Kitabı oku: «Pechwinkel», sayfa 2

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03

Pfeffer ging den Weg zurück. Der Leichenwagen fuhr eben weg. Pfeffer bog von der Pestalozzistraße in den kleinen Weg, der neben dem Bach durch die Grünanlage führt. Der Kriminalrat vergrub die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, als er über den kleinen Steg ging, der über den Bach führt. Totensteg heißt der im Volksmund, weil er vom Glockenbachviertel zum Seiteneingang des alten Südfriedhofs führt. Die feuchte Kälte drang durch die Kleidung. Novembernebel im April. Zum Kotzen.

Zu der späten Stunde begegneten ihm nur wenige Menschen. Sie tauchten schemenhaft auf und verschwanden in der Suppe. Die meisten hatten es ziemlich eilig. Einer wankte bedenklich, eine Alkoholfahne wehte ihm noch lange nach, als er längst wieder im Nebel abgetaucht war. Eine Frau führte ihren Hund spazieren. Besser gesagt, sie wartete am anderen Ende der Leine darauf, dass ihr Köter seine Notdurft mitten auf den Gehsteig verrichtete.

Max Pfeffer verkniff sich einen Kommentar. Sein jüngster Sohn Florian hatte sich einmal einen Hund gewünscht. Der Bub hatte partout nicht verstehen wollen, warum sein Vater das so strikt ablehnte. Max Pfeffer mochte keine Hunde, weil er devote Wesen verabscheute. Und er fand schon immer die Situation ziemlich absurd, dass sich Menschen an ein Vieh leinen, darauf warten, bis es abkotet, und zuletzt, sofern sie auf ihre Mitbürger Rücksicht nehmen, auch noch die Scheiße in kleinen Plastikbeutelchen einsammeln.

Es war aber auch ziemlich absurd, dass alte Frauen zum Bündel verschnürt in einen Bach geworfen wurden.

Als Pfeffer an den Altglascontainern neben dem Jugendhaus der Caritas vorbeikam, hörte er ein Keuchen und ein Würgen. Er blieb unschlüssig stehen, sein Gastbett rief. Endlich schlafen und niemanden mehr sehen. Pfeffer beobachtete den Mann, der sich vornübergebeugt am Grünglascontainer festhielt und sich übergab.

»Kann ich Ihnen helfen?« Verdammtes Pflichtbewusstsein und ein immer noch nicht ganz überwundenes Helfersyndrom.

»Danke, geht schon«, murmelte der Mann am Container und richtete sich langsam auf. »Schon wieder okay.« Er wischte sich mit einem Taschentuch den Mund ab und drehte sich leicht wankend um. Die Blicke trafen sich.

»Max?«

»Severin? Was machst du denn für Sachen?«

»Sorry, Pfeffer.« Severin Hemberger richtete sich vollends auf und lächelte matt. »Manchmal finde ich mich eben selbst zum Kotzen.«

»Du solltest weniger trinken …«

»Ich trinke nicht genug! Spar dir deine Predigten für deine Kinder auf, Maximilian Pfeffer.« Es klang zu aggressiv, und Severin schickte schnell leise hinterher: »Tut mir leid. Du hast keine Ahnung von meinem Leben.«

»Okay. Aber ich glaube, ich bringe dich jetzt besser mal nach Hause.« Pfeffer streckte seine Hand aus, um Severin am Arm zu packen. »Wie praktisch, dass wir beide im selben Haus wohnen.«

Severin Hemberger, der seit dem tragischen Krebstod seiner Lebensgefährtin versuchte, sein Leben als durchaus talentierter, aber ebenso verkannter Künstler auf die Reihe zu bekommen, zog seinen Arm zurück. »Geht schon, Max. Ich bin nicht besoffen.«

»Was dann? Magen verdorben?«

»Du … Irgendwann erzähle ich dir mal ein wenig über mich, dann wirst du verstehen, warum mir von mir selbst schlecht wird«, sagte Severin Hemberger so betont geheimnisvoll, dass Pfeffer jegliches Interesse an der Geschichte verlor. »Komm, lass uns im Rumpler noch einen Absacker trinken. Ich brauch das jetzt. Und ich brauche … naja … Gesellschaft. Bitte.«

»Okay«, seufzte Pfeffer wenig begeistert. Scheiß Helfersyndrom. Er mochte Severin irgendwie, aber es reichte nicht, als dass man es eine Freundschaft nennen könnte. Sie hatten mal dieselbe Frau geliebt, mehr nicht. Max Pfeffer und Severin Hemberger waren beide virile, sehr maskuline Typen, aber sonst verband sie optisch nichts. Severin war ein großer Kerl, muskulös, breit. Pfeffer eher kleiner und drahtig. Severin war ein paar Jahre jünger als Pfeffer, sogar ein paar Jahre jünger als Pfeffers Exfrau. Seinem beginnenden Haarausfall begegnete er, indem er sich den Kopf rasierte. Trotz seines maskulinen Äußeren hatte er diesen scheuen Dackelblick, der überhaupt nicht zu ihm zu passen schien. Sie liefen schweigend die Straße hinunter auf die Wirtschaft am Eck zu, die schon seit gut und gerne einhundert Jahren existierte und damals wie heute Rumpler hieß. Vor der Eingangstür standen zwei Gestalten und rauchten. Als sie die Gaststube betraten, drehten sich die Köpfe der wenigen Gäste erwartungsvoll um. Weil jedoch niemand Aufregendes kam, widmete sich wieder jeder seinem Tisch- oder Tresennachbarn.

»Was treibt dich eigentlich zu so später Stunde in die Kälte einer Frühlingsnacht?«, fragte Severin, als sie am Tresen saßen und jeder ein schäumendes Bier vor sich hatte. »Amouren? Mal wieder ’ne kleine Tour durch Ochsengarten, Bau und Edelheiß? Marktwert checken?«

»Klar, hab nichts Besseres zu tun. Nein, Arbeit«, brummelte Pfeffer.

»Und?«, hakte Severin ungeduldig nach.

»Wie und?«

»Du hast Bereitschaft, du bist draußen, also musst du einen neuen Fall haben, oder?«

»Richtig.« Der Kriminalrat trank einen großen Schluck. »Es geht dich zwar nichts an, aber du wirst es eh morgen oder eher Montag in der Zeitung lesen. Nichts Großartiges … Eine alte Frau. Sie wurde heute bei der Bachauskehr tot im Kanalbett gefunden.«

»Ertrunken?«

»Mehr darf ich dir beim derzeitigen Stand der Ermittlungen nicht sagen.«

»Derzeitiger Stand der Ermittlungen.« Severin Hemberger zog die Augenbrauen spöttisch hoch und trank sein Bierglas in einem Zug leer. Weil die Bedienung vorbeikam, hob er sein leeres Glas und deutete wortlos darauf.

»Ich halte dich auf dem Laufenden. Jetzt erzähl mir lieber die wahnsinnig spannende Geschichte, warum du dich manchmal selbst zum Kotzen findest.«

»Ein andermal. So genau willst du es gar nicht wissen. Erzähl du mir lieber, was du für Unterhosen hast.«

»Gehts noch?« Pfeffer verschluckte sich fast an seinem Bier.

»Hast du so peinliche Liebestöter, ausgeleierter Feinripp mit Eingriff? Das wäre ideal.«

»Wofür? Stehst du auf Fetischspielchen?«

»Ich mache eine neue Porträtserie. Alle Bilder im gleichen Format. Lauter Männer in Unterhosen. Und ich möchte, dass du mir Modell sitzt. Dazu wäre es schön, wenn du eine weiße Feinripphose mit Eingriff trägst, denn die haben bisher alle Modelle gehabt. Viele Männer, eine Hose. Alle sitzen auf meinem roten Sofa.«

»Wahnsinnskonzept«, sagte Pfeffer sarkastisch. »Ich fühle mich zwar geehrt, wenn du mich malen willst, aber Feinripp mit Eingriff trage ich nicht mehr, seit ich mir selbst meine Unterhosen kaufe.«

»Okay, dann leihe ich dir eine.«

»Ich glaube nicht, dass ich deine Feinrippunterhosen mit Eingriff tragen möchte.«

»Die Alternative wäre ganz nackt und ich lege die Hose neben dich auf das Sofa. Überlegs dir. Ich würde mich freuen. Wirklich. Ernsthaft. Komm doch morgen nach Dienstschluss.«

»Schaugn ma amoi.«

»Dann seng ma scho«, ergänzte Severin.

04

Erster Espresso und erste Zigarette. Dann Joggen an der Isar mit Ella Fitzgerald im Ohr. Eine ungewohnte Strecke für Max Pfeffer, doch er fühlte sich an seine Jugend erinnert. Er wählte die für ihn kürzere Strecke. Am Rodenstock-Gelände vorbei, am Stadtbach entlang zum Flaucher, dann über den Flauchersteg auf die andere Isarseite und in den Isarauen zurück zur Reichenbachbrücke. Unterwegs ein paar Liegestütze und Sit-ups auf dem asphaltierten Radweg. Die Sonne war hervorgekommen, der Asphalt war leidlich warm. Zurück in der Gastwohnung erst rasieren, dann duschen. Kein Rasierwasser, das vertrug seine empfindliche Haut nicht. Und die üblichen Après-Balms rochen ihm zu üblich. Er nahm seinen Flakon Blenheim Bouquet, ein Spritzer links an den Hals, einen rechts, einen ans Brustbein. Das reichte. Dann die zweite Zigarette mit dem zweiten Espresso. Kurz mit Tim in Hamburg telefonieren und ihm einen schönen Tag wünschen.

Mit einem Handtuch um die Hüften wählte Max Pfeffer die Kleidung für den Tag. Ihm war nach Grau. Loriot kam ihm in den Sinn. ›Ein frisches Steingrau‹, dachte er sich und wählte den schmal geschnittenen mittelgrauen Anzug. Dazu ein schwarz-weiß kariertes Hemd, dessen Karos zu groß waren für den langweiligen Businesslook der ganzen Bürohengste und zu klein für derbe Holzfälleroptik. Max Pfeffer legte stets Wert darauf, gut und passend gekleidet zu sein. Meist eher sportlich, aber oft mit einem Hang zu maskuliner Eleganz. So wie es eben zu einem durchtrainierten Mann Anfang vierzig passte. Pfeffer wusste, was ihm stand und wie er seinen athletischen Körperbau vorteilhaft in Szene setzen konnte. Er war zu selbstkritisch, um sich sonderlich attraktiv zu finden. Aber er wusste um die Wirkung seiner kuscheligen braunen Teddyaugen, besonders bei Frauen.

»Der Beschreibung nach könnte es sich bei unserer Toten um Erna Kubelik handeln«, sagte Annabella Scholz und legte einen dünnen Aktendeckel auf Pfeffers Schreibtisch. »Rentnerin, dreiundsiebzig Jahre alt. Wohnte in dem Haus Ecke Pestalozzistraße und Holzplatz und wurde kurz nach Neujahr als vermisst gemeldet.«

»Verwandtschaft?« Pfeffer polierte seine chromblitzende Espressomaschine, die er vor einiger Zeit auf eigene Kosten fürs Büro angeschafft hatte. Als echter Koffeinjunkie konnte er einfach die langweilige Plörre, die aus der alten normalen Kaffeemaschine tröpfelte, nicht mehr trinken. Ein italienisches Luxusgerät für Gastronomieansprüche mit perfekter Crema. Sie war sein Heiligtum, das er liebevoll pflegte und jeden Tag polierte. Niemand außer ihm und Kollegin Annabella Scholz durfte es benutzen. Da die Maschine in seinem Büro stand und er als Kriminalrat über ein Einzelbüro verfügte, war sie sowieso nicht öffentlich zugänglich.

»Keine. Sie war alleinstehend, keine Kinder. Sie wurde von einer Sozialbetreuerin vermisst gemeldet. Eine gewisse Verena Klein. Die betreut ehrenamtlich alte Leute im Viertel. Einkäufe. Behördengänge etcetera. Das ist so ein soziales Projekt von der Kirche. Das Interessante daran ist, dass die Erna Kubelik noch ein weiteres Mal als vermisst gemeldet wurde, von einem gewissen Bertram Xylander. Cooler Name. Egal. Er hat sie bereits nach Weihnachten als vermisst gemeldet. Es gab also mehrere Menschen, denen sie abging.«

Max Pfeffer setzte sich in den Schreibtischstuhl und wippte ein wenig. »Weißt du, was mir durch den Kopf geht, Bella?« Er wartete keine Antwort ab. »Helene Schneider und Gisela Schlüter. Wir hatten in den letzten Monaten schon zwei ermordete alte Damen. Die Kubelik wäre unsere Nummer drei. Und bei keiner einzigen gibt es eine vernünftige Spur auf den oder die Täter. Gut, bei der Kubelik wissen wir es noch nicht.«

»Du glaubst, da besteht ein Zusammenhang?« Hauptkommissarin Scholz setzte sich auf die Schreibtischkante. »Räumlich sehe ich da keinen. Helene Schneider lebte in Giesing und … okay … Gisela Schlüter wohnte auch in der Isarvorstadt, Baaderstraße.«

»Ist nur so eine Idee«, sagte Pfeffer nachdenklich. »Die drei wurden der Spurenlage nach in ihren Wohnungen überfallen, ermordet und ausgeraubt. Zumindest fehlten Portemonnaies und Bargeld. Es gab in keinem einzigen Fall Einbruchspuren, also müssen die den Täter freiwillig in die Wohnung gelassen haben.« Er stand auf und holte die Unterlagen zu den beiden anderen Fällen. Er überflog die Protokolle und Zeugenaussagen. Max Pfeffer schlug die Aktendeckel zu. »Kein Nerv. Das mach ich später. Wohnungen nicht durchwühlt. Okay. Der Täter hat nur den Inhalt der Handtaschen geschnappt und ist sofort abgehauen. Keine vernünftigen Zeugenaussagen. Wenn ich mich recht erinnere, will bei der Schneider eine Nachbarin einen unbekannten jungen Mann gesehen haben, den sie aber nicht näher beschreiben kann. Südländischer Typ. Natürlich, was sonst. Und die Tochter von Helene Schneider hat ausgesagt, dass auch wertvoller Schmuck fehlt. Die anderen haben keine Verwandten, die etwas über fehlenden Schmuck oder andere Wertgegenstände sagen können. Allerdings haben wir bei der Schlüter ein wenig Schmuck gefunden. Und der war nicht mal gut versteckt. Der Täter hätte ihn leicht finden können. Seltsam. Wir haben also keine Ahnung, ob wirklich etwas fehlt, und wenn ja, was. Wann haben wir zuletzt bei den üblichen Verdächtigen nachgehakt, ob Schmuck aus unbekannter Quelle angeboten wurde?«

»Letzte Woche. Kein Ergebnis.«

»Dann hat es der Täter offenbar nicht eilig, den Schmuck von Helene Schneider sofort zu Geld zu machen. Er wartet ab. Oder er hat einen Abnehmer, den wir nicht kennen.«

»Oder er hat die Sachen schon längst irgendwo im Ausland vertickt.«

Pfeffer nickte. »Alles dürftig. Gut, vielleicht täusche ich mich auch, und es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen den Taten. Widmen wir uns also der Erna Kubelik.«

»Verena?« Der junge Mann studierte immer noch interessiert die Ausweise, die Pfeffer und seine Kollegin hochhielten. Dann gab er den Weg in die Wohnung frei. »Nein, meine Freundin ist nicht da.« Mit einer Handbewegung forderte er die Kriminaler auf, ihm zu folgen. Sie betraten ein Wohn-/Arbeitszimmer mit riesigem Flachbildschirmfernseher, moderner Sitzecke und einem großen Arbeitstisch, auf dem sich Papiere stapelten sowie der größte Computerbildschirm stand, den Pfeffer je gesehen hatte. An den Wänden hingen gerahmte Poster, Werbung aus den Zwanzigerjahren.

»Herr …«

»Degenhardt, Alexander Degenhardt.«

»Herr Degenhardt …«

»Ich bin Grafiker«, fing der junge Mann unaufgefordert an zu erzählen und deutete auf den Schreibtisch. Seine Hände zitterten. »Freischaffend. Mein Büro. Und unser Wohnzimmer.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ein richtiges Büro kann ich mir momentan nicht leisten. Die Auftragslage ist nicht gerade rosig. Und wir brauchen jeden Cent. Sie kennen ja die Mieten in München. Na, wird sich hoffentlich mal ändern, wenn Verena ihren Doktor hat.« Er hörte so unvermittelt auf zu reden, wie er begonnen hatte. »Ich weiß, ich labere zu viel. Entschuldigung. Meine Freundin ist in der Uni. Sie macht gerade ihre Dissertation und hat viel um die Ohren. Worum geht es denn?«

»Sagt Ihnen der Name Erna Kubelik etwas?«, fragte Pfeffer.

»Die alte Säuferin?« Alexander Degenhardt schmunzelte. »Klar sagt die mir was. Einer von Verenas Härtefällen. Hat ihre ganze Rente in Schnaps und Bier umgesetzt. Die konnte man im Sommer jeden Abend um die Häuser torkeln sehen. Und dann ihre Bude! Verena hat mich mal mitgenommen, weil ich ihr nicht glauben wollte, wie es bei der aussah. Also meiner Meinung nach am Rande des Messietums. Und gemüffelt hat es in der Wohnung. Entschuldigung. Ich rede zu viel … Sagt Verena auch immer. Was ist mit der Alten? Soweit ich mich erinnere, war Verena schon lange nicht mehr bei ihr. Sie wird, glaube ich, vermisst. Verena hat vor einigen Monaten mal so was gesagt. Verena war einigermaßen besorgt, dachte, sie sei in der Wohnung gestürzt oder so. Verena hatte den Schlüssel und wir sind zusammen hingegangen. Verena hatte Angst, alleine hinzugehen und dann am Ende über eine Leiche zu stolpern. Aber die Wohnung war leer. Also nicht leer im Sinne von leer. Das ganze Gerümpel stand noch herum. Es war halt niemand da.«

»Und?«

»Nichts und. Wir sind dann noch ein paar Mal hin. Das war nach Neujahr. Halt, wenn ich mich nicht täusche, war es das erste Mal sogar an Silvester. Und nachdem wir drei Mal niemand angetroffen hatten, hat Verena bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben. That’s it. Mehr hat sich nicht getan. Verena hat die ehrenamtliche Betreuung sowieso momentan auf Eis gelegt. Keine Zeit mehr. Die Dissertation geht vor. Und Sie suchen nun immer noch nach der Kubelik?«

»Nein, suchen wir nicht.«

»Oh, ich dachte, Sie sind von der Vermisstenstelle.«

»Nein.« Max Pfeffer schmunzelte. »Kripo. Ist das hier Erna Kubelik?« Pfeffer hielt dem jungen Mann das Foto hin, das er von der Pathologie bekommen hatte.

Alexander Degenhardt zog beide Augenbrauen nach oben, dann runzelte er die Stirn und sah von Annabella Scholz zu Max Pfeffer und zurück. »Verstehe.« Er nickte und schluckte. »Nehmen Sie das bitte weg. Ja, das ist sie. Sie ist also tot. Ermordet? Klar. Logisch. Sonst wären Sie nicht hier.«

Das Telefon klingelte und Alexander Degenhardt schnappte sich schon beim zweiten Läuten den Hörer. »Degenhardt? … Ja … Nein … Nein … Das war doch gestern Ihr Wunsch. Ja, das hatten wir … Ich habe noch die E-Mail … Sie haben gestern ausdrücklich … Nein … Sicher. Aber ich denke mir doch so was nicht einfach aus … Okay, natürlich … gut. Die Farben sind aus dem CI-Guide. Das sieht nur auf dem Bildschirm anders aus … Nein, das ist nur ein niedrig aufgelöstes PDF zur Bildschirmansicht. Daher … Ich kann Ihnen auch ein druckfähiges PDF schicken, wenn Ihr E-Mail-Postfach das mitmacht … 24 Megabyte … Doch, so viel … Dann war das wohl ein Kommunikationsfehler. Entschuldigen Sie … Ja, in einer Stunde … Sicher. Entschuldigen Sie nochmals.« Er drückte wütend auf die Taste mit dem roten Hörer. »Arschgesichter«, fluchte er. »Scheißdreckspack. Entschuldigung. Kunden. Gestern hü, heute hott. Und natürlich bin ich schuld, weil ich genau das umgesetzt habe, was sie gestern noch wollten. Heute ist genau das Gegenteil angesagt. Hätte ich riechen müssen. Sieht sowieso schon scheiße genug aus, weil da wieder Menschen in Marketingabteilungen sitzen, die keine Ahnung von irgendwas haben. Wissen Sie, warum die deutsche Werbung oft so beschissen ist? An uns Kreativen liegts jedenfalls definitiv nicht. Debiles Gesindel. Entschuldigen Sie.«

»Freiberufler«, sagte Annabella Scholz mitfühlend.

»Sie sagen es. Ja, die alte Kubelik. Also ermordet. Mein Gott. Haben Sie schon den Täter? Ach, was rede ich, sonst wären Sie ja nicht hier.« Er riss die Augen auf. »Denken Sie etwa, die Verena hätte … Absurd!«

»Warum?«, fragte Max Pfeffer.

»Weil sie … Also, sie hätte doch keinen Grund gehabt. Sie hat der Alten ab und an geholfen. Hat für sie eingekauft und versucht, das Chaos in der Wohnung zu bewältigen. Deshalb bringt man niemanden um. Für meine Verena lege ich die Hand ins Feuer. Die könnte keiner Fliege was zuleide tun. Sie studiert Kunstgeschichte und nicht … äh … da fällt mir jetzt kein passender Vergleich ein. Fragen Sie doch lieber mal die ganzen Penner, mit denen die Alte immer gesoffen hat. Gleich gegenüber. Am Holzplatz. Sie wissen schon, direkt vor dem alten Pissoir stehen die Bänke, auf denen sich immer die Penner, ’tschuldigung, die Obdachlosen sammeln.«

»Sie entschuldigen sich oft, Herr Degenhardt«, sagte Pfeffer.

»Ich weiß, ’tschuldigung.« Er lachte trocken. »Berufskrankheit. Als freier Grafiker muss man sich schnellstmöglich das Rückgrat rausoperieren lassen.«

»Sie haben noch den Schlüssel zu Erna Kubeliks Wohnung?«, fragte Pfeffer. Degenhardt nickte. »Gut, den geben Sie uns bitte mit. Und sagen Sie Ihrer Freundin, sie soll sich bei uns melden.«

05

Alexander Degenhardt hatte übertrieben. Nicht sehr viel, aber dennoch übertrieben. Die Wohnung der Toten machte einen völlig verwahrlosten Eindruck am Rande des Messietums. Aber es stapelte sich kein Müll in den Räumen, durch den nur Trampelpfade hindurchführten. Keine vergammelten Essensreste, kein Ungeziefer. Pfeffer kannte echte Messiewohnungen. Diese hier war noch harmlos. Vorsichtig schritten er und seine Kollegin durch die Zimmer. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad. Im Türrahmen der Küche blieb Pfeffer stehen und holte sein Mobiltelefon hervor. »Bella«, rief er über die Schulter. »Ich denke, wir haben den Tatort gefunden.«

Die Hauptkommissarin kam hinzu und sah, was Pfeffer meinte. Unten an der altmodischen Anrichte sah man einige Blutspritzer. Der Boden davor hingegen war sauber. Zu sauber für den Rest der Küche.

»Das haben Verena Klein und ihr Freund wohl übersehen«, sagte sie.

»Und wenn sie die Täter waren und den Boden gereinigt haben?«

»Oder wenn sie sich tatsächlich in der Wohnung nur umgesehen haben, ob die Alte irgendwo liegt.«

»Ich rufe die Kollegen von der Spurensicherung.«

Anschließend ging Pfeffer zurück ins Wohnzimmer und sah sich um. Ein Schubfach der Kommode war geöffnet, eine Tür der Schrankwand stand halb geöffnet auf. Überall standen Sachen herum, Bücher, Zeitschriften, leere Bierflaschen. An den Wänden klebten vergilbte, kräftig gemusterte Tapeten. Es hingen auch ein paar Fotos herum. Pfeffer erkannte auf einigen eine noch jüngere Erna Kubelik. Ihm fiel eine uralte Fotografie in Sepiatönung auf, darauf räkelte sich eine nackte Dame neckisch auf einem Diwan. Das Foto war eindeutig zu alt, um die junge Erna Kubelik zu zeigen. Dann gab es noch das kitschige Gemälde einer Landschaft und Katzenbilder. An mehreren Stellen zeugten helle Rechtecke und leere Nägel davon, dass da einmal weitere Bilder gehangen haben müssten.

Pfeffer nahm sich ein Foto von der Wand, das eine fröhliche Erna Kubelik mit zwei lachenden Männern in einem ordentlichen aufgeräumten Wohnzimmer zeigte. Anhand der Tapete konnte Pfeffer den Raum als das Zimmer identifizieren, in dem er stand.

Annabella Scholz kam herein. »Ich kenne das Haus hier«, sagte Max Pfeffer. »Da hat der Bichler Toni gewohnt. Oben im dritten Stock.«

»Jugendfreund?«, fragte die Hauptkommissarin.

»Kann man so sagen. Kein Freund, eher ein Kumpel.« Pfeffer steckte das Foto in seine Manteltasche. »Das Himmelhaus. So haben wir es damals als Kinder genannt. Himmelhaus.«

»Warum das denn?«

»Keine Ahnung. Vermutlich, weil es damals schon so himmelblau angestrichen war. Ich glaube, es ist das einzige blaue Haus hier im Viertel gewesen.« Er ging hinaus in den Flur. »Weißt du was, Bella, der Bichler Toni war eigentlich ein Arsch. Was der wohl heute macht? Egal. Wir sind nur hergekommen, weil wir dann unten im Keller spielen konnten. Komm mal mit.«

Neben der Eingangstür befand sich ein Schlüsselbrettchen, an dem mehrere Schlüsselbunde und einzelne Schlüssel hingen. Pfeffer studierte die Schlüssel und nahm dann einen Bund mit. Die Hauptkommissarin folgte ihrem Chef zum Keller. Nach zwei Versuchen fand Pfeffer den richtigen Schlüssel zur Tür. Dann gingen sie die Stufen hinab. Es roch nach feuchtem Moder.

»Trockene Keller findest du hier nirgends«, sagte Pfeffer. »Der Bach. Wir hatten uns einmal eine Mutprobe ausgedacht. Nicht hier. Vorne an der Kapuzinerstraße, wo der Bach unter der Straße durchfließt. Da war früher ein Schrottplatz neben der Tankstelle, der hat dem Vater vom Gruber Basti gehört. Von da sind wir in den Bach gesprungen und haben uns unter der Straße hindurch auf die andere Seite treiben lassen. Es war saukalt und echt unheimlich.«

»Und saugefährlich«, ergänzte die Hauptkommissarin.

»Was ja der Sinn der Sache.«

Annabella Scholz ging hinter Pfeffer her, der zielsicher zwischen den Abteilen aus einfachen Holzlatten verschwand. In einer Ecke blieb er stehen und klopfte gegen die Metalltür vor ihm.

»Wir haben Schiffchen gebaut und hier in den Bach gelassen, wenn der Toni den Schlüssel organisieren konnte. Dann haben wir uns vorgestellt, wie sie durch den Kanal schwimmen und in die Isar und dann in die Donau und dann ins Meer.« Pfeffer lachte. »Später haben wir auch Flaschenpost losgeschickt.«

»Und?«, fragte Hauptkommissarin Scholz.

»Nie eine Antwort bekommen.« Max Pfeffer probierte die großen Schlüssel am Bund aus. Der Vierte passte. Er öffnete die schwere Metalltür und blickte in die Öffnung. In der Dunkelheit konnte man nur schemenhaft die Wand gegenüber und das Bachbett unten erkennen.

»Der Täter wird sie hier hineingeworfen haben. Das sollen sich die Kollegen dann auch mal ansehen.« Max Pfeffer betrachtete die Backsteinwand und erinnerte sich dunkel an etwas. Er bückte sich und suchte das untere Mauerstück ab. »Da.« Er deutete auf einen verblassten schwarzen Schriftzug. »Himel«, hatte da jemand hingekritzelt. »Jetzt weiß ichs wieder. Darum haben wir es das Himmelhaus genannt.«

»Himmel mit einem M? Legastheniker«, sagte Annabella Scholz trocken.

Pfeffer merkte, wie er melancholisch wurde. Sie hatten sich damals auch darüber amüsiert und immer wieder versucht, den Schriftzug wegzuwischen, was ihnen nie gelungen war. Sie hatten auf einen Edding getippt. Edding gewinnt immer. Alter Graffiti-Spruch. Er musste raus aus dem Keller.

»Wartest du auf die Kollegen?« Es war weniger eine Frage als eine Anweisung, die Max Pfeffer Annabella Scholz gab, als sie wieder oben in der Wohnung waren.

»Mach ich, Chef. Und du?«

»Ich widme mich den Pennern draußen.« Er deutete aus dem Fenster auf die andere Straßenseite.

Das achteckige, gusseiserne Pissoir aus der Jahrhundertwende am Holzplatz war außen mit Graffiti beschmiert. Seit Jahren verschlossen und außer Betrieb, stand es nur noch als stummer Zeuge vergangener Jahrzehnte denkmalgeschützt ohne Funktion da. Pfeffer kannte es noch in Betrieb. Davor hatten sich auf den beiden Parkbänken vier Männer versammelt. Drei ältere und ein junger. Sie tranken Bier aus Flaschen und rauchten Selbstgedrehte.

»Servus, die Herren«, sagte Max Pfeffer, als er zu den Männern trat. Misstrauische Blicke musterten ihn.

»Wir dürfen hier sitzen«, sagte einer trotzig. Ihm fehlten oben die Schneidezähne. »Wir tun niemandem was, und hier ist kein Anwohner gestört.«

»Darum geht es nicht.« Pfeffer stellte sich vor den Mann, der geredet hatte. Der Gestank von lange ungewaschenen Körpern, Alkohol und Zigaretten drang in seine Nase. Er machte einen kleinen Schritt zurück. »Sind Sie öfter hier?« Schweigen, dann leichtes Nicken.

»Sie wohnen drüben bei der Heilsarmee?« Er deutete mit dem Kopf auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich in einem gelb gestrichenen Altbau das Männerwohnheim der Heilsarmee befand. Der ohne Schneidezähne nickte.

»Adolf-Mathes-Haus«, murmelte einer, dessen Stirn tief eingedellt war. Das linke Auge blickte starr. Ein Glasauge. Max Pfeffer nickte. Er kannte die Adresse. Ein Männerwohnheim gleich um die Ecke neben dem Alten-Service-Center der Caritas in der Hans-Sachs-Straße.

Der Dritte, ein Blondschopf mit faltigem Gesicht, lächelte freundlich und nickte. Der Vierte und Jüngste in der Gruppe verzog keine Miene und starrte Pfeffer abschätzig an. Dem Kriminalrat fiel auf, dass der höchstens Mitte zwanzig sein konnte und im Vergleich zu den anderen glatt rasiert und sehr gepflegt gekleidet war. »Und Sie?«, sprach er den Jungen an.

»Warum wollen Sie das wissen?«, kam es aggressiv zurück.

»Interesse.«

Der junge Mann lachte. »Als ob sich irgendjemand für mich interessieren würde.«

»Ja, ich. Also?«

Der junge Mann zuckte mit den Schultern und wandte den Blick von Pfeffer. »Ich habe ein Dach überm Kopf. Ich lebe nicht auf der Straße, falls Sie das wissen wollten.«

»Schön für Sie. Sehen Sie, war doch gar nicht so schwer. Und warum sind Sie dann hier?«

»Kumpels besuchen auf ein Bierchen.« Der junge Kerl zuckte mit den Schultern und pulte am Etikett seiner Bierflasche herum.

»Was willst du, Meister?«, fragte der Zahnlose.

Max Pfeffer holte das Foto der toten Erna Kubelik hervor. »Kennt jemand von Ihnen die Frau?« Er zeigte es im Kreis herum. Alle nickten.

»Die Paloma«, sagte der Zahnlose.

»Paloma«, echoten die anderen.

»Lange nimmer gesehen, die Paloma«, sagte der Mann mit dem Glasauge.

»Stimmt«, bestätigte der Zahnlose. »Was ist mit ihr?«

»Paloma?«, fragte Pfeffer. »Das ist Erna Kubelik …«

»Weiß schon«, unterbrach der mit der Stirndelle und dem kaputten Auge. »Die Erna. Für uns ist sie die Paloma. Gell?« Er rempelte seinen Nebenmann an, der faltige Blondschopf mit dichtem struppigem Haar begann zu grinsen. Pfeffer hatte den Eindruck, dass der Mann ein wenig zurückgeblieben war. »Die war eine Nette.« Alle nickten. »Eine ganz feine Person. Was zu Essen gabs bei ihr manchmal. Die konnte kochen! Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat …« Zustimmendes Brummen.

»War?«, fragte Pfeffer.

»Hör mal, Meister«, sagte der Zahnlose und sein Blick wurde finster. »Veräppeln können wir uns selber. Jeder, der zwei Augen im Kopf hat, oder selbst unser einäugiger Zyklop hier, sieht auf dem Foto, dass die Frau tot ist. Ich vermute mal, dass es die Leiche war, die man gestern im Bach unter uns gefunden hat.« Er deutete auf die Erde. Die anderen sahen ihn überrascht an. »Stand doch heute in der Zeitung. Lest ihr keine Zeitung?«

»Richtig. Aber es scheint keinen von Ihnen wirklich betroffen zu machen.«

»Wieso auch«, sagte der Zahnlose. »Wenn sie tot ist, hat sies jetzt besser. Wir kannten sie halt. Mehr auch nicht. Sie war eine Nette, hat da drüben gewohnt.« Er deutete hinter sich auf das Haus am Eck. Pfeffer folgte der Handbewegung und sah Annabella Scholz am Fenster von Erna Kubeliks Wohnung stehen, die Arme verschränkt und grinsend. Er zwinkerte ihr zu. »Sie hat sich manchmal um uns gekümmert. Nicht immer. Sie konnte verdammt launisch sein. Dann hat man sie tagelang nicht gesehen. Wochenlang. Manchmal hat sie aber was zu trinken gebracht, manchmal was zu essen …«

»Und manchmal durfte man mit zu ihr«, ergänzte der Einäugige mit der Stirndelle und rempelte prustend seinen Nebenmann an.

»Halt doch deine Klappe, Idiot«, sagte der Zahnlose.

»Mit zu ihr?«, fragte Pfeffer. »Durften Sie bei ihr übernachten, oder wie?«

»Na ja, baden durfte man bei ihr, wenn sie in der Laune war «, sagte der Einäugige. »Ich durfte das. Und unser Jerzy hier auch.« Er rempelte wieder seinen Nebenmann an, der verschämt grinste und Rotz die Nase hochzog. »Der Sepp ist nur neidisch, weil sie ihn nicht mitgenommen hat, weil er ihr zu hässlich war. So ohne Zähne.«

»Ihr habt doch keine Ahnung, ihr asoziales Pack«, rief der zahnlose Sepp. »Und ob ich bei ihr baden durfte!«

»Habe ich das eben richtig verstanden«, sagte Max Pfeffer. »Sie alle waren also schon mindestens ein Mal bei Erna Kubelik in der Wohnung …« Er machte eine Kunstpause.

»Ich nicht«, sagte der junge Mann. »Ich kann mich beherrschen, bei einer alten Assel zu baden.«

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