Kollegen haben niemand ausfindig machen können?«
»Nein«, antwortete Bella. »Falls du den Toten vom Theater meinst. Der Mann lebte alleine in einer Zweizimmerwohnung im Schlachthofviertel, Schmellerstraße. Er hat keine Kinder – zumindest keine, von denen wir wissen –, keine Frau oder sonstige Lebensgefährten, nicht einmal geschieden. Auch keine Geschwister. Seine Eltern sind verstorben, die Mutter erst vor zwei Jahren, wenn ich mich recht erinnere. Steht in dem Bericht, der auf meinem Schreibtisch liegt. Sieht vorerst so aus, als würde niemand um Joseph Bloch trauern. Ach, und wundere dich nicht – es gibt auch kein Mobiltelefon von ihm. Er hatte keins, hat dieser Gewandmeister auch bestätigt.«
Schweigend nahm Max Pfeffer den Telefonhörer und wählte die Nummer der Pathologie.
»Okay, Maxl«, kam Gerda Pettenkofer am anderen Ende der Leitung sofort zur Sache. »Wie üblich hattest du den richtigen Instinkt. Der Tote aus dem Theater, dieser Joseph Bloch, ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wegen der Dämpfe ohnmächtig geworden. Aber es war dennoch ein Unfall, dass er in den Trog fiel.«
»Also kein Mord.«
»Nicht so schnell. Er ist zusammengebrochen. Ungünstigerweise direkt in diesen Giftcocktail hinein. Aber er WAR bereits vorher vergiftet. Und zwar durch ein myoneuro-cardiokinetisches Mittel. Er ist in den Trog gefallen und war sofort tot. Er muss quasi im Sterben hineingefallen sein, denn er hat nicht aspiriert. Kein Färbemittel in seiner Lunge oder sonst wo in den Atemwegen. Das sind erste Testergebnisse, ich dachte, du willst es so schnell als möglich wissen. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich Genaueres weiß.«
»Myo-was?«, fragte der Kriminalrat ungeduldig. »Gerda, bitte!« Mit der freien Hand hielt er sich das Ohr zu, weil die Kaffeemaschine zu laut zischte.
»Myoneuro-cardiokinetisch, Maxl. Digitalis oder ein digitalisartiges Glykosid. Also ein Mittel, das auf das Herz sowie die nicht dem Willen unterworfene Muskulatur eine deutliche Auswirkung hat. Der Tote muss sich in den letzten Stunden vor seinem Ableben mehrfach übergeben haben. Auch das lässt auf ein Digitalisgift schließen.«
»Okay, dann müssen wir den Kräuterschnaps und alles andere untersuchen lassen, was er gestern getrunken hat. Ich setz die Jungs drauf an.«
»In seinem Magen habe ich bisher einen Kräuterschnaps, Bier und Kaffee nachweisen können. Genauer Bericht mit dem Namen des Gifts folgt as soon as possible.«
»Danke, Gerda, jetzt haben wir also einen Mord und müssen das Staatstheater auseinandernehmen. Bravo, wir haben ja sonst nichts zu tun. Bevor ich es vergesse: Was macht unser Skelett von gestern?«
»Nichts. Was soll es machen? Es liegt in einer Pappschachtel in der Kammer. Die Staatsanwaltschaft hat den Fall mangels öffentlichen Interesses vorerst auf Eis gelegt.«
»Aber du hast dich sicher mal auf das Eis begeben und genauer hingesehen und weißt mir einiges Neues zu berichten.«
Die Rechtsmedizinerin kicherte wie ein Schulmädchen. »Okay, Maxl, weil du es bist. Ich habe ganz, ganz kurz hingesehen, praktisch nur ein Blinzeln, und kann dir nur wirklich augenfällige Einzelheiten berichten. In Höhe der vierten und fünften Rippe links habe ich eine leichte Abschürfung entdeckt, die sich scharfkantig und v-förmig über die Knochen frisst. Außerdem ist in der vierten Rippe eine kleine Kerbe nach innen. Ich schließe daraus, dass die Person zu Lebzeiten mit einem scharfen Gegenstand verletzt oder sogar getötet wurde. Der Täter hat dem Opfer vermutlich mit einem Schwert oder einem Speer oder so etwas Ähnlichem in den Brustkorb gestochen und dabei auch die Rippen verletzt. Und die Lücken in den Zähnen hatten, soweit ich das auf die Schnelle gestern noch checken konnte, wirklich nie Füllungen. Das heißt, dass der Mensch mit schlechten Zähnen lebte. Das sind natürlich nur schnelle Analysen, die keinerlei Anspruch auf Gültigkeit haben. Dennoch, dies alles, mein lieber Max Pfeffer, sind leider weitere Hinweise darauf, dass es sich bei dem Toten um eine uralte Leiche handelt. Die gesamte Knochen- und Gewebestruktur …«
»Gut, Gerda, such schon mal ein kleines repräsentatives Knochenstückchen heraus, das wir dann zur Analyse schicken können.«
»Maxl!«, seufzte die Medizinerin geziert.
»Gerda«, echote der Kriminaler ebenso geziert. »Du hast eben selbst gesagt, dass der Tote aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet wurde.«
»Ja, aber für eine Radiocarbonanalyse reicht kein Knochenfitzelchen. Das geht nach der Devise je größer desto besser. Die brauchen einen ganzen Knochen oder eine schöne ausgesägte Scheibe.«
»Dann nimm den Oberschenkel. Da ist genug für alle dran. Ich werde den Staatsanwalt mit meinem Charme gewiss umstimmen können. Schick ihn los.«
»Apropos Charme«, sagte Gerda Pettenkofer. »Du wirst es ja nicht glauben, aber seit Neuestem gucke ich doch mit Begeisterung diese Soap ›Unser Block‹. Und ich vermisse deinen Sohn, diesen Charmebolzen. Cosmo war doch mal in dieser Serie mit dabei, oder?«
»Cosmas ein Charmebolzen?« Pfeffer musste lachen. Er war der Einzige, der seinen ältesten Sohn noch bei seinem richtigen Namen Cosmas nannte. Für den Rest der Welt war er Cosmo. Vor gut einem Jahr hatte der ein paar Folgen lang bei der beliebten Daily Soap ›Unser Block‹ vor der Kamera gestanden. Es hatte nur mit einem kleinen Auftritt von Cosmos Hip-Hop-Band ›Volle Härte‹ angefangen. Der damals noch Minderjährige hatte für die nötigen Verträge einfach die Unterschrift seines Vaters gefälscht. Cosmo Pfeffer, der vom Vater den sportlichen Körperbau und die kuscheligen braunen Augen geerbt hatte, war gut angekommen, und so hatte man ihn für eine kleine Nebenrolle engagiert. Nichts Spektakuläres, meist war er nur im Hintergrund herumgestanden, selten mehr als ein paar Sätze Text.
»Der Ruhm ist ein scheues Reh. Ebenso schnell weg, wie es auftaucht.« Pfeffer dachte an das enttäuschte Gesicht seines Ältesten, als er ohne Angabe von Gründen eines schönen Tages seine Kündigung erhalten hatte. »Zuerst haben sie seine Band nicht mehr in der Serie einbauen können oder wollen, dann haben sie seine kleine Rolle komplett gestrichen. Charmebolzen hin oder her. Ich bin ehrlich gesagt froh darüber, der Junge soll schließlich für sein Abitur lernen.«
»Recht so, strenger Vater«, sagte Gerda Pettenkofer und lachte raucherhustend.
»Wenn du ihn übrigens heutzutage bei der Arbeit sehen willst, dann geh am Freitagnachmittag oder Samstag zu Getränke Wittler. Da kannst du ihn dann beim Getränkekistenschleppen bewundern.«
»Auch ein cooler Job!«
»Und er hat tatsächlich ab und an bezahlte Auftritte mit seiner Band.«
»Quasi auf dem Weg zum Superstar, der Junge.«
»Quasi.«
»Bis die Tage, Maxl.«
Nachdem Pfeffer aufgelegt hatte, stellte Kommissarin Annabella Scholz ihrem Chef den Espresso macchiato hin und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Mord?«
»Doppelmord. Sozusagen.« Pfeffer rührte zwei Löffel Zucker unter und nahm einen kleinen Schluck. »Der Mann im Farbtrog wurde vergiftet und das Skelett erstochen.«
»Ich schick dann gleich die Kollegen in die Wohnung von Joseph Bloch, oder sollen wir selbst hin?«
»Vorerst nicht. Schick die Kollegen.«
»Ist dir eigentlich klar, dass diese Nives Marell irgendwie mit beiden Fällen zu tun hat?« Kommissarin Scholz umklammerte ihren Milchkaffee mit beiden Händen. »Wir finden auf ihrem Land das Skelett, und sie arbeitet momentan am Residenztheater. Wenn das mal kein Zufall ist.«
»Na, keine voreiligen Schlüsse. So offensichtlich sehe ich da noch keinen Zusammenhang.« Pfeffer leerte seine Tasse in einem Zug. »Jetzt muss ich erst mal den Oberstaatsanwalt weichklopfen.«
Früher konnte man das Verhältnis zwischen Oberstaatsanwalt Bauer und Kriminalrat Pfeffer als beinahe freundschaftlich bezeichnen. Die beiden Männer hatten viele Fälle gemeinsam bearbeitet und waren immer gut miteinander ausgekommen. Jeder respektierte die Kompetenz des anderen. Bei schwierigen Rechtslagen oder kniffligen Angelegenheiten hatten sie sich mehr als einmal arrangiert.
Doch seit jenem Fall, bei dem sich Oberstaatsanwalt Bauer als Diener zweier Herren entpuppt hatte, als Staatsdiener und als Kirchendiener, als er Pfeffer mehr oder minder unverhohlen zu schlampiger Arbeit aufgefordert hatte, um höchste kirchliche Kreise zu schützen – seit damals war das Verhältnis beider Männer extrem abgekühlt. Bauer war natürlich so geschickt gewesen, sich juristisch nichts zuschulden kommen zu lassen. Doch in den ersten Monaten nach dem Vorfall hatte sich Bauer um jede Begegnung mit Pfeffer gedrückt, ließ sich im Zweifelsfall sogar krankschreiben. Danach fanden sie langsam wieder zu einem distanzierten Miteinander. Doch auch Außenstehenden fiel seitdem auf, dass sich die Machtverhältnisse verschoben hatten.
Früher waren Pfeffer und Bauer als beinahe gleichstarke Alphamännchen aufgetreten. Nun gab es ohne Zweifel nur noch einen Alpha: Maximilian Pfeffer. Auch bei diesem Telefonat.
»Wozu diese C-14-Analyse, Herr Pfeffer«, sagte der Oberstaatsanwalt. »Wissen Sie, was das kostet?«
»Nein, das weiß ich nicht. Sagen Sie es mir.« Pfeffer wechselte den Telefonhörer zum anderen Ohr, weil er mitschreiben wollte.
»Gute zweihundert Euro.«
Pfeffer musste ein Lachen unterdrücken. »Das ist nicht Ihr Ernst. Sie blocken ab wegen zweihundert Euro, Herr Bauer?«
»Es sind immer nur hier mal zweihundert, dort mal hundert Euro. Auch zweihundert Euro sind Geld des Steuerzahlers. Nach aktuellem Stand der Dinge sind sich unsere Frau Doktor Pettenkofer plus dieser Mann vom Landesamt für Denkmalpflege darin einig, dass das Skelett älteren Datums ist. Wir haben hier anderes zu tun, als nun daraus einen Fall zu konstruieren. Was, wenn sich herausstellt, dass es tatsächlich ein keltischer oder frühmittelalterlicher Fund ist? Wir sind nicht dazu da, anderen Behörden wie den Denkmalschützern die Unkosten abzunehmen. Wir sind hier auch nicht in einer dieser realitätsfernen amerikanischen Serien, in denen bei jedem abgerissenen Finger eine Armada von Spezialisten in Bewegung gesetzt wird. Wo die Labors vor Hightech nur so blitzen und Ameisenkacke analysiert wird, um einen Täter zu fangen. Das hat auch in den USA nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wir haben ganz klare Anweisungen, welche Kosten vertretbar sind, um Verbrechen aufzuklären, und welche nicht. Radiokohlenstoffanalysen von Skeletten, die nach Auskunft des Landesamtes für Denkmalpflege plus der Rechtsmedizin eindeutig älteren Datums sind, gehören definitiv nicht dazu. Hören Sie, Kriminalrat Pfeffer, ich brauche mehr Beweise, dass …«
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