Kitabı oku: «Segen», sayfa 4
5. Einordnung der biblischen Vorstellung von Segen
Auf die biblische Vorstellung von Segen und ihre Rezeptionsgeschichte wird in den anderen Kapiteln dieses Buches ausführlich eingegangen. Daher mögen an dieser Stelle einige Hinweise zur Einordnung genügen. Im Vergleich zu der weltweit verbreiteten Vorstellung, dass das Wohlergehen der lebenden Menschen in einer Beziehung der Interdependenz zu den Ahnen steht, fällt in den Väter- und Müttergeschichten der HB auf, dass auch dort die Vorstellung von Segen prominent mit der Beziehung zwischen Vater und Sohn verbunden ist (Gen 27). Dabei wird vorausgesetzt, dass es eigentlich um die Beziehung zwischen dem Vater und dem ältesten Sohn geht (Gen 27,1), sofern dieser nicht in die Wüste geschickt wird (Gen 21,9–21) oder seinen Segen verspielt (Gen |34|25,29–34). Der Segen wird an die nächste Generation idealerweise dann weitergegeben, wenn der Vater an der Schwelle des Todes steht (Gen 27,4). Dies macht darauf aufmerksam, dass die biblische Vorstellungswelt Voraussetzungen teilt, die weit in der menschlichen Religionsgeschichte verzweigt sind – nämlich dass die in der Bibel mit »Segen« beschriebene Dimension des Lebens etwas zu tun hat mit der Beziehung zwischen verstorbenen Vorfahren und lebenden Nachkommen. Eine Besonderheit des biblischen Konzepts von ›Segen‹ gegenüber den exemplarisch anhand der Herero und des Konfuzianismus dargestellten Vorstellungskomplexen besteht jedoch darin, dass der Segen des Vaters gegenüber dem Sohn eine einmalige Handlung ist (vgl. Gen 27,38). Verglichen mit den beiden zuvor beschriebenen Konzepten wird damit die Beziehung zwischen verstorbenen Vorfahren und lebenden Nachkommen davon entlastet, dass um ihre segensvolle Wirkung immer weiter gerungen werden muss. In der idealtypischen Beschreibung der »Vätergeschichten« ist die Beziehung zwischen Lebenden und Toten befriedet dadurch, dass bereits alles getan ist, was zu tun ist.
Gleichzeitig ist in der biblischen Vorstellungswelt der zwischen Menschen erteilte Segen untrennbar verbunden mit dem segnenden Wirken Gottes. Die Väter- und Müttergeschichten der Genesis erzählen nicht nur von dem Segen, der vom Vater zum Sohn weitergegeben wird, sondern auch von der Segensverheißung an Abraham (Gen 12,2), die letztlich zum Segen für alle Völker werden soll (Gen 12,3). Die narrative Verbindung zwischen beiden Elementen führt dazu, dass die Lesenden die Spur der Segensverheißung Gottes entlang der Segenshandlungen zwischen Vätern und Söhnen verfolgen und deshalb ihre Wirkungen nicht über die Linie der jeweils älteren/erstgeborenen Söhne bei den Ismaelitern bzw. den Edomitern suchen, sondern über die Linie der nachgeborenen Söhne bei den Israeliten, deren Genealogie mit dem Fluss der väterlichen Segenshandlungen übereinstimmt. Von dieser narrativen Verknüpfung lebt letztlich auch die für das NT zentrale Aussage, dass die an Abraham gegebene Verheißung des Segens für alle Völker sich in Jesus Christus erfüllt (Gal 3,8f.).
|35|6. Segen im Islam
Der Islam hat an der biblischen Vorstellungswelt Anteil, indem er eine Vielzahl von biblischen Erzählstoffen aufgreift und interpretiert, indem er das Grundanliegen der prophetischen Verkündigung des Einen Gottes und seiner Gerechtigkeit teilt, und indem auch in sprachlicher Hinsicht viele arabische Begriffe der islamischen Terminologie mit den entsprechenden hebräischen oder aramäischen Begriffen der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Terminologie verwandt sind. Von daher hat die Einbeziehung des Islam in einen religionsgeschichtlichen Vergleich zu einem jüdisch-christlichen Begriff einen besonderen Stellenwert. Es geht bezogen auf den Islam nicht nur um die Frage, ob sich Analogien zur Vorstellung von »Segen« hinsichtlich ihrer Einordnung in die menschliche Wirklichkeitserfahrung finden lassen, sondern es geht auch darum, wie ein mit dem Judentum und Christentum gemeinsamer religiöser Grundbegriff aufgenommen, interpretiert, abgewandelt und fortgeführt wird.
Eine für das theologische Verständnis von ›Segen‹ im Islam wichtige Beobachtung ist zunächst, dass im Koran das Verb ṣ-l-ʾ (das in der islamischen Lehrbildung schnell zum Terminus technicus für die Verrichtung des islamischen Pflichtgebets ṣalat geworden ist) auch mit Gott als Subjekt vorkommt. Laut Sure 33 (al-Aḥzāb), Vers 43 vollzieht Gott die Tätigkeit ṣ-l-ʾ über den in diesem Vers angesprochenen Gläubigen, und ebenso tun dies seine Engel. Aus der Fortsetzung des Satzes geht hervor, dass dies dazu dient, »[…] damit er euch aus den Finsternissen ins Licht hinausführt.« Dadurch wird deutlich, dass die Tätigkeit ṣ-l-ʾ von Gott zum Wohl der Gläubigen ausgeführt wird, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihr irdisches Wohl, sondern auch zu ihrer Rechtleitung im Glauben, wofür die Metapher des Weges von der Finsternis zum Licht steht.
Die islamische Koranexegese interpretiert diese Aussage nun nicht so, dass auch Gott das Pflichtgebet verrichten würde, sondern deutet sie als ein segnendes Handeln Gottes und seiner Engel. Entsprechend wählen auch Übersetzungen in westliche Sprachen ziemlich regelmäßig Begriffe aus dem Wortfeld des Segens.
In derselben Sure al-Aḥzāb sagt Vers 56 noch einmal spezieller |36|von Gott und seinen Engeln aus, dass sie über dem Propheten (d.h. Muhammad) die Tätigkeit ṣ-l-ʾ verrichten, und die Gläubigen werden aufgefordert, dasselbe zu tun. Aus diesem Vers leitet sich die Praxis her, dass während des fünfmal täglich zu verrichtenden Pflichtgebets um den Segen für den Propheten Muhammad gebeten wird. Nach einem Hadith hat Muhammad die entsprechende Formulierung im Bezeugungsgebet (tašahhud) selbst empfohlen:
»Man sagte: O Gesandter Gottes, wie sollen wir über dich den Segen sprechen? Er sagte: Sprecht: O unser Gott, sprich den Segen über Muhammad und seine Ehefrauen und seine Nachkommen, wie du den Segen über die Angehörigen Abrahams gesprochen hast. Und segne Muhammad und seine Ehefrauen und seine Nachkommen, wie du die Angehörigen Abrahams gesegnet hast. Du bist des Lobes und der Ehre würdig« (Khoury 2008–2011, Bd. 2: 299).
Darüber hinaus ist es unter Muslimen üblich, bei jeder Erwähnung des Propheten Muhammad oder eines anderen Propheten wie z.B. Jesus eine Segensformel über ihn auszusprechen. Auch dies hat seine Grundlage in einem Hadith: »Der Gesandte Gottes sagte: Der (wahre) Geizige ist der, bei dem ich erwähnt werde und der nicht über mich den Segen spricht« (Khoury 2008–2011, Bd. 2: 300).
Die wichtigsten arabischen Begriffe, mit denen das Wortfeld ›Segen‹ bezeichnet wird, leiten sich jedoch nicht aus der Wurzel ṣ-l-ʾ her, sondern in genauer Entsprechung zum biblischen Hebräisch aus der Wortwurzel b-r-k. Das arabische Nomen, das sich mit ›Segen‹ übersetzen lässt, lautet ›baraka‹; das ebenfalls sehr häufig begegnende Partizip passiv (»gesegnet«) lautet ›mubarak‹.
Für die baraka gilt im Islam analog zum Judentum und Christentum, dass sie letztlich immer eine Gabe Gottes ist, die jedoch auch durch menschliche Segenshandlungen zugesprochen werden kann. Umstritten ist innerhalb der muslimischen Religionsgemeinschaft, wie weit ›baraka‹ durch menschliche Segenshandlungen nicht nur zugesprochen, sondern auch vermittelt wird, und wie weit Menschen und Gegenstände zu Trägern von ›baraka‹ im Sinne einer besonderen Segensmacht werden können, die durch Berührung übertragen werden kann.
Gott selbst vollzieht im Koran die Tätigkeit b-r-k insbesondere in Bezug auf das Land, in das zunächst Abraham und Lot vor den Götzendienern |37|ihrer Heimat gerettet werden (Sure 21, Vers 71), und das später das Volk Israel nach seinem Auszug aus Ägypten erhält (Sure 7, Vers 137). Die stehende Redewendung zur Bezeichnung dieses Landes ist dabei »Das Land, das Wir gesegnet haben« (vgl. auch Sure 21, Vers 81). Ebenfalls von Gott gesegnet ist nach Sure 17, Vers 1 die »Fernste Moschee« (masğid al-aqṣā), die von der Tradition als der Tempelberg von Jerusalem gedeutet wird. Bereits etwas zurückhaltender ist die sprachliche Konstruktion, wenn Jesus in Sure 19 (maryam), Vers 31 von sich selbst sagt »Und Er (Gott) hat mich gesegnet gemacht, wo immer ich bin«. Als ›gesegnet‹ (mubarak) wird auch der Koran bezeichnet (Sure 6, Verse 92. 155) und die Nacht, in der die erste Sure des Koran herabgesandt wurde (Sure 44, Vers 3). Weiter wird über das Heiligtum der Kaaba in Mekka ausgesagt, dass sie gesegnet sei und eine Rechtleitung für die Welten (Sure 3, Vers 96).
Ähnlich wie im Hebräischen ist auch im Arabischen des Koran das Verb b-r-k so benutzt, dass es auch Gott zum Objekt haben kann. Während im biblischen Zusammenhang dafür die Übersetzung »Gepriesen sei …« üblich ist (s. aber. u. Leuenberger, in diesem Band S. 50f.), wird die entsprechende Formulierung in Übersetzungen des Koran auch mit »gesegnet sei …« wiedergegeben. Sure 25 (al-furqān) beispielsweise beginnt mit der Formulierung: »Gesegnet sei, der auf seinen Diener die Unterscheidungsnorm (furqān) herabgesandt hat, damit er den Weltenbewohnern ein Warner sei …« (Vers 1) und setzt danach noch zweimal neu ein mit der Formel »Gesegnet sei, der …« bezogen auf Gott (Verse 10 und 61).
Die bereits im Koran angelegte Vorstellung, dass bestimmte Personen und Orte in besonderer Weise gesegnet sind, hat in der weiteren Geschichte des Islam dazu geführt, dass ›baraka‹ in manchen Kreisen als eine Art Segensmacht interpretiert wird, die sich in der Gegenwart von Personen und Orten manifestieren kann und die auf andere Personen oder auch auf Gegenstände übertragen werden kann. Insbesondere der Sufismus hat für die Verbreitung dieser Vorstellung eine wichtige Rolle gespielt.
Innerhalb der Sufi-Orden wurden und werden besondere Wissensbestände gepflegt, die sich mit Zuständen der menschlichen Seele und des menschlichen Körpers beschäftigen, und die sowohl |38|zur spirituellen Führung von Anhängern des Ordens, als auch für Heilungen genutzt werden. Diese Wissensbestände werden nach außen hin geheim gehalten. Weitergegeben werden sie in besonderen Lehrer-Schüler-Verhältnissen, die bei erfolgreicher Entwicklung dahin führen, dass der Lehrer den Schüler damit beauftragt, selbst ein Sufi-Scheich zu werden und das Wissen seines Ordens an neue Schüler weiterzugeben. Auf diese Weise kann jeder Sufi-Scheich seine Beauftragung auf eine lückenlose Kette von Lehrern zurückführen, die bis zum Gründer des Ordens und weiter bis zum Propheten Muhammad führt.
In der islamischen Volksreligiosität wurde und wird die bei manchen Sufi-Scheichs besonders ausgeprägte Begabung zur spirituellen Führung und Heilung als eine baraka interpretiert, der eine geradezu physisch manifeste Kraft zugeschrieben wird, durch Übertragung Segen zu bewirken. Manche lebenden Sufi-Scheichs sind bereits von einem Nimbus umgeben, Träger von ›baraka‹ in diesem Sinne zu sein. Noch mehr wird es verstorbenen Sufi-Scheichs zugeschrieben, dass die baraka am Ort ihres Grabes gegenwärtig sei. Teilweise handelt es sich bei diesen Gräbern um Schreine, in deren Zentrum ein Sarkophag steht. Einen mindestens analogen Stellenwert haben die Gräber von Propheten, die in den Kernländern des Islam zahlreich zu finden sind, und die Gräber von wichtigen Gestalten des frühen Islam.
Menschen pilgern zu den Gräbern von Propheten, Heiligen und Sufi-Scheichs, teilweise um für ihr spirituelles Leben der dort anwesenden baraka teilhaftig zu werden; teilweise auch, um Heilung von körperlichen oder seelischen Krankheiten zu erfahren oder um einen lange erfolglos gehegten Kinderwunsch endlich erfüllt zu bekommen.
All diese Praktiken und Deutungen sind jedoch im Islam hochgradig umstritten. Die orthodoxen Schulen der islamischen Gelehrsamkeit stehen ihnen mit großer Zurückhaltung gegenüber. Im 18. Jahrhundert entstand auf der Arabischen Halbinsel die Bewegung der Wahhabiten, die sich auf die in diesem Punkt schon lange zuvor besonders strenge Rechtsschule der Hanbaliten und auf die Lehren von Ibn Taymiyya (1263–1328) beruft. Die Wahhabiten begegneten der volksreligiösen Interpretation von ›baraka‹ und den |39|daraus hervorgegangenen Praktiken mit offener Feindschaft und teilweise auch mit Gewalt gegen Schreine von Sufi-Scheichs und gegen andere heilige Orte, an denen die Wahhabiten ein aus ihrer Sicht missbräuchliches Pilgerwesen wahrnahmen. Da die Lehre der Wahhabiten im offiziellen Islam des Königreichs Saudi-Arabien aufgegriffen wurde und von dort aus im Rahmen von gut finanzierten Projekten in die gesamte islamische Welt exportiert wird, nimmt ihre Bedeutung für den weltweiten Islam gegenwärtig stark zu, während Sufismus, Volksfrömmigkeit und die in ihrem Zusammenspiel beheimatete Deutung von ›baraka‹ in entsprechendem Maße zurückgedrängt werden.
7. Gegenentwurf: Das indische Konzept des Karma
Eine interessante Gegenposition zur Vorstellung von ›Segen‹ in den Religionen westasiatischer Herkunft bildet das indische Konzept des ›Karma‹: diesem zufolge ist die Unverfügbarkeit des menschlichen Wohlergehens nur eine scheinbare, die dadurch zustande kommt, dass der größere zeitliche Zusammenhang verkannt wird, in dem das einzelne menschliche Leben steht (und auch das Leben jedes anderen Lebewesens). Jedes gegenwärtige Leben gilt als ein Glied in einer schier endlos langen Kette von aufeinanderfolgenden Wiedergeburten (saṃsāra). In Verbindung mit saṃsāra beschreibt Karma (Sanskrit: karman) das Gesetz, nach dem sich die Qualität der einzelnen Wiedergeburten richtet: für jedes Lebewesen gibt es eine Bestimmung, die es in dieser Welt zu erfüllen hat. Bei Menschen richtet sich diese Bestimmung nach der Zugehörigkeit zu einer Kaste und nach dem Geschlecht. Jede Handlung, die in Übereinstimmung mit der jeweils eigenen Bestimmung vollzogen wird, bewirkt gutes Karma; jede Handlung, die der Bestimmung eines Lebewesens zuwiderläuft, bewirkt schlechtes Karma. Es geht also beim Gesetz des Karma nicht darum, dass Handlungen als solche ›gut‹ oder ›schlecht‹ sind, sondern solche Bewertungen können nur im Verhältnis dazu getroffen werden, wer die Handlung vollführt. Von den männlichen Angehörigen der Kriegerkaste wird erwartet, dass sie im Krieg Tapferkeit zeigen und bereit sind, zu töten. Für |40|einen Mann aus der Priesterkaste dagegen würde es schlechtes Karma bewirken, Gewalt gegen Lebewesen auszuüben. Sowohl gutes als auch schlechtes Karma wird über die Kette der Wiedergeburten hinweg angesammelt. Je mehr gutes Karma angesammelt wurde, desto besser und angenehmer ist die Existenz, in die ein Wesen wiedergeboren wird. Je mehr schlechtes Karma angesammelt wurde, desto schlechter und unangenehmer wird die Existenz, in die das Wesen wiedergeboren wird. Demnach ist Wohlergehen also weder ›Zufall‹ noch die Wirkung eines ›Segens‹, der von Gottheiten, Geistern oder Ahnen ausgeht, sondern jedes Lebewesen hat es sich letztlich selbst zuzuschreiben, ob es ihm wohl ergeht oder ob es leidet. Bei einem streng angewandten und als ausschließliche Erklärung für den Gang der Welt genutzten Karma-Prinzip bleibt für Vorstellungen von ›Segen‹ oder für Entsprechungen dazu kein Platz.
Allerdings wird der Gedanke des Karmas nicht überall, wo er eine Rolle spielt, in dieser Konsequenz zur Geltung gebracht. Im Rahmen der Vielfalt von indischen religiösen Vorstellungen und Praktiken, die in der westlichen Terminologie als ›Hinduismus‹ zusammengefasst werden, ist es insbesondere die südindische Tradition des bhakti, die durchaus wieder mit ›Segen‹ vergleichbare Vorstellungen mit dem Karma-Gedanken verbindet. Bhakti bedeutet die ganzheitliche Hingabe des Menschen an eine Gottheit. Dies kann sich beispielsweise im liebevollen Gedenken, in der Anrufung des Namens, im tätigen Dienst oder in der Rezitation bzw. dem ›Chanten‹ von Mantras äußern. Bhakti versteht sich als ein Weg der Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra) in die immerwährende Gemeinschaft mit Gott. Dabei hängt es dann letztlich nicht mehr von selbst erworbenem gutem Karma ab, ob Erlösung sich realisiert und der Zustand ewiger Glückseligkeit erreicht wird, sondern dies ist das Geschenk der Gottheit an ihre liebevollen Verehrerinnen und Verehrer. Auch das innerweltliche Wohlergehen der Bhakti-Anhänger wird in vieler Hinsicht als Geschenk der Gottheit verstanden, wenngleich die Traditionen von saṃsāra und Karma dabei nicht völlig verleugnet werden. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste spielt jedoch längst nicht eine so große Rolle wie in anderen Richtungen des Hinduismus. Es gilt nicht in demselben Maße als ausgrenzend, einer niedrigen Kaste anzugehören, |41|und es ist viel eher möglich, dass hochkastige und niedrigkastige Männer und Frauen gemeinsam die Traditionen des bhakti praktizieren. Im modernen Hinduismus ist ›bhakti‹ nicht mehr nur die Praxis gesonderter Gruppierungen, sondern wird teilweise als ein notwendiger Bestandteil von hinduistischer Praxis überhaupt beschrieben. Dies hat dazu beigetragen, dass die in den Traditionen des bhakti enthaltene Abmilderung der Kastengrenzen sich auch auf breitere Kreise der Gesellschaft auswirken konnte.
8. Gegenentwurf und Analogie: Buddhismus
Der Buddhismus entstand in Indien zeitlich parallel zu den später als »Hinduismus« zusammengefassten religiösen Strömungen und geht ebenfalls von den Prinzipien des karman und des saṃsāra aus. Auch aus der Sicht des frühen Buddhismus stellt sich das irdische Wohlergehen von Lebewesen nicht als etwas dar, das in erster Linie vom Wohlwollen einer Gottheit oder von Geistern abhängig wäre, sondern als etwas, das dem Gesetz des Karmas unterliegt. Stärker allerdings als irgendeine Richtung des Hinduismus stellen die Lehren des Buddha heraus, dass ein nachhaltiges Wohlergehen in dieser materiellen Welt überhaupt nicht erwartet werden kann, sondern dass jede Existenz unter den Bedingungen des saṃsāra leidhaft verfasst ist – selbst für die Träger von ›gutem‹ Karma. Der Grund dafür liegt darin, dass es nach der buddhistischen Lehre kein ›Sein‹ gibt, das von Dauer gekennzeichnet wäre, sondern nur Werden und Vergehen. Jedes Werden und Vergehen erzeugt Leiden: unliebsame oder unangenehme Zustände sind unmittelbar mit ihrem Entstehen leidhaft, während liebgewordene oder angenehme Zustände durch ihr Vergehen Leid verursachen.
Unter den vom Buddhismus beschriebenen Bedingungen macht ›gutes‹ Karma es durchaus wahrscheinlicher, dass vorübergehend angenehme Zustände eintreten, die äußerlich so aussehen wie das, was die israelitische Tradition als ein ›gesegnetes‹ Leben beschreiben würde. Damit steigt aber auch die Herausforderung, sich nicht von diesen Zuständen abhängig zu machen – keine ›Anhaftung‹ an sie zu entwickeln, denn umso größer wird der Schmerz über |42|den notwendig eintretenden Verlust sein, wenn das Angenehme wieder vergeht. Das äußerste Extrem dieser Erfahrungswirklichkeit bildet das Dasein der Gottheiten, die nach buddhistischer Lehre Wesen innerhalb des saṃsāra sind und die damit wie alle anderen Lebewesen grundsätzlich dem Leiden an Werden und Vergehen unterworfen sind. Die Existenz einer Gottheit ist der am längsten dauernde angenehme Zustand, der innerhalb des saṃsāra erreicht werden kann, und es erfordert viel ›gutes‹ Karma, um dorthin zu gelangen – aber der Abschied von der letztlich doch endlichen Existenz als Gottheit ist auch die größte Herausforderung eines Loslassens, die von einem lebenden Wesen erfahren werden kann.
Das buddhistische Verständnis von Karma unterscheidet sich von hinduistischen Verständnissen dadurch, dass es weit stärker verallgemeinerbaren Grundsätzen unterliegt, welche Handlungen ›gutes‹ Karma bewirken und welche Handlungen ›schlechtes‹ Karma. Die elementarsten Grundsätze dafür sind in den fünf Tugendregeln (pañcaśīla) zusammengefasst: schlechtes Karma wird insbesondere dadurch bewirkt, andere Lebewesen zu schädigen oder zu töten; zu nehmen, was nicht gegeben wird; ausschweifende sexuelle Handlungen zu vollziehen, zu lügen bzw. üble Nachrede zu verüben, sowie bewusstseinstrübende Substanzen zu sich zu nehmen. Dabei ist die karmische Wirkung dieser Handlungen nach buddhistischer Auffassung jedoch davon abhängig, in welcher Absicht sie ausgeführt werden. Die eigentliche Wurzel des Leidens und des schlechten Karmas sind Gier, Hass und Verblendung. Die genannten Handlungen bewirken schlechtes Karma insbesondere dann, wenn sie Ausdruck von Gier, Hass und Verblendung sind, während das versehentliche Zertreten einer Ameise nicht dieselbe karmische Wirkung hat wie das Töten aus Hass.
Auch im Buddhismus lässt sich nun beobachten, dass die ursprünglich jeder Vorstellung von ›Segen‹ konträre Wirklichkeitsdeutung durch Karma und saṃsāra wieder abgemildert wird durch Praktiken und Vorstellungen, die durchaus in gewisser Hinsicht als Analogien zu ›Segen‹ betrachtet werden können.
Eine erste in diese Richtung weisende Praxis ist bereits Bestandteil des ältesten Buddhismus. Sie könnte auf den historischen Buddha Siddharta Gautama selbst zurückzuführen sein und wird |43|auch im Theravada-Buddhismus praktiziert, der als die Richtung des Buddhismus mit der größten Nähe zu den Lehren des historischen Buddha gilt.
Zur frühen buddhistischen Lehre gehört eine Aufzählung von vier Bewusstseinszuständen, die dazu in der Lage sind, die Grenzen zwischen dem (illusionär so erlebten) Selbst und den von sich selbst getrennt erfahrenen anderen Lebewesen aufzuheben. Diese vier Bewusstseinszustände sind Güte, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut. Sie werden unter dem Begriff brahmavihāra zusammengefasst: die vier himmlischen Verweilzustände.
Auf der Grundlage der Lehre von den vier entgrenzenden Bewusstseinszuständen wird eine Form der Meditation gelehrt, die als brahmavihāra-bhāvanā bezeichnet wird. Dabei geht es darum, dass der oder die Meditierende durch Konzentration in sich der Reihe nach Güte, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut hervorbringt und sie dann den Teilen der Wirklichkeit zuwendet, die er oder sie noch von sich selbst getrennt wahrnimmt: den vier Himmelsrichtungen und allen Lebewesen.
Die Wirkung dieser Meditation wird primär darin gesehen, die entgrenzenden Bewusstseinszustände einzuüben, sie mehr und mehr als eine dauerhafte Haltung einzunehmen und darüber zunehmend das aus buddhistischer Sicht verblendete Wirklichkeitsverständnis abzulegen, wonach das ›Selbst‹ (ātman) von den Wesen in seiner Umgebung getrennt erscheint. Positiv gewendet geht es darum, die Wirklichkeit der Verbundenheit von allem mit allem mehr und mehr zu begreifen.
In den Kategorien der Trennung von Selbst und Umwelt gedacht scheint es also primär um die Entwicklung des Selbst zu gehen. Gleichzeitig werden der Praxis des brahmavihāra-bhāvanā jedoch durchaus auch manifeste Wirkungen auf die Umwelt zugeschrieben: eine Episode aus der Legende des Buddha Siddharta Gautama berichtet davon, dass Gegner des Buddha einen wütenden Elefanten auf ihn hetzten und dass der Buddha den Elefanten allein durch die Praxis des brahmavihāra-bhāvanā besänftigt habe (Cullavagga 7,3,11–12 [s. Horner: 1938–1966]).
Gemäß dem eigentlichen Wirklichkeitsverständnis des Buddhismus jedoch ist eine solche Unterscheidung von Wirkungen auf das |44|Selbst und auf die Umwelt ohnehin hinfällig, da deren Trennung ja nur eine scheinbare ist und es in Wirklichkeit darum geht, die Verbundenheit von allem mit allem mehr und mehr erfahrbar werden zu lassen.
Hinsichtlich des zugrundeliegenden Wirklichkeitsverständnisses ist der brahmavihāra-bhāvanā sicherlich nicht mit jüdischen, christlichen oder islamischen Vorstellungen von ›Segen‹ zu vergleichen.
Hinsichtlich der Haltung, die dabei gegenüber anderen Lebewesen, insbesondere gegenüber anderen Menschen eingenommen wird, lässt sich jedoch durchaus eine gewisse Analogie zu Handlungen der Segensspendung beschreiben. Hier wie dort geht es darum, dass eine Haltung des Wohlwollens gegenüber anderen Menschen eingenommen wird, dass die innere Haltung durch eine Körperhaltung zur Performanz gebracht wird und dass diesem Vorgang eine Auswirkung auf das Wohlergehen der Menschen zugeschrieben wird, denen Segen bzw. Güte, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut zugewandt wird.
Im Mahayana-Buddhismus, der religionsgeschichtlich etwas jünger ist als der Theravada-Buddhismus, hat sich darüber hinaus eine Vorstellung entwickelt, die eine noch deutlich engere Analogie zur Vorstellung von Segenspendern in Judentum, Christentum und Islam darstellt: das Bodhisattva-Ideal. Auch der Tibetische Buddhismus – die dritte Hauptrichtung des Buddhismus – hat diese Vorstellung aufgenommen.
Unter einem Bodhisattva verstand die buddhistische Terminologie ursprünglich ein Wesen, das sich auf dem Weg zur Erleuchtung befindet wie der Buddha in seinen Leben vor seinem Erwachen. Mit der Zeit hat sich in den Vorstellungen des Mahayana-Buddhismus die Grenze zwischen Buddhas und Bodhisattvas verwischt, so dass Bodhisattvas teilweise auch als Wesen beschrieben werden, die ihre Erleuchtung bereits erlangt haben und die damit nicht mehr weiter im saṃsāra, dem Kreislauf der Wiedergeburten, gefangen sind (Freiberger/Kleine 2011: 209). Die Erleuchtung würde eigentlich nach der Vorstellung des ältesten Buddhismus zum ›Verlöschen‹ führen – dem ersehnten Zustand des nirvāṇa, der nicht mehr dem leidhaften Werden und Vergehen unterworfen ist, der aber auch |45|jenseits aller Möglichkeiten liegt, noch irgendeinen Einfluss auf die Geschehnisse in der Welt des saṃsāra zu nehmen.
Der oder die Bodhisattva wird jedoch beschrieben als ein schon vollständig befreites Wesen, das für weitere Leben im Wirkbereich des saṃsāra verbleibt, um dort anderen Wesen auf ihrem Weg zur Befreiung helfen zu können.
Den Bodhisattvas wird eine schier unermessliche Opferbereitschaft zugeschrieben. Im Mahayana-Buddhismus und Tibetischen Buddhismus gilt Karma als übertragbar von einem Wesen zu einem anderen. So können die Bodhisattvas nicht nur als Wegweiser und Vorbilder für den Erwerb von gutem Karma und den Weg der Erleuchtung wirken, sondern sie übertragen darüber hinaus ihr eigenes, gutes Karma auf Wesen, die dessen besonders bedürftig sind. Außerdem tragen manche von ihnen die Folgen des schlechten Karma ab, das andere Wesen angehäuft haben, indem sie freiwillig die Wiedergeburt in Lebensformen auf sich nehmen, die als Folge von besonders schlechtem Karma gelten. Bei all dem steigert sich jedoch das Potential der Bodhisattvas an gutem Karma nur immer weiter, denn ihre Opferbereitschaft wirkt neues gutes Karma, das sie dann zusätzlich anderen Wesen zuwenden können.
Die Rolle der Bodhisattvas ist nun einerseits ein spirituelles Ideal, das sehr viele Buddhistinnen und Buddhisten für sich selbst erstreben. Als letzte Konsequenz des auch schon im ältesten Buddhismus vorhandenen Gedankens, dass alles mit allem verbunden ist, geht es in den jüngeren Richtungen des Buddhismus nicht mehr nur um das Auslöschen der jeweils ›eigenen‹ Gefangenschaft im saṃsāra, sondern das Ziel allen Strebens ist die Befreiung aller Wesen und die Beendigung der Welt des saṃsāra insgesamt.
Um die Mitwirkung an diesem Ziel für sich selbst zu übernehmen, gibt es die Praxis des Bodhisattva-Gelübdes, das von zahlreichen Buddhistinnen und Buddhisten abgelegt wird. Dieses Gelübde wird in unterschiedlichen Formeln überliefert und beinhaltet neben einer Reihe von Verpflichtungen, dem vom Buddha beschriebenen Weg der Tugend, der Weisheit und der Meditation zu folgen auch die Verpflichtung, von den eigenen karmischen Verdiensten an andere Wesen abzugeben (Freiberger/Kleine 2011: 209f.).
Neben dem Idealbild für alle Anhängerinnen und Anhänger des |46|Mahayana beschreibt die Rolle der Bodhisattvas jedoch auch eine Klasse von Wesen, die diesen Status bereits aktuell erreicht haben. Auf dieser Basis ist in der mündlichen und schriftlichen Tradition von Mahayana-Buddhismus und Tibetischem Buddhismus ein sehr reicher Bestand an mythischen Erzählungen entstanden, in denen einzelne Bodhisattvas namentlich vorgestellt und charakterisiert werden und in denen die Wohltaten beschrieben werden, die sie hilfsbedürftigen Wesen zuwenden.
Die wirkungsgeschichtlich wohl einflussreichste Gestalt eines solchen Bodhisattva ist Avalokiteśvara, dessen Verehrung sich von Indien aus in alle Länder des Mahayana-Buddhismus und nach Tibet verbreitet hat und der dabei in männlichen wie in weiblichen Gestalten dargestellt wird. Avalokiteśvara gilt als Verkörperung des universalen Mitgefühls. Er bzw. sie soll der Legende nach alle Welten durchwandert haben im Bestreben, den Wesen zu helfen. In der buddhistischen Frömmigkeit spielen die männlichen und weiblichen Gestalten von Avalokiteśvara eine wichtige Rolle als Nothelfer, die nicht nur auf der Suche nach Befreiung aus dem saṃsāra, sondern auch in Belangen des diesseitigen Wohlergehens angerufen werden. Nach der Vorstellung des Tibetischen Buddhismus ist Avalokiteśvara besonders mit dem Land Tibet verbunden und verkörpert sich in zahlreichen Meistern des Tibetischen Buddhismus, u.a. im Dalai Lama, dem spirituellen und früher auch weltlichen Oberhaupt dieser Richtung des Buddhismus.