Kitabı oku: «Pechwinkel», sayfa 4
09
Die Sonne kitzelte Annabella Scholz in der Nase, als sie durch die große Glasfront hinunter auf die gusseisernen Bögen der Hackerbrücke und die Eisanbahngleise sah. Wie klein die Autos und Menschen von hier aus aussahen. Die Wartenden an der S-Bahn-Station wirkten wie Figuren in einer Miniaturwelt. Dazu passten die geräuschlos vorbeifahrenden Züge. Vom obersten Stock des modernen Bürogebäudes wirkte alles so fern, sauber und putzig. Unwirklich. Wie ein gestrandetes Ufo lag auf der anderen Straßenseite gegenüber das Oval des neu gebauten Busbahnhofs. Wenn Annabella den Blick hob, konnte sie hinter der Hackerbrücke den Hauptbahnhof sehen und dahinter die Türme der Frauenkirche.
»Gefällt es Ihnen?« Michael Kreutzpaintner betrat den Raum, in dem Annabella Scholz auf Weisung der sehr bescheiden freundlichen Empfangsdame gewartet hatte. Die Firma MuK-Bau hatte ihre Büros im obersten Stock eines modernen Neubaus im Arnulfpark direkt an der Hackerbrücke. Kreutzpaintner trug eine runde Hornbrille, die ihm etwas Eulenartiges gab und zurückgegelte Haare, die sich auf dem Kragen seines Clubjackets wellten. Er durchmaß mit großen Schritten das elegant im Stil einer Kaffeelounge eingerichtete Zimmer, schüttelte der Hauptkommissarin ein wenig zu kräftig die Hand und stellte sich neben sie, um den Ausblick zu genießen. »Ein Traumblick, nicht wahr?«
»Ja, sehr schön«, sagte Annabella Scholz. »Macht Fernweh.«
»Finde ich auch.« Kreutzpaintner lächelte ölig. »Darum haben wir auch sofort zugeschlagen, als wir dieses Objekt angeboten bekommen haben.«
»Ihnen gehört das ganze Haus?«
»Nein, nur die Räume hier. Gemietet. Wir bauen nicht neu. Das ist nicht unsere Philosophie. Wir kaufen heruntergekommene Juwelen und verleihen ihnen wieder den Glanz, den sie verdienen.«
»Ach, texten Sie auch Ihre Werbebroschüren.«
Der Immobilienvermarkter lachte affektiert. »Witzig. Sie sind witzig. Hübsch und witzig.«
Die Hauptkommissarin lächelte gequält und dachte: ›Schleimscheißer.‹
»Hat Ihnen meine Sekretärin nichts angeboten? Kaffee? Wasser?«
»Nein danke.« Sie wandte sich vom Fenster ab und nahm auf einem der sandfarbenen Sitzwürfel Platz.
»Ach ja, unser Arnulfpark.« Michael Kreutzpaintner breitete die Arme aus und wippte auf den Zehenspitzen. Dann kam er zu ihr und setzte sich ihr gegenüber. »Vorgestern noch ein heruntergekommenes Brachgelände, ein Schmuddelkind im Herzen Münchens, und heute eine traumhafte Wohnoase!«
»Wenn man es sich leisten kann.«
»Das können Sie so nicht sagen, Frau Scholz. Wir können Ihnen gerne mal einen unverbindlichen Finanzierungsplan erarbeiten. Sie werden sehen, der Traum vom Eigenheim muss kein Traum bleiben! Wir haben sehr schöne Objekte in der Au, in Untergiesing und in Sendling …«
»Und im Glockenbachviertel, in der Pestalozzistraße.«
»Richtig.« Kreutzpaintner fuhr mit der Handfläche über das zurückgegelte Haar. »Da haben wir sogar zwei Objekte. Aber ich muss Sie leider enttäuschen. Da ist bereits alles verkauft.«
»Ich bin untröstlich. Genau dort wollte ich nämlich kaufen«, sagte Annabella Scholz sarkastisch.
»Sie sind mir eine.« Michael Kreutzpaintner grinste blöde.
»Gut, Herr Kreutzpaintner, dann hätten wir das geklärt. Nun zum Thema. Danke, dass Sie überhaupt so kurzfristig Zeit für mich gefunden haben. Sind Sie der Inhaber von MuK-Bau?«
»Nein, der Geschäftsführer. MuK-Bau ist eine GmbH.«
»Wie Sie sich denken können, geht es um den Todesfall in Ihrem Objekt Pestalozzistraße, Ecke Holzplatz.«
»Davon habe ich gelesen. Traurige Sache, sicher. Aber was hat das mit uns zu tun?«, fragte der Immobilienverwerter zurück.
»Vermietete Wohnungen lassen sich schwerer verkaufen als freie.«
»Ja und?« Michael Kreutzpaintner sah die Hauptkommissarin nachdenklich an, dann zog er die Stirn kraus. »Verstehe ich das richtig? Sie unterstellen uns, dass wir etwas mit dem Tod der alten Frau zu tun haben?«
»Ich unterstelle gar nichts, Herr Kreutzpaintner. Ich habe nur eine allgemein bekannte Tatsache geäußert.«
»Natürlich. Wussten Sie, dass nach einer aktuellen Erhebung München in Sachen Immobilien Platz zwei der begehrtesten europäischen Metropolen einnimmt? Nach Istanbul und noch vor London und Paris? Sicher, es ist auf dem Immobilienmarkt, der in München so angespannt ist wie sonst nirgendwo in Deutschland, schwieriger, eine vermietete Wohnung zu veräußern.« Der Geschäftsführer sprang erregt von seinem Sitzkubus auf. »Doch wir haben gewiss andere Möglichkeiten, als liebenswerte Seniorinnen, die ihren beschaulichen Lebensabend genießen möchten, ins Jenseits zu befördern, damit wir einen möglichst hohen Gewinn erzielen können! Das ist eine bodenlose Unterstellung.«
»Ich wiederhole gerne: Ich habe nichts unterstellt.«
»Wir bieten Mietern immer eine großzügige finanzielle Gegenleistung für ihren rechtzeitigen Auszug an. Das machen wir immer so, das ist üblich. Geld, und nicht Mord. Geld ist meist erfolgreicher als Gewalt.« Michael Kreutzpaintner drehte sich ungehalten zum Fenster und verschränkte die Hände auf dem Rücken.
»Und wenn Geld doch nichts bringt, kann man immer noch zu Gewalt greifen.«
»Sie haben ein schlechtes Menschenbild, Frau Scholz.« Er drehte sich zur Hauptkommissarin um. Die Augen hinter der runden Eulenbrille funkelten finster.
»Berufskrankheit. Gut, dann die direkte Frage, ob Sie mit Frau Kubelik schwerwiegende Probleme hatten? Wollte Frau Kubelik nicht ausziehen?«
»Wir betreuen momentan mehrere Objekte, da kann ich Ihnen nicht über jeden einzelnen Mieter sofort Auskunft geben. Ich werde meine Sekretärin anweisen, die Unterlagen zu dem Haus herauszusuchen.« Er durchmaß mit großen Schritten den Raum in Richtung Tür und verschwand im Vorraum. Nach einigen Minuten kehrte er zurück. Er legte einen Stapel Unterlagen auf den niedrigen Tisch neben Annabella Scholz.
»Wollen wir mal sehen …« Er ging in die Hocke und blätterte sich durch die Unterlagen. »Da haben wirs. Die Wohnung 01, Wohnung Kubelik.« Er las ein wenig, dann nahm er seine Eulenbrille ab und schmunzelte. »Das, werte Frau Hauptkommissarin, dürfte Sie überraschen.«
10
Ein Hauch von grünem Tee überdeckte langsam den Altmännergeruch im Zimmer. Pfeffer schnupperte und nickte selbstzufrieden. Er hatte sich auf dem Nachhauseweg kurzentschlossen einen Raumduft gekauft. Kein billiges Spray, sondern eine Flasche mit einer Essenz, in die man dünne Stäbchen aus Bambus steckte, die sich vollsogen und dann den Duft abgaben. Unverschämt teuer, aber gut, wie Pfeffer feststellte. Er setzte sich vor den Fernseher und machte sich über das Sushi her, das er sich mitgebracht hatte. Während er sich gelangweilt durch die Kanäle zappte, merkte er zu spät, dass er das Sushi viel zu hastig heruntergeschlungen hatte. Die aktuelle Aussicht auf einen weiteren öden Abend vor der Glotze ließ Pfeffer schaudern. Er sah auf die Uhr. Erst acht. Pfeffer fiel der Termin mit Severin ein. Er raffte sich auf und klingelte bei seinem malenden Nachbarn.
»Das nenne ich Pflichtbewusstsein, Max Pfeffer«, begrüßte ihn Severin. Er war barfuß und trug einen einstmals weißen Kittel voller Farbflecken. »Rein in die gute Stube. Ich habe extra für dich voll eingeheizt. Gelobt seien die Gaseinzelöfen. Schicker Anzug.«
»Danke.«
»Und du riechst gut.«
»Danke, aber das, lieber Severin, sagen Männer nicht zueinander. Außer sie wollen sich mal so richtig näher kennenlernen.«
Severin lächelte verlegen und wurde tatsächlich rot. Er verfügte wie sein Vater über zwei Zimmer, Küche, Bad und einen kleinen Balkon zum Hinterhof. Was er großspurig sein Studio nannte, war in Wahrheit das Wohn- und Arbeitszimmer, das Zentrum seines Lebens. Hier standen seine Staffelei, sein umfunktionierter Teewagen, auf dem sich Farbtuben und Pinselbecher stapelten, sein Arbeitstisch, Fernseher und eine große Bücherwand. An freien Wänden hingen nicht nur seine Arbeiten, sondern auch die von Freunden und Kollegen. Französische Chansons liefen leise im Hintergrund.
Pfeffer folgte Severin ins Studio. Neugierig studierte er die bereits fertigen Gemälde von Männern in Feinrippunterhosen, die an eine Wand gelehnt waren. Meist handelte es sich um ältere Männer mit schweren Walrosskörpern. Severin Hemberger hatte zweifelsohne Talent, da war sich Pfeffer mit seinem laienhaften Kunstverstand sicher.
»Alles Verwandtschaft«, erklärte Severin. »Mein Vater, zwei Onkel, zwei Cousins und ein Schwager.«
»Hübsche Freakshow.«
»Danke. Man kann sich die Verwandtschaft nicht aussuchen.«
»Das war ein Scherz«, sagte Pfeffer. »Sieht gut aus. Die Serie. Nicht die Verwandtschaft.«
»Danke. Ist es dir peinlich?«, fragte Severin. »Ich meine, das Ausziehen? Also, ich würds total verstehen, ich dusch mich auch ungern im Fitnessstudio, wenn mehrere da sind. Ich bin mehr der Gschamige …«
»Und ich der Nichtgschamige«, antwortete Pfeffer, der in jungen Jahren zu den Nacktsonnenbadern im Englischen Garten oder am Flaucher gezählt hatte, und zog sich in Windeseile komplett aus. Nackt stand er unbefangen neben Severin, der verlegen wegschaute. »Wie willst du das alles malen, wenn du nicht hinschaust? Ich genier mich nicht. Hab ich nie und werde ich nie. Wohin?«
»Auf das Sofa.« Severin deutete auf sein altes rotes Plüschsofa, das er vor seine riesige, mit einem weißen Laken abgehängte Bücherwand geschoben hatte. Das Möbel kannte Pfeffer. Es stammte von der Oma seiner Ex. Er hatte es Severin gegeben, nachdem der ihr Witwer geworden war.
Max Pfeffer setzte sich. »Wie?«
»Was?«
»Wie soll ich mich hinsetzen? Freie Sicht auf alles oder gschamig oder wie?«
»So ist gut. Noch breitbeiniger! Fläz dich relaxt hin. Du wirst der einzige Akt in der Serie sein, und der muss es krachen lassen.« Severin nahm eine alte weiße Feinrippunterhose vom Tisch und arrangierte sie neben Pfeffer. Mehrfach korrigierte er die Hose. »Bist du echt sicher, dass du sie nicht anziehen willst? Frisch gewaschen.«
»Nein! Mir scheint eher, dir wäre es lieber, wenn ich sie anziehe, Severin.«
Der Maler schwieg und fummelte weiter an der Unterhose herum.
»Okay«, sagte Pfeffer. »Ist es generell, weil ich ein Mann bin, oder ist es, weil ich der Ex deiner großen Liebe bin?«
»Eher Letzteres«, sagte Severin leise.
»Gut, dann schlag ich zum Entkrampfen der Situation mal vor, dass du dich auch freimachst, okay?«
»Spinnst du?« Severin sah Pfeffer empört an.
»Von mir aus kannst du die Unterhose anbehalten …«
»Darum gehts nicht! Ich meine, du bist … also du bist doch …«
Pfeffer begriff. »Du hast Angst, dass ich deinen Alabasterleib so scharf finde, dass ich dich deiner letzten Jungfräulichkeit beraube? Mein Gott, Severin, was bist du für ein homophober Spießer! Aber den Künstler markieren. Kein Wunder, dass du dich manchmal selbst zum Kotzen findest!«
»Klar. Und du bist die typische schwanzgesteuerte Schwulette, die denkt, sie könne jeden Hetero umdrehen.«
»Dann hätten wir das geklärt.« Pfeffer grinste breit.
Verkniffen, entschlossen und ohne ein weiteres Wort knöpfte Severin Hemberger seinen Kittel auf, ließ ihn zu Boden gleiten, schlüpfte aus der Jeans und entledigte sich seines T-Shirts. Er war muskulös bis an die Grenze zum Bodybuilding. Max Pfeffer, der im Prinzip nie etwas gegen den Anblick von gut gebauten Männerkörpern hatte, zog abschätzig die Augenbrauen nach oben. Severin bot seinem Geschmack nach schon zu viel Muskelmasse, um noch ästhetisch zu sein. Obwohl Severin sich bemühte, unverkrampft zu wirken, stand er ein wenig verlegen in seinem ausgeleierten grauen Slip da.
Pfeffer musste lachen. »Das war ein Scherz, Severin. Zieh dich wieder an, bitte.«
»Da musst du jetzt durch.« Severin schüttelte den Kopf. »Okay«, sagte er dann, fuhr sich mit der Rechten über seinen Stoppelkopf und klatschte schließlich in die Hände. »Dann wollen wir mal!«
»Gut. Für den Anfang.« Pfeffer schmunzelte. »Mal mich.«
»Langsam, Max. Ich mache heute nur ein paar Skizzen und dann ein paar Fotos, nach denen ich dann male. Du musst mir dann noch öfter Modell stehen, wenn ich das Bild fast fertig habe.«
Sie schwiegen. Pfeffer entspannte sich. Severin saß auf seinem Holzstuhl und zeichnete konzentriert auf seinem Skizzenblock. Gelegentlich riss er ein Blatt ab und ließ es vorsichtig zu Boden gleiten, dann zeichnete er auf dem neuen Blatt weiter.
»Und, was macht die Tote aus dem Glockenbach?«, fragte Severin nach einer Weile ohne aufzusehen.
»Tot sein.«
»Witzig. Ich meine, seid ihr weitergekommen?«
»Nicht sehr. Und wenn, dann ginge es dich am wenigsten an.«
»Schade, ich liebe Krimis.«
»Das ist kein Krimi, Severin. Das ist wirkliches Leben mit echten Toten.«
»Sorry. Ich dachte nur, ich könnte dir vielleicht helfen bei den Recherchen.«
Pfeffer lachte lauthals los. »Du? Mir helfen?«
»Warum nicht? Hintergrundrecherchen. Ich weiß viel über das Viertel und so.« Severin deutete auf das Bücherregal. »Ich hab ’ne Menge Literatur über München. Alte Karten und so.«
»Bist du unter die Heimatkundler gegangen?«
»Nö. Interesse. Ich will mal ein Buch über die Isarvorstadt schreiben. Habe ich mir zumindest vorgenommen. Ich wette, ich habe Material zu den Bächen und so hier im Regal. Ich schau morgen mal nach. Außerdem, ganz am Rande und nur falls es dich interessiert, habe ich mal Geschichte studiert.«
»Aha.« Pfeffer zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Deshalb bist du dann Weinhändler geworden.«
Severin schmunzelte und arbeitete eine Weile schweigend weiter.
»Wo kriegt man in deinem Alter noch so perfekt definierte Muskeln und vor allem so ein Sixpack her?«, fragte er dann.
»Disziplin«, antwortete Pfeffer. »Sport bis zum Umfallen, Essen statt Fressen sowie Alkohol nur in Gesellschaft. Und du bist im Übrigen nur zwei Jahre jünger als ich. In meinem Alter!«
»Hmm.« Severin Hemberger zeichnete weiter. »Ich trainiere mir einen Wolf und kriege kein Waschbrett.«
»Das ist genetisch.«
»Arsch.«
»Nein«, sagte Pfeffer. »Kein Scherz, das ist wie mit dem Zungerollen. Das kennst du noch aus der Schule, als die Sache mit den Mendelschen Gesetzen dran war.« Severin nickte. »Es ist genetisch bedingt, ob du Roller bist. Ebenso ist es mit dem Waschbrett. Du hast einen flachen, straffen Bauch, was beschwerst du dich. Wenns nicht bei dir angelegt ist, wirst du mit keinem Training der Welt einen Waschbrettbauch bekommen.«
»Echt? Scheiße.«
Nach einer langen Periode des konzentrierten Arbeitens wurden Severins Bewegungen langsamer, und schließlich hörte er ganz auf zu zeichnen. Pfeffer fühlte sich plötzlich zu nackt, legte eine Hand in den Schoß und sagte: »Inspiriere ich dich nicht mehr?«
»Nein.« Severin zeichnete ein wenig weiter. »Nimm die Hand weg. Ich war nur ein wenig in Gedanken bei ihr.«
»Bei ihr?«
»Bei ihr. Und den Streit, den wir mal hatten. Da hat sie mir an den Kopf geworfen, dass du …« Er schwieg und zeichnete weiter.
»Jetzt machs nicht so spannend. Dass ich was?«
»Nichts.«
»Es hat also etwas mit meinem Körper zu tun.«
Severin seufzte. »Dass du es besser … naja … es besser gebracht hättest. Also für sie besser.«
»Logisch.« Max Pfeffer zuckte mit den Schultern. »Und?«
»Arsch!« Severin warf den Bleistift wütend nach Pfeffer. Der Stift prallte von der Wand nur wenige Zentimeter von Max Pfeffer entfernt und zerbrach. Severin beruhigte sich umgehend, holte einen neuen Stift und zeichnete weiter. »Bei mir … anders gesagt, bei dir hätte sie mal einen Orgasmus gehabt, hat sie gesagt.«
»Einen?« Pfeffer zog die Augenbrauen nach oben und prustete. »Einen?!«
»Einen.«
»Immerhin!« Pfeffer schlug sich selbst anerkennend auf die Schulter.
»Ja. Glückwunsch. Depp. Sei nicht so selbstgefällig. Ich frage mich seitdem immer, wie du bei einer Frau im Bett gut sein konntest. Ich meine, ich weiß nicht viel über dich, ob du noch mehr Frauen hattest … Hast du dabei an Kerle gedacht …«
»Sorry, Severin, das geht dich alles nichts an. Aber zu deiner Information, sie war beileibe nicht die einzige Frau für mich – bevor wir verheiratet waren, wohlgemerkt – und ich habe das erste Mal mit einem Mann geschlafen, als ich bereits zweifacher Vater war. Okay?«
Severin Hemberger nickte langsam. »Wie und wann, wenn ich fragen darf?«
»Du darfst nicht«, sagte Pfeffer gereizt. »Aber du gibt sowieso keine Ruhe. Es war bei einer mehrtägigen Fortbildung in Berchtesgaden. Er hieß … er war ein Kollege, ehemaliger Zehnkämpfer, Körper wie ein griechischer Gott, verheiratet, drei Kinder. Wir teilten uns ein Zimmer. Und aus einer kleinen, lustigen, harmlosen Rangelei kurz vorm Schlafengehen wegen seiner abgrundtief hässlichen Spiderman-Unterhose wurde was anderes. Mehr musst du dazu nicht wissen.«
»Warst du verliebt?«
»In wen?«
»Na, ihn!«
Pfeffer lachte trocken. »Nein.«
»Bist du immer so ein harter Hund?
»Ja.«
»Idiot.«
»Frag nicht, wenn du keine ehrliche Antwort willst!«, sagte Pfeffer genervt.
»Du hast sie damit wahnsinnig verletzt.«
»Ich weiß. Mein Gott, tu nicht so, als hätte ich das nicht gewusst. Glaubst du, ich habe das absichtlich gemacht? Glaubst du, mir war das alles egal? Ich habe sie auch mal geliebt, verdammt noch mal. Aber wir waren sowieso am Ende. Florian hat die Ehe nicht gerettet.«
»Oh, Flo war das berühmte Wir-kitten-unsere-Ehe-Kind?«
»Ja. Klappt nie, und trotzdem probieren es alle. Irgendwann musste ich zu ihr ehrlich sein. Sei froh, dass wir uns getrennt haben, sonst hättest du sie nie kennengelernt. Du liebst sie immer noch, oder?«, fragte Pfeffer.
Severin nickte traurig.
»Sie ist jetzt wie viele Jahre tot? Du kommst schon drüber hinweg.« Blöde Floskel. »Verlieb dich neu.« Noch blödere Floskel. Hatte der Kerl denn keine Freunde, bei denen er sich ausheulen konnte? ›Andererseits, wieso sollte ausgerechnet Severin Freunde haben‹, dachte Pfeffer, ›wo ich auch praktisch keine habe?‹
»Ach, das ist es nicht. Frauen!«, schnaubte Severin verächtlich.
»Dito«, antwortete Pfeffer.
Severin zeichnete ein wenig weiter. »Ich habe keinen sexuellen Notstand, so ist es nicht. Ich bin ja schon irgendwo eine Schnitte. Aber wenns um mehr geht … keine Frau will mit einem Psycherl, das völlig pleite ist, das einen Offenbarungseid geleistet hat, zusammen sein.« Er legte Block und Bleistift weg und stand auf. »Du hast keine Ahnung von meinem Leben, Max. Ein Glas Rotwein? Ich hab ’nen tollen da!«
»Kunststück bei einem ehemaligen Weinhändler«, antwortete Pfeffer.
Severin lief in die Küche und kam kurz darauf mit einer Flasche südafrikanischen Rotweins und zwei Burgundergläsern wieder. Er schenkte ein und setzte sich neben Pfeffer aufs Sofa. Nachdem sie schweigend angestoßen hatten, sagte Severin trocken und in sein Glas starrend: »Frauen ticken so total anders.«
»Okay.« Pfeffer seufzte, genau das hatte er befürchtet. Aber er fühlte, dass es keinen Sinn hatte, das Gespräch zu blockieren. Also würde er den Hobbypsychologen für eine verwundete Männerseele spielen. Letztlich hätte Pfeffer das Gespräch in einer Formel zusammenfassen können: Völlig vereinsamter Großstadtsingle mit völlig durcheinandergeratenem Rollenverständnis und zerschundener Seele auf der ewigen Suche nach dem großen Glück. Der Klassiker. Okay, bei Severin kam dazu, dass er Psychopharmaka gegen seine Depressionen schlucken musste, aber sonst der Klassiker.
»Die brauchen einen Ernährer, einen, der die ganze Bagage durchbringt. Darum bin ich für Frauen nicht sexy. Ich könnte aussehen und fett sein wie Arsch-Friedrich. Wenn ich erfolgreich wäre, bekäme ich jede. Geld ist sexy. Das ist das ganze Geheimnis meines Solodaseins.«
»Und was ist mit denen mit Helfersyndrom?«
»Verzichte dankend. Die will ich nicht.«
Max Pfeffer merkte, wie er bereits jetzt nur noch mit halbem Ohr zuhörte. Er war es von Berufs wegen gewöhnt, immer zuzuhören und genau hinzuhören. Da hatte er in der Regel keine Lust auf genaues Hinhören im Privatleben, vor allem, wenn es um Themen ging, die ihn nicht interessierten. Wie Severins Frauengeschichte beziehungsweise seine nicht vorhandenen Frauengeschichten. »Und die Künstlergroupies?«, fragte er dennoch.
»Zu anstrengend!«
»Okay, du stehst auf geldgeile Schlampen, die interessieren sich aber nicht für dich, und du interessierst dich nicht für den Mutter-Teresa-Typ oder Groupies. Sehr differenziertes Frauenbild. Glaub mir, es gibt noch ein bisschen was dazwischen.« Pfeffer sah Severin die ganze Zeit aufmerksam an. Alter Trick. Es vermittelte dem Gegenüber das Gefühl, man würde ihm zuhören.
»Sagt die Tunte!«, knurrte Severin.
»Einer von uns kennt sich offenbar besser mit Frauen aus. Und, um einen der Anwesenden zu zitieren, bringt es derjenige auch besser bei Frauen.«
»Du bist echt ein Scheißkerl, ich hätte es dir nicht erzählen sollen.« Severin schien eher traurig, als wütend. Er redete weiter, erst stockend, dann wie ein Wasserfall. Und Max Pfeffer schaute ihn aufmerksam an, nickte gelegentlich, sagte manchmal so was wie »Ach« oder »Wieso?« oder »Echt? Scheiße« und hatte schon längst abgeschaltet. Dass er nicht zuhörte, und vor allem dass er immer noch nackt war und Severin nur seine graue labbrige Unterhose trug, wurde Pfeffer urplötzlich wieder bewusst, als Severin wie aus dem Nichts das heulende Elend bekam und sich Max plötzlich trostsuchend an den Hals warf. Wie hieß die Frau, von der er zuletzt gesprochen hatte? Oder besser: Wovon hatte Severin überhaupt zuletzt gesprochen?
»Ähm, Severin«, sagte Pfeffer betreten, »das ist echt schlimm. Aber …«
»Sorry.« Severin lehnte sich zurück und rieb die Augen. »Saupeinlich.«
»Nix passiert«, winkte Pfeffer ab. »My lips are sealed.«
»Ist mir aber echt sausaupeinlich.«
»Geh jetzt besser ins Bett«, sagte Pfeffer und stand auf. »Wir arbeiten heute sowieso nicht mehr weiter, oder? Morgen wieder.«
»Okay.« Severin grinste schief. »Danke, dass du mir zugehört hast. Du bist echt ein Freund. Danke.« Er stand auf und umarmte Pfeffer erneut kurz.
»Äh … Nun ja, findest du?« Pfeffer sah sich nach wie vor nicht als Severins Freund.
»Das bleibt alles unter uns, oder?«, fragte Severin plötzlich besorgt.
»Wem sollte ich es erzählen?«, fragte Pfeffer zurück und dachte: ›Was soll ich denn erzählen?‹ Pfeffer packte sein Kleidungsbündel, das er sorgfältig zusammengelegt auf dem Tisch deponiert hatte, klemmte das Bündel unter den Arm und verließ schnell die Wohnung. Im Treppenhaus stieß er mit der alten Hausmeisterin zusammen, die vom Trockenboden kam und einen Wäschekorb unter dem Arm trug.
»’n Abend«, grüßte Pfeffer die verdutzte Frau, die mit offenem Mund dabei zusah, wie der nackte Mann sein Bündel Kleidung vor die Tür legte, sich bückte und den Wohnungsschlüssel hervorkramte, um die Tür aufzuschließen.
»Schönen Abend noch, Frau Profalla«, sagte Pfeffer, als er die Tür hinter sich zuzog. Als er es längst nicht mehr hören konnte, fand die Hausmeisterin endlich ihre Sprache wieder und sagte halblaut: »Ihnen auch, der Herr.«
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