Kitabı oku: «Reifer werden», sayfa 2
Im Westen werden verschiedene Kategorisierungen verwendet. Zu den bekanntesten zählt die Einteilung in „gegenständliche“ und „nichtgegenständliche“ Meditation. Auf diese möchte ich im Folgenden zurückgreifen.
Gegenständliche Meditation
Verwendet wird in dieser Form der Meditation ein Fokuspunkt außerhalb unser selbst, auf den hin wir in Stille unsere Konzentration bündeln und so von der Zerstreutheit zur gezielten Aufmerksamkeit gelangen. Hierfür lässt sich Verschiedenes gebrauchen, vorausgesetzt, dass es bei uns eine positive Assoziation auslöst und dass um uns und den Gegenstand herum ein gutes Energiefeld entsteht. Vier Objektarten sollen hier erläutert werden, die sich als Hilfsmittel für die Meditation bewährt haben:
Bild. In der orthodoxen Kirche beispielsweise spielt das Betrachten von Ikonen eine wichtige Rolle. Man lässt das Bild auf sich wirken und allmählich wird es zu einem Mittler für die Verbindung mit dem, was undarstellbar und unaussprechlich heilig ist.
Text. In den christlichen Klöstern und teilweise auch außerhalb der Klostermauern hat das Meditieren von Textabschnitten aus der Heiligen Schrift eine lange Tradition. Die Ignatianischen Exerzitien, eine christliche Meditationsform, beruhen auf dieser Methode. Die Worte werden nicht analysiert, sondern „verkostet“. Neben Bibelworten können aber auch Weisheitssprüche oder kurze Gedichte auf diese Weise meditiert werden. Besonders geeignet sind solche, die sich dem Verstand nicht auf Anhieb erschließen. In der Stille könne ein plötzliches Verständnis sowie ein Bezug zum eigenen Leben aufleuchten.
Blume(n) oder Baum. Wird eine innere Verbindung zu einer Blume, einem Blumenstrauß oder einem Baum aufgebaut, öffnet sich bildlich gesprochen ein Kanal, durch den die Kraft, die Schönheit und der Frieden der Natur auf uns übergreifen können. Das meditative Betrachten eines mächtigen Baums kann gleichzeitig unser Gefühl für die Erhabenheit der Natur verstärken.
Kerze. Das äußere Licht wirkt hier wie ein Katalysator zum Wiedererkennen des inneren Lichts. Die Bewegung der Flamme fügt ein Stück Lebendigkeit hinzu. So gesehen kann das stille Betrachten eines lodernden Feuers diese Wirkung noch erhöhen und wie beim Baum eine wohltuende Demut hervorrufen.
Betrachte ich jedoch den konkreten Verlauf einer gegenständlichen Meditation, lässt sich die Unterscheidung nicht immer aufrechterhalten. Wenn ich beispielsweise mit dem Blick auf eine Kerze meditiere (gegenständlich), kann es leicht passieren, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt das „Schauen“ als hinderlich empfinde, die Augen schließe und ohne äußeres Objekt weitermeditiere (nichtgegenständlich). Ich werde dann höchstwahrscheinlich die Kerze, auf die ich zuvor fokussiert war, eine Weile lang vor dem inneren Auge sehen, bis sie schwindet. Dasselbe geschieht, wenn ich einen kurzen Text meditiere: Sätze oder auch nur einzelne Worte werden innerlich präsent bleiben, auch wenn ich den Text nicht mehr vor Augen habe. Sie schwingen zunächst noch in mir, bis auch sie wegschmelzen und ich ganz „leer“ und empfänglich werde. So gesehen ist ein derartiger Übergang meditationstechnisch sogar sinnvoll. Aber selbst wenn ich danach ohne Zielobjekt mit wachem und offenem Geist sitze, wie im folgenden Abschnitt beschrieben, werden irgendwann doch wieder Gedanken, Bilder und Emotionen als „Gegenstände“ auf dem Radar der Aufmerksamkeit erscheinen, die ich in bekannter Manier wahrnehme und wieder loslasse.
Ein Meditieren mit Fokus auf einen äußeren Gegenstand kann also in ein ungegenständliches Meditieren münden. Die Grenzen sind fließend. Dennoch brauchen wir Unterscheidungen, um uns unter den verschiedenen Meditationsarten zurechtzufinden. So soll die Kategorie „nichtgegenständlich“ im Folgenden ausdifferenziert werden, wobei die Trennlinien nicht zwischen einzelnen Meditationswegen (z. B. Zen, Vipassana oder Kontemplation), sondern zwischen den methodischen Unterschieden beim Meditieren gezogen werden.
Nichtgegenständliche Meditation
Vereinfacht gesagt zählen hierzu alle Meditationsarten, die ohne Hilfe eines Objekts außerhalb unserer selbst im Sitzen oder Liegen durchgeführt werden. Es werden dabei meistens innere Fokuspunkte verwendet, auf die hin wir die Konzentration richten. Am häufigsten ist dies der Atem. Der Atem ist jedoch im Grenzbereich zwischen gegenständlich und nichtgegenständlich sowie zwischen innen und außen angesiedelt. Dies zeigt wiederum, dass die Grenzziehung bestenfalls eine behelfsmäßige ist. Mit diesem Vorbehalt im Hinterkopf wollen wir nun aber die wichtigsten nichtgegenständlichen Meditationsmethoden im Einzelnen betrachten.
Meditation des reinen Gewahrseins bzw. Offenseins
Hierbei kommen wir dem Ideal einer wirklich nichtgegenständlichen Meditation am nächsten. Es gibt kein vorbestimmtes äußeres oder inneres Ziel, auf das ich die Aufmerksamkeit beim Meditieren richte. Ich bin Beobachter in einem als möglichst weit empfundenen inneren Raum und nehme wahr, was für Gedanken, Bilder, Emotionen oder Körperempfindungen sich nach und nach bemerkbar machen und dann wieder vergehen. Ich erkenne und akzeptiere sie mit Wohlwollen so, wie sie gerade sind, und gebe ihnen vielleicht sogar einen Namen. Sie sollen aber nicht die Zügel meiner Aufmerksamkeit übernehmen und sie in diese oder jene Richtung lenken, was etwa von einem einzelnen Gedanken zu einer Gedankenkette führen würde. Geschieht dies dennoch – und es wird unweigerlich geschehen –, nehme ich es als solches wahr und hole – sanft und ohne Selbstvorwurf, denn dies ist ein Teil der Übung – die Aufmerksamkeit zurück.
In den aus den monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) stammenden Meditationspraktiken hat diese Methode eine etwas andere Ausrichtung oder Intention. Statt erwartungsfrei zu sitzen und wahrzunehmen, was da kommen mag, richte ich mich auf Gott aus. Da aber Gott nicht vorstellbar ist, ist die innere „Leinwand“, auf die ich achte, zu Beginn ebenso „leer“ wie bei der Methode des reinen Gewahrseins. Die Tatsache jedoch, dass ich mich bewusst für das Heilige öffne und mich daraufhin ausrichte – auch wenn es unsagbar und unschaubar ist – und somit empfänglich werde, beeinflusst die Wahrnehmungen beim darauffolgenden Meditieren. Was für Wahrnehmungen das dann sind, ist aber von Person zu Person und von Sitzung zu Sitzung verschieden.
Meditation mit Atem als Anker
Meditieren ganz ohne Bezugspunkt für die Aufmerksamkeit ist schwierig und besonders für wenig Geübte kaum aufrechtzuerhalten. Die Gedanken schießen in alle möglichen Richtungen davon oder man gerät in einen Art Dösezustand. Wir brauchen für den Geist einen Anker. Mir ist keine Meditationsart bekannt, die diesbezüglich nicht (auch) auf den Atem zurückgreift. Warum ausgerechnet auf den Atem? Weil der Atemfluss besser als alles andere unsere Existenz als Ganzes veranschaulicht: Er ist immer gegenwärtig und gleichzeitig immer in Bewegung (Verbindung von Sein und Werden). Er macht den Zyklus des Aufnehmens (Aneignung) und des Abgebens (Loslassen) vor. Der Atem verbindet die Außen- und die Innenwelt. Er ist sinnlich wahrnehmbar und doch nicht greifbar. Er fließt ohne unser Zutun und Wollen, lässt sich aber auch bewusst steuern (Verbindung von Unbewusstem und Bewusstem). Wo Menschen den Atem über das rein Physiologische hinaus thematisieren, wird er vielfach als ein Bindeglied zwischen Körper einerseits und Seele bzw. Geist andererseits bezeichnet. Es ist somit kein Zufall, dass in vielen Sprachen die Begriffe für Atem und Geist und/oder Seele aus der gleichen Wurzel hervorgehen.32
32 Spiritus (Geist) im Lateinischen kommt von spirare, später respirare (atmen), woraus sich im Französischen esprit (Geist) sowie respirer (atmen) gebildet haben. In weiteren romanischen Sprachen sieht es ähnlich aus. Das lateinische anima, das französische âme (Seele) sowie animus (Geist) gehen auf das griechische ανεμος (anemos, Wind) zurück. Auf Altgriechisch heißt πνεω (pneo) „ich atme“ und πνευμα (pneuma) ist der „Geist“. Im Russischen haben sich дух (duch, Geist) und душа (duscha, Seele) aus der gleichen Wurzel wie дышать (dyschat‘, atmen) gebildet. Das deutsche Wort Atem ist mit dem Sanskritwort Atman (Hauch, Seele) urverwandt. Und schließlich kennen verschiedene Sprachen Wendungen wie „er hat seinen Geist ausgehaucht“.
Beim Meditieren auf dieser methodischen Basis verfolgt man einfach mit wacher Aufmerksamkeit den Atemfluss, möglichst ohne ihn dabei zu beeinflussen. Und jedes Mal, wenn die Aufmerksamkeit abschweift, holt man sie sanft zum Atem zurück.
Meditation mit Atem und Stützwort als Anker
Oft genügt der Atem allein nicht als Anker. Dann hilft es, als weiteren Sammelpunkt für die Aufmerksamkeit ein positiv assoziiertes Wort oder eine kurze Wortfolge in den Atemfluss zu legen. Ohne dabei ins analytische Denken über die Bedeutung des Wortes oder Satzes zu verfallen. Beispiele wären „Licht“, „Liebe“, „Ja“ oder „Danke“. Falls jegliche Assoziation unerwünscht ist, bieten sich ein neutrales „Ein“ bei Einatmen und „Aus“ beim Ausatmen an. Bei einem einzigen Wort empfiehlt sich die Verknüpfung mit dem Ausatmen. Mal ist der Fokus stärker beim Atem, mal leuchtet das Wort stärker im Bewusstsein auf. Mal sind beide aus dem Blickfeld verschwunden und ich bin dennoch wach und präsent – dann bin ich leer und offen für intuitive Einsichten und Momente der Seligkeit und erfahre (meist kurz) einen höheren – klareren – Bewusstseinszustand als im Alltagsgeschehen. Verflüchtigt sich die Aufmerksamkeit, hole ich sie ohne Selbstvorwürfe zurück. Wenn es darum geht, beim Meditieren wach und zentriert zu bleiben, bilden Atem und Stützwort zusammen eine stärkere Hilfe als eines dieser Elemente allein. Bezüglich der Auswahl eines Stützwortes oder Stützworte ist Folgendes zu beachten: Ein heiliger Name, ein Wort oder eine Wortfolge lösen zunächst einmal Assoziationen aus. Diese sollten uns aus der Zerstreutheit herausholen, beruhigend wirken und gleichzeitig wachrütteln; sie sollen Verbindung erzeugen und wenn möglich auch Freude oder Dankbarkeit hervorrufen. Machen Sie diesbezüglich einen kleinen Selbsttest und wiederholen Sie in Stille eine halbe Minute lang bei jedem Ausatmen das Wort „ja“. Danach führen Sie die gleiche Übung mit dem Wort „nein“ durch. Und beobachten Sie die jeweilige Wirkung auf ihre Stimmung – in der Regel öffnen wir uns bei einem wiederholten „ja“ und verschließen uns beim „nein“. Auch der Klang eines Wortes ist zu berücksichtigen, selbst wenn das Wort nur still im Innern wiederholt wird. Vergleichen Sie dazu die Wirkung eines langgezogenen „Aaaaaa“ (tendenziell angenehm und beruhigend) mit einem langgezogenen „Iiiiii“ (schrill und tendenziell unangenehm). Überhaupt ist es wichtig, Verschiedenes auszuprobieren, bevor eine Wahl getroffen wird. Wenn wir uns jedoch einen kleinen Vorrat an wohltuenden eigenen Worten und/oder Sätzen zurechtgelegt haben – „heiligen“ oder anderen –, sollten wir uns damit begnügen. Durch wiederholten Gebrauch werden sie uns mit der Zeit „ans Herz wachsen“. Falls die positive Wirkung von einem davon abklingt, legen wir es beiseite und verwenden ein anderes.
Im vorhergehenden Kapitel wurde das Wort „Maranatha“ der World Community for Christian Meditation erwähnt. Es eignet sich aus verschiedenen Gründen gut: Die Bedeutung (aramäisch „Der Herr kommt“ oder „Komme, Herr“) ist nicht offensichtlich und löst so in uns keine Gedankengänge aus. Es ist rhythmisch angenehm und klangtechnisch harmonisch – vier „A“, vier gleichmäßig betonte Silben.
Eine besondere Stützwort-Variante lernte ich bei der Zen-Meditation kennen. Wir wurden angehalten, bei jedem Ausatmen still eine Zahl hinzuzulegen und zwar fortlaufend von eins bis zehn. Und dann nahtlos wieder von vorne bei eins zu beginnen. Einatmen – ausatmen – eins. Einatmen – ausatmen – zwei. Die Übung zeigt mir auch jetzt noch rasch, dass viel Verbesserungspotenzial in Sachen langanhaltender Aufmerksamkeit vorhanden ist. Ich erwische mich beispielsweise dabei, dass ich dreimal hintereinander „vier“ gezählt habe. Oder dass ich schon wieder einige Atemzüge ohne Begleitzahl hinter mich gebracht habe. Oder dass ich bereits bei dreizehn angelangt bin, obwohl ich nach zehn wieder bei eins hätte beginnen sollen. Machen Sie diese Übung nicht, wenn Sie nicht fähig sind, über sich selbst zu schmunzeln.
Mantrameditation
Wird einem Stützwort oder Stützsatz mehr Gewicht zugewiesen und wird es bzw. er – dank der regelmäßigen Wiederholung – als Kraftwort oder Kraftspruch betrachtet, können wir von einer Mantrameditation sprechen. Wichtig festzuhalten ist auch, dass es sich bei einem Mantra üblicherweise nicht um einen Aussagesatz handelt, denn ein solcher könnte allzu leicht den analytischen Verstand aktivieren und uns so aus einem meditativen in einen denkenden Zustand versetzten. Mantras sind eher Anrufe oder Rufe der Hingabe. Der zentrale Fokuspunkt liegt auf der rhythmischen Wiederholung der gedachten, gesprochenen oder gesungenen Wortfolge. Es stehen hierfür überlieferte Mantras oder Gebetsworte zur Verfügung; wir können uns aber auch etwas Eigenes zurechtlegen. Einsetzen lässt sich ein Mantra sowohl in der formellen Meditation als auch in einer informellen Minimeditation zwischendurch. Wie bei anderen Meditationsformen gibt es auch während einer Mantrameditation eine Progression. Sie verläuft idealerweise von lautem Rezitieren (meist in Gruppen) oder geistigem Rezitieren (allein) über das Lauschen auf die nachklingende, sich langsam verziehende Klangfolge hin zur stillen, empfangsbereiten Leere.
Betrachten wir noch einige überlieferte Mantras. Dem Hinduismus entstammt das weltbekannte Om. Traditionellerweise wird es laut ausgesprochen und zwar als Aum, wobei das „M“ am Ende in die Länge gezogen wird. Das ausklingende „M“ mündet in die Stille. Die so erzeugte Vibration soll helfen, Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. „Om“ steht für das Göttliche oder das Sein und gilt als kosmischer Urlaut. Es bildet außerdem bei mehreren klassischen Mantras den Anfang, beispielsweise bei Om mani padme hum aus dem Buddhismus. Die vier Wörter ergeben keinen eindeutigen Sinn – sie sollen vielmehr etwas andeuten und in uns zum Klingen bringen. „Om“ öffnet uns für die Transzendenz. „Mani“ bedeutet „Juwel“ – gemeint ist jenes der klaren Sicht und des Mitgefühls. „Padme“ ist der Genetiv von Padma, der Lotus, „mani padme“ heißt also „das Juwel des Lotus“. Der Lotus symbolisiert Reinheit und Schönheit; er lebt unerkannt und unkontaminiert auch in den schlammigsten Gewässern und soll – in uns – zusammen mit dem Juwel, das er in sich birgt, ans Licht der Oberfläche wachsen. Und „Hum“ ist ein Laut der Bestärkung.
Das klassische christliche Herzensgebet lautet „Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“. Wie die psychische Robustheit durch langjährige Praxis mit einem solchen Herzensgebet gestärkt werden kann, zeigt sich – als Extrembeispiel – in einer Episode aus der Lebensgeschichte des Jesuitenpaters Franz Jalics (geb. 1927). Zusammen mit einem befreundeten Priester arbeitete er 1976 während der argentinischen Militärdiktatur in einem Armenviertel von Buenos Aires, als die beiden unter dem Verdacht der Zusammenarbeit mit „Linken“ verhaftet wurden. Sie blieben insgesamt fünf Monate zumeist gefesselt und mit verbundenen Augen in Gefangenschaft. Mehrfach wurde ihnen ihre bevorstehende Hinrichtung angekündigt. Jalics berichtete später, dass er diese Zeit, in der sich Wut, Angst, Depression, Trauer und Hoffnung abwechselten, vor allem dank der Wiederholung des zu „Jesus Christus“ gekürzten Herzensgebets unbeschadet überstand. Die Fähigkeit, auch unter den schwierigsten und leidvollsten Umständen darauf zurückzugreifen, verdankte er der jahrelangen Übung.
Bei einem weitverbreiteten Mantra – wie bei einem weitverbreiteten Gebet – kann auch das Bewusstsein, dass Hunderte oder gar Tausende von Menschen auf der ganzen Welt gleichzeitig mit mir daran sind, es – laut oder still – auszusprechen, den Worten für mich zusätzliche Kraft verleihen.
Visualisierung
Ich erwecke ein Bild mit Sonnenlicht in mir, mit der ich Wärme, Helligkeit, Freude und lebensspendende Energie verbinde. Es ist neben dem Atem mein zweiter Anker für die Aufmerksamkeit. Zu diesem Bild kehre ich im Lauf einer Meditationsübung immer wieder zurück. Es lässt sich auch verfeinern, indem ich mir etwa vorstelle, die Sonnenstrahlen scheinen direkt in mein Herz und wärmen es, oder auf eine schmerzende Körperstelle und bringen Linderung. Ich lasse die Bilder wirken und beobachte, wie sich mein körperliches und emotionales Empfinden während dieser Zeit wandelt. Ich beobachte nur – nichts soll erzwungen werden.
Wie bei den Stütz- oder Mantraworten sind wir bei der Wahl des inneren Bildes natürlich frei. Anhand seiner Wirkung stellen wir rasch fest, ob uns eine bestimmte Vorstellung guttut und sich für mehr als nur eine Sitzung eignet.
Besonders sinnvoll ist die Visualisierungsmethode, wenn es um Beziehungen zu anderen Menschen geht. Möchte ich mich zum Beispiel von Ressentiments oder gar Hass einer bestimmten Person gegenüber befreien, indem ich Verzeihen und/oder Loslassen übe, hilft eine Visualisierung. Wenn möglich nehme ich diese Person in meiner Vorstellung in die Herzgegend. In den meisten Fällen muss eine solche Meditation mehrmals durchgeführt werden, um Wirkung zu zeigen. Je stärker die Abneigung und je tiefer die Wunden, desto schwieriger gestaltet sich diese Übung. Desto reichhaltiger und befreiender sind aber auch ihre Früchte, wenn ich durchhalte.
Abschließen möchte ich die Auswahl nun mit einem kurzen Hinweis auf weitere nichtgegenständliche Meditationsmethoden, die heute wieder vermehrt Anwendung finden:
Meditation mit Fokus auf Mitgefühl (Metta-Meditation)
Hier geht es um meditatives Einüben von Mitgefühl und Wohlwollen sich selbst und anderen gegenüber. Vor allem in der buddhistischen Tradition hat diese Methode einen festen Platz; aus ihr stammt auch der Name. Die oben beschriebene Visualisierungsübung würde übrigens auch in diese Kategorie passen. Mehr dazu in Kapitel 2.3.2.
Meditation mit Fokus auf den Energiefluss (Chakra-Meditation)
Sie dient der Wahrnehmung und der Aktivierung der einzelnen Chakras, der feinstofflichen Energiezentren des Körpers. Ziel ist das Lösen von Blockaden und somit ein befreiter Energiefluss durch den ganzen Körper.
Meditation mit Atemübungen (Pranayama)
Die am weitesten verbreitete und am häufigsten angewandte Meditationsart ist jene mit dem Fokus auf den Atem als Anker, der mich immer wieder aus der Zerstreuung oder dem Abdriften in einen Dösezustand in einen wachen und gesammelten Zustand zurückholt. Dabei soll der Atemfluss jedoch nicht beeinflusst oder gesteuert werden. Anders beim Pranayama33 aus der Welt des Yoga. Hier wird durch verschiedene, zumeist einfache Techniken der Atem reguliert, was unmittelbare Auswirkungen auf das Körperempfinden und damit indirekt auch auf meine Stimmungslage hat. Vielleicht waren Sie schon einmal inmitten einer heftigen Auseinandersetzung geistesgegenwärtig genug, um anzuhalten und ganz bewusst ein paar tiefe und langgezogene Atemzüge zu machen. Der zuvor rasende Puls beruhigt sich. Die Auseinandersetzung nimmt daraufhin einen anderen Verlauf. Dies könnte man als eine kurze, einfache, aber sehr effektive Pranayama-Übung bezeichnen.
33 „Prana“ bedeutet Energie, „Ayama“ Kontrolle.
Neben der Differenzierung zwischen gegenständlicher und nichtgegenständlicher Meditation lassen sich die Meditationsformen auch in zwei weitere grundsätzliche Kategorien einteilen:
Meditation ohne Bewegung (auch „passive Meditation“ genannt)
Hierzu zählen alle Arten der Sitzmeditation sowie des Meditierens im Liegen. Das Liegen weist einen großen Vorteil und einen großen Nachteil auf: Man kommt dabei rasch zur Ruhe, aber die Gefahr des Eindösens ist wesentlich höher als beim Sitzen. Meditieren im Stehen kann für einen kurzen meditativen Halt geeignet sein, empfiehlt sich aber weniger für eine längere Meditation.
Meditation mit Bewegung (auch „aktive Meditation“ genannt)
In diese Kategorie fallen Geh- und Tanzmeditation, meditativ ausgeführte Yogaübungen sowie Qi Gong und Tai Ji. Bei den meisten Spielarten geht es darum, die Bewegungen möglichst wach und mit Bedacht auszuführen, was eine gewisse Langsamkeit erfordert. Das Körperbewusstsein wird gestärkt. Man lernt seinen Körper allmählich besser kennen und freundet sich mit ihm an, was beiden – Körper und Geist – guttut. Kreuzgänge in den Klöstern wurden unter anderem zum Zweck des kontemplativen Gehens angelegt. Via Aufmerksamkeit auf die Gehbewegungen soll der Fokus der Mönche weg vom kleinen Ich und hin zu Gott gelenkt werden. Sich loszueisen vom kleinen Ich, ist auch das Ziel der wirbelnden Kreistänze beispielsweise der Sufi-Derwische sowie verschiedener schamanischer Tänze. Hierbei soll es jedoch nicht durch Ruhe und Entschleunigung, sondern durch vollständige Hingabe in die Bewegung, bis ein Trancezustand erreicht wird, zu einer Bewusstseinserweiterung kommen.
Als besonders wirksam erweisen sich Meditationseinheiten mit einer Kombination von Elementen mit und solchen ohne Bewegung. Eine Einheit kann beispielsweise mit Übungen in Bewegung beginnen, gefolgt von Meditieren im Sitzen oder Liegen, wie Sie es vielleicht aus dem Yoga kennen. Die Abfolge kann aber auch Sitzen – Gehen – Sitzen lauten, wie es in Zen-Sesshins üblich ist.
Bei der nächsten Einteilung stehen nicht Methoden oder Techniken im Fokus, aber dennoch ist sie höchst praxisrelevant. Gemeint ist die Unterscheidung zwischen Einzelmeditation und Gruppenmeditation. Fühle ich mich wohler, wenn ich allein im stillen Kämmerlein meditiere oder wenn ich zusammen mit anderen, zumeist unter Anleitung eines Meditationsleiters, übe? Und welche dieser Varianten werde ich eher über einen längeren Zeitraum hinweg in Gang halten können? Auch hier gilt das Motto „Probieren geht über Studieren“. Aus eigener Erfahrung möchte ich jedoch festhalten: Einzel- und Gruppenmeditation ergänzen sich wunderbar! Es ist also selten eine Frage von Entweder-oder, sondern eher eine Frage nach der für mich passenden Gewichtung.
Meditationssitzungen lassen sich unterteilen in solche ohne Anleitung (z. B. Zen, christliche Meditationsformen) und solche mit Anleitung (z. B. „Mindfulness Based Stress Reduction“-Methode) während der Sitzung. Immer beliebter werden zudem Apps, die Meditationsanleitungen bieten, sodass ich heutzutage auch in Einzelsitzungen die Wahl habe, mich ganz der Stille hinzugeben oder mich der Führung durch eine unaufdringliche und meine Aufmerksamkeit immer wieder zurückholende Stimme anzuvertrauen. Für Meditationsleiter stellt sich stets die Frage des Maßes, wobei Anfänger in der Regel mehr Anleitung benötigen als Erfahrene. Ein Grundsatz sollte meines Erachtens aber immer gelten: Der Stille muss genug Raum gelassen werden.
Ein Unterscheidungskriterium bleibt noch. Und dieses ist das Allerwichtigste. Nicht um Meditationstechniken geht es dabei, noch um praktische Alternativen wie Einzel- oder Gruppenmeditation. Es geht um den Grad der Hingabe. Denn dieser entscheidet über die Auswirkungen, die eine Meditationspraxis auf unser Alltagsleben haben wird. Meditation ist zu einer Modeerscheinung geworden – innert weniger Jahre ist das Interesse daran exponentiell angestiegen. Als Folge sind viele Menschen bereit, aus einer Mischung von Neugierde und einer leisen Ahnung, dass es ihnen guttun könnte, das Meditieren einmal auszuprobieren. Stellen wir uns in diesem Zusammenhang einen Meditationsweg als einen breiten Fluss vor, der irgendwo in weiter Ferne ins Meer mündet. Es ist der Fluss der Entfaltung. Ans Ufer begeben sich heute viele. Sie ziehen vielleicht Schuhe und Socken aus und machen einige vorsichtige Schritte ins Wasser. Dann aber begeben sie sich wieder auf vermeintlich sicheres Festland. Andere wagen es, im fließenden Wasser zu schwimmen, vielleicht auch mehrmals, es zieht sie aber doch rasch wieder zum Ufer des vertrauten äusseren und inneren Lebens zurück, auch wenn dieses nie ganz befriedigt. Nur wenige folgen der Sehnsucht ganz, bewegen sich entschlossen auf die Flussmitte zu und vertrauen sich dort der Strömung an. Genau dies verlangt aber ein Meditationsweg. Ohne eine solche Hingabe wird Meditation kaum zu einem – eigentlich von allen Interessenten ersehnten – nachhaltigen Wandel im Bewusstsein sowie im täglichen Tun und Lassen führen.
Meditation ist eine ernste Angelegenheit. Wird sie aber nur mit Ernst betrieben, bleibt ihre Wirkung beschränkt. Um ihre Lebendigkeit aufrechtzuerhalten, sind zwischenzeitlich auch umprogrammierte und fantasievolle Zugänge erforderlich. Ich sitze am Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Links von mir ist ein Fenster. Ich brauche den Kopf bloß nach links zu drehen und vor mir tut sich ein Bild auf: drei Gärten, ein Haus, eine Garage und ein Stück Wald. Gerade jetzt sind Schneeflocken hinzugekommen. Sie tanzen im Wind. Ich beschließe spontan, für die kommenden Minuten das Schreiben zu unterbrechen und mich ganz dem Schneetreiben zu widmen. Beim Betrachten kommt mir in den Sinn, dass jede der Tausenden von Schneeflocken, die sich in diesem Zeitraum vor meinem Fenster versammeln, um wie für mich ihren Tanz aufzuführen und dann weiterzuziehen, einzigartig ist. Es steigt ein Gefühl des Wunders und der Dankbarkeit in mir auf und dieses Gefühl nehme ich wahr, bis es wieder vergeht. Ich sitze weiterhin aufrecht und in Ruhe. Die Aufmerksamkeit bewegt sich hin und her zwischen dem Schneetreiben, das sich vor meinen Augen abspielt, und dem, was sich in meinem Innen bewegt. Es meldet sich dort auch ein aus Rastlosigkeit geborener Drang, die Betrachtung zu beenden; ich beobachte ihn, ohne zu reagieren, und der Drang vergeht. Zwischendurch ruht der Fokus auf dem Atem. Bereichert schließe ich die Übung ab und bringe sie zu Papier. Auch das war Meditation.
2.2.3 Meditationsablauf (exemplarisch)
Werden wir nun noch konkreter und betrachten wir einen typischen Ablauf einer Meditationssitzung. Zuvor werden die Vorgeschichte sowie die gleichbleibenden Elemente der Meditationspraxis, in der diese Sitzung eingebettet ist, vorgestellt.34
34 Was folgt, ist zwar fiktiv, stellt jedoch ein Destillat aus unzähligen mündlichen und schriftlichen Erfahrungsberichten sowie eigenen Erfahrungen dar und darf daher zu Recht als typisch bezeichnet werden. Andererseits möchte ich betonen, dass keine zwei Meditationssitzungen gleich ablaufen und dass sich insbesondere beim inneren Geschehen eine große Bandbreite auftut – von hoher Intensität mit Phänomenen wie Tränenausbrüchen, starken körperlichen Reaktionen oder ekstatischen Erlebnissen und tiefen Einsichten bis hin zu einem dumpfen Dasitzen mit Begleiterscheinungen wie Traurigkeit, Lustlosigkeit oder großer Anfälligkeit für Ablenkung.
Einmal pro Tag führe ich allein zu Hause eine einfache Sitzmeditation (ohne Anleitung) durch – diese bildet das Fundament meines Übungsweges. Wie kam ich dazu? Nach der Lektüre einschlägiger Literatur und der zweimaligen Teilnahme an einer Gruppenmeditation gelangte ich zum Schluss, dass eine solche Übungspraxis meinem körperlichen, seelischen und geistigen Wohlbefinden langfristig förderlich wäre. Ich nahm mir also vor, täglich zu meditieren. Es folgten jedoch rasch ein paar Tage, an denen ich es nicht schaffte, die Meditation im gedrängten Tagesprogramm unterzubringen. So wurde mir klar, dass es nicht nur einen stillen Raum braucht, in dem ich ungestört meditieren kann, sondern auch eine fixe Tageszeit. Nach ein paar fehlgeschlagenen Versuchen am Abend vor dem Einschlafen (ich war schlicht zu müde) beschloss ich, künftig 25 Minuten früher als sonst aus dem Bett zu steigen und diese Zeit für die Meditation zu reservieren. Nach weiteren mehr oder weniger geglückten Anläufen stellte ich fest, dass ich diese Praxis nicht ohne eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten würde durchhalten können. So bin ich Teilnehmer einer wöchentlichen Gruppenmeditation geworden in einem Kreis von Menschen mit sehr unterschiedlichem Hintergrund. Eine gewachsene Verbundenheit und die Vertrautheit untereinander stellen für mich inzwischen eine wichtige Stütze dar. Ferner suche ich mir passende geistige Nahrung in der Form von Lektüre.
Als Dauer für die eigene Meditation wählte ich eine Länge von 20 Minuten. Die passendste Lösung in Sachen Sitzposition war für mich ein Meditationsbänklein auf einer Meditationsmatte. Ein solches Bänklein ist nämlich leicht nach vorne geneigt, was es einem verunmöglicht, anders als mit geradem Rücken darauf zu sitzen. In den Wochen nach einer Fußverletzung, als das Bänklein nicht mehr infrage kam, habe ich auf einem Stuhl sitzend – ohne mich anzulehnen und mit beiden Füßen gut auf dem Boden verankert – meine Meditation ohne Qualitätsabstriche weiter praktizieren können.
Einstimmung. Ich begebe mich einige Minuten vor dem eigentlichen Beginn an den Ort der Meditation. Zur Einstimmung öffne ich mich der Stille und mache ein paar bewusste Atemzüge. Alternativen sind ein kurzer Text, mit dem ich den Geist sammle, oder ein kurzes Gebet. Wenn ich untertags oder abends die Meditation durchführe, ist eine solche Einstimmung noch wichtiger. Ansonsten kann sich – bei einem abrupten Wechsel von der Rastlosigkeit des Alltags zum Sitzen in der Stille – während des Meditierens die Unruhe noch lange bemerkbar machen.
Beginn. In Meditationsrunden wird der Beginn traditionellerweise mit einer Klangschale eingeläutet, deren Vibrationen auf den Körper übergreifen und zumeist als wohltuend empfunden werden. Für mich alleine stelle ich einen Wecker auf 20 Minuten.
Körperhaltung. Ich sitze aufrecht mit geradem Rücken, sodass der Atem frei fließen kann. Mit den zwei Knien auf dem Boden und dem Gesäß auf dem Bänklein bin ich gut geerdet (beim Meditieren auf dem Stuhl sind zwei Füße auf dem Boden und das Gesäß auf der Sitzfläche). Hinsichtlich der Körperspannung ist es wichtig, einen guten Mittelwert zwischen zu schlaff und zu steif herbeizuführen und aufrechtzuerhalten. Verspannungen im Körper nehme ich als solche wahr und versuche, die Muskeln an den entsprechenden Stellen bewusst zu lockern.
Augenhaltung. Die Augen halte ich geschlossen oder einen Lichtspalt weit offen. Geschlossene Augen verhindern optische Ablenkung. Allerdings schweifen die Gedanken in dieser Haltung rascher ab und es stellt sich auch leichter ein gewisser Dösezustand ein. Sobald ich bei geschlossenen Augen merke, dass Gedanken und Emotionen überhandzunehmen drohen oder dass ich im Gegenteil schläfriger werde, öffne ich die Augen einen kleinen Spalt weit. Dies lässt mich wacher werden und beruhigt in der Regel das Gedankengewirr. Danach schließe ich die Augen erneut, wobei die Lider locker und entspannt auf der Gesichtsoberfläche ruhen.
Händehaltung. Ich lasse die Arme locker herabhängen, lege die Finger der linken Hand auf die Finger der rechten Hand und lasse beide Hände mit dem Handrücken nach unten im Schoß bzw. auf den Oberschenkeln ruhen. Die zwei Daumen berühren sich, sodass sich ein Kreis oder Oval bildet.
Fokus. Als „Default-Modus“ richte ich die Aufmerksamkeit immer wieder auf den Atemfluss. Ich beobachte, wie der Atem ohne mein Zutun ein- und ausfließt. Ich verfolge ihn, wie er durch die Nasenlöcher hereinströmt, die Nasenhöhle, den Rachen und den Brustraum durchquert und sich im Bauchraum ansammelt, bevor er auf demselben Weg zurückfließt und den Körper verlässt. Der Atemfluss ist der Hauptanker meines Fokus, zu dem ich stets wieder zurückkehre, sobald ich merke, dass ich mit der Aufmerksamkeit abgedriftet bin. Beim Ausatmen lege ich als zusätzliche Konzentrationshilfe mein bewährtes Stützwort „Ja“ in den Atemfluss. Zwischendurch achte ich immer wieder auf die Körperhaltung, um sie wenn nötig zu korrigieren.Während der Meditation dringt von außen wenig bis gar nichts in mein Bewusstsein. Im Körper, im Kopf und im Gemüt hingegen regt sich praktisch dauernd etwas. All dies nehme ich wahr. Diese möglichst wache Wahrnehmung erstreckt sich auf die Gedanken, inneren Bilder, Emotionen und Körperempfindungen, die laufend auf dem Radar meines Bewusstseins auftauchen. Ich versuche, das, was hochkommt, mit Wohlwollen und ohne zu urteilen zu betrachten und es weder beiseitezuschieben noch mich darin zu verfangen. Dies gelingt, wenn ich mich zumindest für eine kurze Zeit sozusagen von der Bühne meines permanenten inneren Dramas entferne und als Beobachter im Zuschauerraum Platz nehme. Dank diesem Abstand kann ich ein klareres Bild dessen gewinnen, was mich beschäftigt, und überhaupt besser erkennen, wie ich innerlich funktioniere. Das Beobachten zeigt mir außerdem, dass Gedanken und Emotionen nicht von Dauer und eigentlich harmlos sind, wenn ich nicht „aufspringe“. Aufspringen heißt in diesem Fall, die Distanz zwischen mir als Beobachter und meinen Gedanken aufzugeben. „Kollabiert“ so die Distanz, können sich die Gedanken im Bewusstsein einnisten und – mit der Energie der sie begleitenden Emotionen aufgeladen – weitere Gedanken und Emotionen generieren. So entstehen in kürzester Zeit ineinander verwobene Gedanken- und Emotionsketten, aus denen – außerhalb der Meditation – Worte und Taten hervorgehen. Ertappe ich mich bei einem solchen Vorgang, führe ich den Fokus möglichst ohne Selbstvorwürfe zum Atem zurück. Hierin besteht ein Großteil der Übung.Übe ich dies in der Stille und Langsamkeit der Meditation, so wird es mir auch im weniger stillen und weniger langsamen Alltag allmählich gelingen, eine gewisse Distanz zwischen dem Gewirr an Geschehnissen, Worten, Gedanken und Emotionen einerseits und mir als Beobachter andererseits zu wahren. Vieles wird sich so entwirren.So weit die Beschreibung der Standardelemente. Es folgt nun die logbuchartige Schilderung einer beispielhaften, 20-minütigen Meditation im Rahmen dieser Übungspraxis.Verlauf. Einatmen – ausatmen, „ja“. Einatmen – ausatmen, „ja“. Kurze Leere. Die Aufmerksamkeit geht über zum Körper: Ich nehme meine Sitzhaltung wahr sowie die Steifheit im Nacken. Ich entspanne die Stelle, indem ich die Schultern weiter nach unten sinken lasse. Nun pendelt die Aufmerksamkeit eine Weile lang zwischen Körpersignalen – ein Druckgefühl im Brustraum, ein Tingeln im Oberarm – und dem Atemfluss hin und her. Dann ruft sich ein Vorfall bei der Arbeit am Vortag in Erinnerung, als eine Folge von Bildern. Ich lenke die Aufmerksamkeit zurück zum Atem. Eine Verengung macht sich im unteren Halsbereich bemerkbar. Der Atem fließt dahinter vorbei. Die Verengung im Hals löst sich, dafür nehme ich eine vage Beklemmung im Brustbereich wahr. Mein Wachheitsgrad sinkt. Ich sammle mich erneut. Einatmen – ausatmen, „ja“. Die Unruhe ist immer noch da. Einatmen – ausatmen, „ja“. Einatmen – ausatmen. Einatmen – ausatmen. Die Unruhe schwindet, verdrängt von einem Juckreiz am rechten Handrücken. Instinktiv möchte ich kratzen, die linke Hand hat sich schon leicht bewegt, aber ich lasse sie, wo sie ist. Schaffe ich es, ohne zu kratzen, oder wird das Jucken übermächtig? Nach einer Weile vergeht der Reiz. Ich kehre mit der Aufmerksamkeit zum Atemfluss zurück. Der „Zwischenraum“ zwischen mir als Beobachter und den auftauchenden Gedanken und Emotionen ist größer geworden; ich werde von diesen nicht mehr sofort in den Bann gezogen. Eine Gelassenheit macht sich breit. Den Atemfluss nehme ich noch im Hintergrund wahr. Und es blitzt intuitiv etwas auf – ich weiß jetzt, was ich meinem Sohn zum Geburtstag schenken werde. Ich fühle mich erleichtert; ein Lächeln bildet sich auf meinen Lippen. Dann finde ich mich in einem imaginären Dialog mit meinem Vater wieder; er meint, ich würde meine Kinder zu sehr verwöhnen. Ich halte dagegen. Ärger steigt hoch. „Ärger“, sage ich innerlich und blicke dem Gefühl in die Augen. Zurück zum Atem. Einatmen – ausatmen. Einatmen – ausatmen. Der Zwischenraum zwischen den einzelnen Atemzügen wird länger. Einatmen – ausatmen. Leere. Dann fließt auch das „Ja“ wieder ein. Einatmen – ausatmen, „ja“. Der Dialog verstummt und der Ärger vergeht. Einatmen – ausatmen, „ja“. Einatmen – ausatmen, Leere. Ruhe kehrt ein und mit ihr kommen Spuren von Freude. Gegen Ende der Sitzung merke ich, dass sich die Atemfrequenz sowie die Abfolge an Gedanken und Emotionen verlangsamt haben. Nun entfalten sich Vorstellungen des anstehenden Tags. Ich lasse sie sein, verfolge weiter den Fluss des Atems und sie schwinden wieder.
Ende. Mein Wecker läutet, die 20 Minuten sind um. Ich bin diesmal wach genug, um den Klang als ein weiteres, abschließendes Objekt der achtsamen Wahrnehmung in die Übung integrieren zu können, anstatt wie an manchen anderen Tagen durch das plötzliche Geräusch aufgeschreckt zu werden. Ich nehme noch ein paar Atemzüge lang die Stille wahr. Dann verbeuge ich mich, sage innerlich danke und erhebe mich mit bewusst ausgeführten Bewegungen vom Kissen. Im Rückblick stelle ich fest, dass sich die wichtigen Parameter innerhalb dieser 20 Minuten wie so oft wellenförmig auf und ab bewegt haben: der Grad der Wachheit, der Grad der Sammlung und der Grad der Körperverbundenheit. Diesmal haben die Kurven besonders gegen Ende der Sitzung nach oben gezeigt; ich freue mich darüber im Wissen, dass es nicht immer so ist oder sein muss. Bei der Rückkehr zu meinen Alltagsverrichtungen versuche ich, etwas von der Stille, der Bewusstheit und vielleicht auch die eine oder andere Einsicht mitzunehmen. Damit ich ein wenig daraus lerne. Damit das Erlebte ein wenig auf meinen Alltag abfärbt.2.2.4 Körper und MeditationUnsere Gedanken reisen umher durch Raum und Zeit, mal pfeilschnell, mal gemächlich, mal zielgerichtet, mal kreuz und quer. Sie pendeln zwischen der erlebten Welt und Fantasiewelten und ziehen die Emotionen wie Wolkenschwaden hinter sich her. Der Körper aber ist und bleibt im Hier und Jetzt; er kann nicht anders.Wollen wir uns erden, uns zentrieren und ganz präsent sein, so ist der Weg über das Körperbewusstsein der einfachste und schnellste. Verweilen wir eine Zeit lang mit der Aufmerksamkeit bei einer Stelle an oder in unserem Körper, am besten einer zentralen wie dem Brust- oder Bauchraum, sammeln wir damit die umherschweifenden Fragmente unseres Bewusstseins allmählich ein, was uns ein Gefühl der Ganzheit zurückgibt. Uns steht ferner ein einzigartiges Bindeglied zwischen der Außenwelt und dem Körper zur Verfügung: der Atem. Wenn der Atem stockend verläuft, wird auch der Gedankenfluss erratischer und der Zugang zu unseren Gefühlen ist beeinträchtigt. Fließt der Atem hingegen frei, lösen sich Blockaden auch bei manch anderen Körperprozessen, die Gefühle werden erkennbarer und die Gedankengänge kohärenter. So gesehen überrascht es nicht, dass der gesammelte Fokus auf den Atemfluss in allen Meditationsformen eine zentrale Stellung einnimmt (siehe vorhergehende Kapitel). Ein kontinuierlicher Fokus auf das Herz wiederum ist besonders wirksam, wenn es darum geht, sich sanfter und liebevoller zu stimmen. Dies klingt nach Klischee, basiert aber wie viele Klischees auf einer Wahrheit, die so einfach ist, dass sie eben banal erscheint. Probieren Sie es aus.Das Zusammenführen von Körper und Geist ist für beide eine Wohltat. Wie der Körper dem Geist immer wieder dabei hilft, gegenwärtig und geerdet zu sein, so erhöht der Geist mit seiner Aufmerksamkeit die Vitalität des Körpers. Das liebevolle Bewegen der Aufmerksamkeit von einer Körpergegend zur nächsten beim sogenannten Bodyscan gleicht einem Streicheln und ist, genauso wie ein physisches Streicheln, heilsam in seiner Wirkung.In den kommenden Abschnitten soll die Wirkung von Meditation auf verschiedene Körperphänomene beleuchtet werden. Zu bedenken bleibt dabei, dass beim Zusammenspiel zwischen Körper, Seele und Geist stets mehr Vorgänge parallel und im Verbund miteinander ablaufen, als wir je erfassen können. So stehen auch die im Folgenden separat betrachteten physiologischen Geschehnisse in Wirklichkeit stets miteinander und auch mit anderen Vorgängen in Wechselwirkung. Unter die Lupe genommen werden hier die Auswirkungen von Meditation auf die Körperspannung (die mit der psychischen Gestimmtheit einhergeht), auf das vegetative Nervensystem (mit direkten Auswirkungen auf den Blutdruck, die Verdauungsfunktionen, das Immunsystem und mehr), auf die Gehirnfrequenzen (eine messbare Komponente unseres Bewusstseinszustandes) sowie auf die Neuroplastizität (die lebenslange Möglichkeit, auf die Funktionsweise und die neuronale Struktur des Gehirns einzuwirken).Meditation und KörperspannungEs gibt eine goldene Mitte zwischen Überspannung der Muskulatur (Hypertonie) und Unterspannung (Hypotonie). Man nennt sie Wohlspannung oder Eutonie. Setze ich zu einer Armbewegung an, um eine Tür zu öffnen, muss sich meine Arm-, Schulter- und Rückenmuskulatur etwas anspannen. Aber weniger stark, als wenn ich zu einem Faustschlag ausholen würde. Eutonie bedeutet eine der Situation angepasste Spannung. Wenn wir vor einem Bildschirm sitzen, sind wir häufig überspannt, vor allem in der Nacken- und Schultergegend, oft auch in den Handgelenken und anderswo. Hier bräuchte es eine Lockerung der jeweiligen Muskulatur, um uns in eine Wohlspannung zurückzuführen. Sieht ein Vater seinen halbwüchsigen Sohn schlaff und mit den Ellbogen auf dem Tisch beim Mittagessen sitzen, würde er zumindest einen Überraschungserfolg buchen, wenn er statt „Hör auf, so herumzulümmeln!“ sagen würde: „Nimm endlich eine eutonische Haltung ein!“Auf Eutonie zu achten, kommt nicht nur dem Körper zugute. Die Spannungsfrequenz im Körper überträgt sich auch auf die psychische Ebene, und zwar auf die Gestimmtheit (und natürlich auch umgekehrt, in stetiger Wechselwirkung). Parallel zur Skala Hypertonie – Eutonie – Hypotonie verläuft die Skala der Gestimmtheit etwa so: Hysterie/Überschwang (vom Wort „Schwingung“!) – Gelassenheit/Ausgeglichenheit – Lethargie/Lustlosigkeit. Eines der Ziele jeder Meditationssitzung ist es, eine Wohlspannung im Körper sowie eine seelische Ausgeglichenheit herbeizuführen und möglichst aufrechtzuerhalten. Dies erzielen wir primär über das Richten der Oberkörperhaltung beim Sitzen: Die Rückenhaltung soll gerade und aufrecht sein, also in der rechten Mitte zwischen schlapp bzw. gekrümmt einerseits und überspannt bzw. rigid andererseits, während die Schultern geöffnet sind und locker nach unten hängen. Bei dieser Körperhaltung kann der Atem am freiesten fließen und so seine wohltuende Wirkung entfalten. Mithilfe eines Bodyscans lassen sich auch andere verspannte Stellen im Körper aufspüren und in den richtigen Grad der (Ent-)Spannung überführen. Der Weg lässt sich auch umgekehrt beschreiten, mit dem Hauptfokus auf die inneren Vorgänge. Kommt im Laufe einer Meditation die Seelenlage ins Lot, wird sich auch bei der Muskulatur eine Wohlspannung einpendeln.Meditation und vegetatives NervensystemAlle unsere Empfindungen und Wahrnehmungen laufen über das Nervensystem (zu dem auch das Gehirn zählt). Neben dem zentralen Nervensystem, bestehend aus Hirn und Rückenmark, gibt es noch das periphere System, das via Nervenbahnen mit dem ganzen Körper, insbesondere den Sinnesorganen, Muskeln und inneren Organen verbunden ist. Dieses wiederum besteht aus zwei Untersystemen, nämlich dem somatischen und dem vegetativen Nervensystem. Das somatische lässt sich willentlich steuern. Wenn wir beispielsweise einen Sprung ausführen wollen, aktiviert unser Handlungsimpuls die entsprechenden Stellen im Gehirn. Von dort werden die passenden Signale über das Rückenmark bzw. das somatische Nervensystem zu den Rücken-, Bein- und Fußmuskeln weitergeleitet. Das vegetative Nervensystem hingegen lässt sich willentlich nicht steuern und wird deshalb auch das autonome Nervensystem genannt. Es ist jedoch für unsere gesamte Befindlichkeit von entscheidender Bedeutung, nicht zuletzt in Zusammenhang mit dem Themenbereich Stress und Entstressen. Das vegetative System hat zwei Stränge, genannt Sympathikus und Parasympathikus. Der Sympathikus wird aktiviert, wenn Leistung gefordert ist. Er bringt uns in den Aktionsmodus mit der Ausschüttung der entsprechenden „Stresshormone“ (Adrenalin, Cortisol usw.). Der Muskeltonus wird erhöht, der Blutdruck gesteigert und der Atem beschleunigt. Umgekehrt verringern sich die Verdauungsaktivität sowie gewisse Immunsystem- und Reparaturfunktionen (siehe Pfeile im untenstehenden Schema). Der Parasympathikus hingegen führt uns in den Entspannungsmodus, was mit der Ausschüttung von „Glückshormonen“ einhergeht (Dopamin, Serotonin usw.) und bei den genannten Körperfunktionen die gegenteiligen Auswirkungen hat. Schematisch dargestellt sieht das folgendermaßen aus:Regiert der Sympathikus, so sind wir angespannt. Wir befinden uns in einem „Kampf oder Flucht“-Modus. Was sinnvoll ist, wenn eine kurze, intensive Aktivität ansteht. Falls die so herbeigeführte Energie jedoch nicht durch eine rege körperliche und/oder geistige Aktivität aufgebraucht wird, kann sie sich in Form von musklären Verspannungen, Magenkrämpfen, Fußwippen oder nervösen Handbewegungen äußern. Hält dieser Zustand über längere Zeit an, befinden wir uns im Dauerstress und sind rasch einmal ausgelaugt. Anhaltender Stress geht also mit einer permanenten Überstimulierung des sympathischen Nervensystems einher. Zu den körperlichen Folgen zählen Herz-Kreislauf-Probleme durch erhöhten Blutdruck, Verdauungsstörungen, verringerte Leistungsfähigkeit des Immunsystems sowie chronische Verspannungen und Schmerzen.Entspannen wir uns hingegen nach einer Anstrengung, überlassen wir dem Parasympathikus wieder das Zepter. Denken Sie an die Wirkung eines heißen Bades nach einem kräftezehrenden Tag. Was passiert? Die Muskeln lockern sich, der Blutdruck senkt sich, die Verdauung wird wieder hochgefahren und arbeitet somit gründlicher und auch das Immunsystem findet zur alten Leistungsstärke zurück. In einem dank der Vorherrschaft des Parasympathikus erzeugten Ruhezustand verringern sich auch die Gehirnfrequenzen, sodass wir zusätzlich eine mentale und schließlich auch psychische Beruhigung erfahren.Welche Rolle spielt nun die Meditation in diesem Zusammenhang? Die Antwort ist klar: Meditation aktiviert den Parasympathikus. Eine Überbetonung der Meditation würde also auf Dauer so wirken, wie wenn wir den größten Teil des Tages nur noch im Bad liegen würden – die Handlungsbereitschaft und die mentale Agilität würden verkümmern.35 In unserer Gesellschaft ist jedoch das Gleichgewicht zwischen Sympathikus- und Parasympathikus-Aktivierung eindeutig auf die andere Seite hin gestört (also zu viel Sympathikus-Stimulierung). Mit einer regelmäßigen Meditationspraxis lässt sich die Balance wiederherstellen. Und im Gegensatz zum heißen Bad steht uns die Möglichkeit zu kurzen, informellen meditativen Übungen immer und überall offen.Meditation und GehirnfrequenzenUnsere Gehirnzellen (Neuronen, rund 86 Milliarden an der Zahl) kommunizieren miteinander durch elektrische Impulse, wobei die gleichzeitig gesendeten Signale in ihrer Summe eine beträchtliche Menge an elektrischer Aktivität generieren. Die Schwankungen der elektrischen Spannung im Gehirn bilden Wellen, deren Frequenzen sich messen lassen (etwa mit einem EEG an der Kopfoberfläche). Natürlich werden zu jedem Zeitpunkt je nach Gehirnregion verschiedene Frequenzen zu verzeichnen sein; anhand der vorherrschenden Bandbreite lässt sich jedoch der aktuelle Frequenzbereich bestimmen. Und dieser Bereich gibt einigermaßen Aufschluss über den jeweiligen Bewusstseinszustand. Generell gilt: Je höher die Frequenz, desto wacher und angeregter sind wir – bis zu hyperwach und hyperangeregt im hohen Betabereich (siehe untenstehende Tabelle). Einen Sonderfall bilden die kurz aufblitzenden Gamma-Wellen im höchsten Frequenzsegment. Die Übergänge von einem Bereich zum anderen sind natürlich fließend, ebenso wie die den verschiedenen Frequenzbereichen zugeschriebenen Bewusstseinszustände. Deshalb handelt es sich bei den Grenzziehungen um ungefähre Werte. Gemessen wird die Frequenz in Hertz (Anzahl Wellenbewegungen nach oben und unten pro Sekunde).36 Frequenz (in Hertz)Wachheitsgrad/ HirnaktivitätsgradBewusstseinszustand0,5–4 DeltaTiefschlaf, KomaTrance?4–6,5 Theta (niedrig)Leichter Schlaf, DösezustandTrance, Hypnose, Träume6,5–8 Theta (hoch)Tiefe EntspannungÖffnung für Intuition, Inspiration, Kreativität8–13 AlphaEntspannungKlares Denken, gute Aufnahmefähigkeit; Aufmerksamkeit nach innen und nach außen13–15 Beta (niedrig)„Normale“ HirnaktivitätAufmerksamkeit eher nach außen15–38 Beta (hoch)Hektische HirnaktivitätReaktives Denken, Aufmerksamkeit fast ganz nach außen38–70 GammaKurzanhaltende und hochintensive, in verschiedenen Gehirnregionen synchron auftretende Hirnaktivität, niedrige Amplitude; noch wenig erforschGeistige Spitzenleistungen, evtl. Flow-Zustand oder Zustand bei mystischem Erleben (erhöhte Amplitude)Im Theta-Bereich übrigens fließen Inhalte aus dem Unterbewusstsein am leichtesten ins Wachbewusstsein ein.Über eine gewisse Zeit hinweg gleichen sich die Gehirnwellen zumeist dem Input von außen an. Man nennt dies Resonanz. Lassen wir ohne Ablenkung eine meditative, beruhigende Musik auf uns wirken, wird sich unsere Gehirnfrequenz nach und nach verlangsamen. Ebenso bei einer klassischen Meditationssitzung ohne Musik, denn auch da kommt eine Weile lang nichts Aufregendes von außen auf uns zu. Das Gehirn tritt allmählich mit der Stille in Resonanz. Zu Beginn einer Sitzung flattern die Gedanken oft noch hin und her, wir befinden uns dann im Beta-Bereich. Wenn wir andererseits gegen das Dösen ankämpfen, ist die Gehirnfrequenz in den Theta-Bereich gesunken. Zwischen diesen beiden liegt der Alpha-Bereich, in dem wir entspannt und aufnahmebereit sind. Bei noch tieferer Entspannung – falls wir wach und fokussiert bleiben – sind wir am ehesten für kreative Impulse und intuitive Einsichten empfänglich. Schließlich kann es zu einem Aufblitzen von hochfrequenter Gammaaktivität kommen, die sich bei weniger geübten Meditierenden seltener und nur schwach ausgeprägt beobachten lässt (geringe Amplitude, also geringe Vernehmbarkeit), bei geübten Praktizierenden jedoch tendenziell stärker ausgeprägt ist (erhöhte Amplitude) und länger anhält. Sie wird mit Momenten großer Kohärenz im Gehirn, aber auch mit mystischen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht. Das sind jedoch Vermutungen; zu wenig sind diese schwer fassbaren Gammaschwingungen bisher erforscht worden. Betrachten wir zum Abschluss noch den Effekt einer dritten Meditationsform: Bei einer Klang-Meditation mit Gong übertragen sich die (tiefen) Schwingungen des Gongs nicht nur akustisch, sondern auch über den Körper, was die beruhigende Wirkung verstärkt und gleichzeitig mithilft, den Wachheitsgrad hochzuhalten.Mit verschiedenen Meditationsformen können wir also nachweislich auf unseren körperlichen, psychischen und mentalen Zustand einwirken. Und dies nicht nur mit vorübergehendem, sondern auch, wie im folgenden Abschnitt dargelegt, mit nachhaltigem Effekt.Meditation und NeuroplastizitätStudien haben gezeigt, dass sich das Gehirn nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen durch entsprechende Übung in einem förderlichen Sinn verändern lässt. Und zwar sowohl in der Funktion (Veränderung der Anzahl Signale pro Zeiteinheit zwischen einzelnen Gehirnteilen) als auch in der Struktur (wachsende Anzahl neuronaler Verbindungen). Das heißt, zwischen einzelnen Gehirnteilen lassen sich die Dichte der Informationssignale einerseits und die Dichte der Übertragungsbahnen andererseits steigern. Man spricht in diesem Zusammenhang von Neuroplastizität. Während ein gewisser altersbedingter neuronaler Abbau unvermeidlich ist, lassen sich neue „Gehirnmuskeln“ antrainieren, was direkte Auswirkungen auf unsere Denkleistung und unsere emotionalen Reaktionen hat. Aus der Vielzahl der Studien in diesem Bereich soll hier eine als Illustration dienen.37Bei einem Experiment wurden zwei Gruppen von Probanden Bilder von Menschen mit schweren Brandverletzungen gezeigt. Eine Gruppe bestand aus Personen ohne Meditationserfahrung, die zweite aus solchen mit langjähriger Meditationspraxis. Bei der ersten Gruppe löste der Anblick der grauenvollen Bilder im Vergleich zur zweiten sowohl stärkere als auch länger anhaltende Schockwellen aus. Bedeutet dies, dass die Meditierenden weniger empathisch sind? Nein. Es bedeutet nur, dass sie sich von Außenreizen und den eigenen Reaktionen darauf emotional weniger „wegspülen“ lassen. Dank Scans konnten die unterschiedlichen Vorgänge im Gehirn der Probanden mitverfolgt werden. Zunächst aber eine kurze Erläuterung: Für emotionale Reaktionen auf Außenreize, insbesondere solche, die im weitesten Sinn bedrohlich sind, ist im Gehirn primär die Amygdala, ein Teil des limbischen Systems, zuständig. Diese ist mit dem präfrontalen Cortex verbunden, der unter anderem unsere verstandesmäßigen Reaktionen auf solche emotionalen Stimuli steuert. Nun zeigten die Hirnscans, dass genau diese Verbindung bei den erfahrenen Meditierenden signifikant stärker ausgebaut war als bei den Mitgliedern der Vergleichsgruppe. Langzeitmeditierende sind also emotional nicht weniger berührt von den Bildern von leidenden Menschen (im Gegenteil, wie andere Versuche zeigen), aber sie sind in der Lage, die emotionalen Reaktionen rascher rational einzuordnen und zu steuern und lassen sich von ihnen daher weniger leicht aus der Bahn werfen. In der Praxis würde das heißen, dass sie in einem Notfall schneller als andere Menschen, die sich noch in einer Schockstarre befinden, in der Lage wären, vernünftige Hilfsmaßnahmen zu ergreifen. Häufig wiederkehrende, reaktive Impulse des Mit-Leidens, etwa bei Ärzten und Krankenpflegern, können bekanntlich zu einem emotionalen Burnout führen. Untersuchungen zeigen hingegen, dass dies bei einer meditativ eingeübten, bewussteren Form des Mitgefühls nicht der Fall ist.38Dass eine langjährige Meditationspraxis zu neuronalen Veränderungen mit positiven Auswirkungen beiträgt, ist inzwischen durch Langzeitstudien belegt. Was genau welche Veränderungen bewirkt, lässt sich jedoch nicht mit Genauigkeit sagen. Gewiss werden weitere Forschungen noch mehr Licht in die Sache bringen, aber da, wie schon gesagt, alle Vorgänge im Zusammenspiel zwischen Körper, Seele und Geist multikausal sind, wird eine genaue Zuordnung von Ursache und Wirkung im Bereich von Meditation, Gehirnvorgängen und Gehirnentwicklungen wahrscheinlich außer Reichweite der Wissenschaft bleiben.Auch wenn in diesem Kapitel die Auswirkungen von Meditation auf den Körper im Vordergrund standen, wurde erneut deutlich, wie eng das Wohlbefinden von Körper, Seele und Geist miteinander verknüpft ist. Alltagserfahrungen bestätigen dies. Ein Spaziergang kann den Körper erfrischen, das seelische Befinden wieder ins Gleichgewicht bringen und den rastlosen Geist beruhigen. Eine bereichernde Lektüre führt nicht nur zu größerer Klarsicht, sondern erfreut auch die Seele, was wiederum manches (temporäres) Unwohlsein des Körpers abklingen lassen kann. Ähnliches passiert auch während einer Meditation.Geht es nun darum, aus einem kurzzeitigen Wohlgefühl ein langfristig stimmiges Lebensgefühl heranwachsen zu lassen, gehören der Grad der Hingabe und der Grad der Ausdauer zu den entscheidenden Faktoren. Sind diese hoch genug, kann uns die Meditation noch weiter in die Tiefe führen; dorthin, wo wir unsere Wurzeln (wieder-)entdecken können und woraus uns Kraft und Gewissheit zukommen. Was es damit auf sich hat, wird im Folgenden erläutert.2.2.5 Von blockiert bis gelöstIm vorletzten Kapitel wurde der Verlauf einer typischen Meditationssitzung nachgezeichnet. Es fand also eine „Horizontalbetrachtung“ entlang der Zeitachse statt. Hier kommt nun eine „Vertikalbetrachtung“ hinzu. Sie lotet die Tiefen aus, zu denen Meditierende gemäß Erfahrungsberichten vorstoßen können.Im Verlauf einer einzelnen Sitzung wird die „Tiefe“ der Erfahrung immer wieder fluktuieren. Auch entlang unseres gesamten Entwicklungswegs werden sich Phasen der Tiefenverbindung mit solchen der Oberflächenverhaftung abwechseln. Die Tiefenunterscheidung kann auch als Frage formuliert werden: Wie stark hat sich die Kruste zwischen meinem Oberflächendasein und den Tiefendimensionen verhärtet bzw. wie stark und anhaltend bin ich im Bann von Alltagssorgen oder Ablenkungen gefangen? Dies lässt sich in der ausgedehnten Stille einer Meditation meist leichter erspüren als im Alltag, wo unsere Aufmerksamkeit gewöhnlich anderweitig absorbiert ist. Vollständig, so meine ich, kann der Zugang in die Tiefe niemals blockiert sein, denn dann wären wir von der Quelle unseres Lebendigseins abgeschnitten. Der Zugang wird aber auch nie ganz störungs- und hindernisfrei offen sein – mit Ausnahme vielleicht während kurzanhaltenden, mystischen Tiefsterfahrungen.Im Folgenden werden verschiedene Erfahrungstiefen schematisch als Schichten bzw. Stufen dargestellt. Die Einteilung basiert auf einer wissenschaftlichen Untersuchung von Harold Piron (geb. 1967) aus dem Jahr 2003. Der deutsche Meditationsforscher hat diesbezüglich zahlreiche klassische Texte aus hinduistischer, buddhistischer, daoistischer und christlicher Tradition durchforstet und die Erkenntnisse daraus mit den Erfahrungsberichten von 40 heutigen Meditationslehrerinnen und -lehrern – alle mit jahrzehntelanger Praxis- und Lehrerfahrung – verknüpft.39 Wie bei praktisch allen Kategorisierungen im seelisch-geistigen Bereich lassen sich die Schichten natürlich nicht scharf voneinander trennen. Die Übergänge sind gleitend. Zu den Kennzeichen einer Verbindung mit tieferen Schichten zählen Gefühle der Befreiung sowie zunehmende Wachheit, Klarheit und Empfänglichkeit bzw. Wahrnehmungsfähigkeit. Jedes dieser Kennzeichen bewegt sich entlang einer Skala. Bei der Wahrnehmungsfähigkeit etwa reicht die Skala von grob (an der Oberfläche) bis subtil (in der Tiefe).1) Alltagsnahe Ebene – mit Hindernissen gespicktIn der oberflächlichsten Erfahrungsschicht unterscheidet sich unser Wahrnehmen auch in der Meditation nicht stark vom Alltags-Empfinden. Unruhe, Nervosität, Zerstreutheit oder Leistungsdrang schlagen durch und wandeln sich leicht in Widerstand gegen das tatenlose Stillsitzen. Oder der Körper interpretiert den anhaltenden Mangel an Sinnesaufnahme- und Tatbereitschaft als ein Zeichen, das Wachbewusstsein herunterzufahren und sich auf den Schlaf vorzubereiten. Dies äußert sich dann durch Abdriften in einen Dösezustand. Schließlich können sich auch körperliche Symptome melden, die in der Turbulenz des Alltags unbeachtet blieben. Niemand meditiert, ohne solche Hindernisse zu erleben. Mit der Zeit und mit Übung nimmt man sie jedoch als Weggefährten wahr, die kommen und, vor allem, ganz sicher wieder gehen. Dranbleiben lautet also die Devise. Auf dieser Stufe kommen typischerweise auch Bilder und Sequenzen von kürzlich Erlebtem mitsamt begleitenden Emotionen hoch. Lassen wir sie zu, findet ein für die (psychische) Gesundheit förderlicher Verdauungsprozess statt. Dieser Prozess erhält in der Meditation einen Raum, der ihm im Alltag oft verwehrt ist, da dort pausenlos neu zu Verarbeitendes hinzukommt. Es ist insgesamt aber eine paradoxe Situation, die wir alle zuweilen erleben: Wir leiden an Unruhe, können Ruhe aber nur schwer ertragen.2) Entspannung und Licht auf den SchattenbereichMerkmale der zweiten Stufe sind zunehmendes Wohlbefinden und eine größere innere Ruhe. Der Körper drückt dies am deutlichsten durch muskuläre Entspannung sowie durch eine Verlangsamung und Vertiefung des Atems aus. Die Zerstreutheit nimmt ab, die Fokussiertheit zu. Die Dumpfheit weicht einer größeren Wachheit. Andererseits setzt sich das „Verdauen“ fort und weitet sich aus. Nicht nur kürzlich Erlebtes, sondern auch Verdrängtes aus normalerweise unbewussten Bereichen kann sich bemerkbar machen, denn die enge Schale, innerhalb der sich unser Alltagstreiben zumeist abspielt, ist brüchig geworden. Das Verdrängte kann sich körperlich äußern (plötzlicher Juckreiz, Hustenanfälle usw.) oder einen heftigen Widerstand gegen das Meditieren hervorrufen. Es kann aber auch zu Tränenausbrüchen oder plötzlichen Glücksmomenten kommen, wenn sich seelisch etwas gelöst hat. Für den weiteren Verlauf der Meditation stehen danach zwei Richtungen offen: Entweder geht die einsetzende Sammlung wieder verloren und die Fragmentierung – bestehend aus Gedankenbruchstücken und emotionalen Schüben – nimmt erneut überhand. Aus Ruhe wird wieder Unruhe. Oder unsere (geübte) Entschlossenheit und Standhaftigkeit – eventuell mithilfe von nachhallenden Glücks- oder Erleichterungserfahrungen – ist groß genug, dass wir dem, was uns in Beschlag zu nehmen droht, keine Möglichkeit zum Andocken bieten. Wir bleiben bei unserer Übung. Dies öffnet den Zugang zu größerer Tiefe.3) SammlungDer Grad an bewusster, nicht mehr einfach zu erschütternder Präsenz ist hier spürbar höher als zumeist im Alltag. Dazu können sich ein Gefühl von Leichtigkeit und ein tiefer Frieden gesellen. Auf dieser Stufe festigt sich ein Zweifaches: einerseits das Vertrauen in die Wirksamkeit der Meditation, andererseits das befreiende Wissen, dass die reinigende und klärende Wirkung der Meditation letztlich nicht selbst erzeugbar, sondern ein Geschenk ist. Aber auch hier nutzen Gedanken, Bilder und Emotionen – vertraute und weniger vertraute – die Weite der Stille, um ins Licht des Bewusstseins zu gelangen. Wir lassen uns von ihnen jedoch weniger als sonst aus der Ruhe bringen und daher fehlt ihnen die emotionale Energie, um zu Gedankenketten und Bildersequenzen anzuwachsen und sich so festzusetzen. Der chinesische Chan-Meister40 Hui Neng (638–713) soll diese Fähigkeit, sich von Gedanken nicht vereinnahmen zu lassen, so ausgedrückt haben: „Nichtdenken bedeutet, auch dann nicht zu denken, wenn Gedanken auftauchen.“ Diesem Ideal kommen wir im Zustand der Sammlung etwas näher. Schaffen wir es, lange genug auf dieser Konzentrationsstufe zu bleiben, merken wir ferner, dass uns auch das aus dem Schatten Aufsteigende nichts anhaben kann. Dann löst sich allmählich die damit verbundene Beklemmung und wir spüren, vielleicht ohne es benennen zu können, eine erhöhte Authentizität in unserem Dasein. Denn all die Ängste, Selbstvorwürfe, Minderwertigkeitsgefühle und anderen schädlichen Empfindungen und Gedanken, die aufsteigen, verflüchtigen sich wieder. Unsere Identifikation mit ihnen hat sich, für eine Weile zumindest, gelöst. In dieser Gelöstheit wird unsere Essenz, unser Wesen – das, was sich niemals verflüchtigen kann – spürbar. Hier und auf den folgenden Stufen öffnen sich auch die Kanäle für Inspiration und intuitive Einsichten.4) Öffnung für das Umfassende/Hingabe an das HeiligeDer Übergang ist nahtlos. Das sonst so inflationäre Ich ist kleiner geworden und hat Raum für etwas weit Größeres gelassen. Wir sind weit genug entblockiert und durchlässig geworden, um die in unserer Tiefe innewohnende (oder durch die Tiefe hereinströmende) Klarheit und gegenstandslose Freude sowie eine umfassende Verbundenheit mit hellwachem Bewusstsein und empfänglichem Herzen wahrzunehmen. Man könnte von einer gleichzeitigen Welt- und Mehr-als-Welt-Verbundenheit sprechen. Diese äußert sich zumeist in leisen, feinen Schwingungen; es braucht keine Worte – obwohl man sich später nach passenden Worten sehnt. Außer in poetischer Andeutung ist die Sprache für diesen Feinheitsgrad zu pauschal und läuft Gefahr, die empfundene Wahrheit mehr zuzudecken als zu vermitteln – es sei denn, sie ruft beim Gegenüber durch Resonanz Ähnliches hervor, im Anklang an eigene Erfahrungen. Aus dieser Tiefenstufe kommen auch die Impulse, die in uns den Wunsch auslösen, jene vom bisherigen Leben vorgespurten Pfade zu verlassen, die nicht (mehr) mit unserem Wesen in Einklang stehen. Dabei kann es sich genauso um die innere Ausrichtung wie um die äußere Lebensgestaltung handeln. Vielleicht werden uns auch Bilder geschenkt mit Hinweisen für eine mögliche Neuausrichtung.5) Erfahrung der liebevollen GrenzenlosigkeitDie im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Erfahrungen werden öfters schon als Gipfelerlebnisse aufgefasst, obwohl der Gipfel noch nicht erreicht ist. Auf der höchsten, nach oben offenen, oder – gemäß dem hier verwendeten Bild – der tiefsten, weitesten, unbegrenzten Stufe zerfließt die Trennlinie zwischen dem Erlebenden und dem Erlebten. Diese Stufe wird mit Begriffen wie Einssein, Leere oder Fülle, unermessliche Seligkeit oder Vereinigung in Liebe angedeutet. Wir sind vom Formenhaften – hier dies, dort jenes; hier ich (abgetrennt), dort du (abgetrennt) – ins Formlose übergegangen. Jegliche Blockierung, jegliches Gefühl der Getrenntheit ist weg. Und doch ist es kein Einheitsbrei, der übrig bleibt. Deshalb spricht man hier auch von einer Erfahrung der Non-Dualität. Weder Dualität also, noch Singularität. Dies ist der Bereich des – nach menschlichem Ermessen – Paradoxen. Auf der Logik des Verstandes gründende Aussagen greifen zu kurz. Jeglicher Versuch, die Erfahrung analytisch zu erfassen, scheitert. Dennoch gibt es keine Religion, keine Kultur, keine Epoche, in der nicht von solch mystischen Erfahrungen berichtet wird. Sie gehören zum Menschsein, wenn auch bis heute noch weit mehr in potenzieller als in realisierter Form. Die Wortlosigkeit der Meditation bildet hierfür einen hervorragenden Nährboden. Ein derartiges Erlebnis – mit Begleiterscheinungen wie Ehrfurcht, begriffsloser Klarheit und Dankbarkeit – lässt sich jedoch nie von selbst herbeiführen. Es hält nur kurz an, hinterlässt aber körperliche, seelische und geistige Spuren, die nicht zu verwischen sind.Welche dieser Tiefen – modellhaft in fünf Schichten bzw. Stufen eingeteilt – öffnen sich uns wann, wie häufig und für wie lange? Es ist schwierig, hierzu etwas Allgemeingültiges zu sagen. Zu unterschiedlich sind die genetisch oder lebensgeschichtlich bedingten Schwierigkeiten und Barrieren, die wir alle mitbringen und die sich wiederum auf den verschiedenen Stufen unterschiedlich auswirken. In der Regel werden sich Anfänger während einer Meditationssitzung alternierend auf Stufe eins (Unruhe) oder zwei (Ruhe) befinden; die tieferen Schichten öffnen sich vielleicht kurz. Ein Tiefenerlebnis kann aber, insbesondere in der Stille, jederzeit über uns hereinbrechen. Vielleicht schenkt es uns die Erfahrungsgrundlage, dank derer wir die Meditationspraxis auch dann nicht aufgeben, wenn die Tiefenverbindung scheinbar verloren gegangen ist oder wenn Trägheit, Ablenkungen oder Sorgenlast überhandnehmen und uns vom regelmäßigen Üben abhalten.Auch bezüglich der langfristigen Entwicklung lässt sich kein universelles Schema erstellen, aber ein Vergleich kann uns helfen. Er wurde bereits einmal verwendet, aufgrund seiner Aussagekraft jedoch möchte ich ihn nochmals heranziehen: Der Meditationsweg ist wie ein Fluss mit einer starken Strömung in der Mitte. Viele Menschen halten zunächst einmal die Füße ins Wasser, empfinden die Abkühlung und das Streicheln des vorbeiziehenden Gewässers als angenehm, ziehen sich dann aber doch wieder ans Ufer zurück. Andere bewegen sich weiter hinaus, dorthin, wo der Fluss bereits tiefer ist (aber sie immer noch stehen können), und tauchen mehrmals ein, aber auch sie kehren danach wieder ans vertraute Ufer zurück – trotz der engen, steinigen und dornigen Pfade, auf denen sie sich dort fortbewegen. Nur wenige wagen sich, nachdem sie wiederholt die wohltuende Wirkung des Wassers erlebt haben, hinaus bis in die Mitte des Flusses und lassen sich von der Strömung erfassen – und von dieser tragen. Ab diesem Zeitpunkt gibt es kein Zurück mehr. Und die Strömung bringt sie immer wieder auch mit kristallklarem Wasser aus der Tiefe des stets breiter und tiefer werdenden Flusses in Berührung.Das Modell der fünf Erfahrungstiefen in der Meditation lässt sich natürlich auch auf den Alltag übertragen. Wir können uns jetzt und künftig immer wieder fragen: Wann habe ich mich zuletzt ruhig und entspannt, wann mit der Tiefe meines Wesens oder mit dem, was mich und uns alle übersteigt, verbunden gefühlt? Unter welchen Umständen mache ich am ehesten solche Erfahrungen? Danach können uns die ganz persönlichen Antworten als Wegweiser dienen. Noch entscheidender aber sind folgende Fragen: Wie wirkt sich das, was ich in der Meditation oder in erfüllenden Momenten erfahre, auf mein Denken, Fühlen und Verhalten im ungeschützten und unerfüllten Alltag aus? Und wie kann ich mich auch in diesem Alltag in Sammlung, Wachheit und Hingabe üben? Überlegungen zu diesen Fragen bilden den Stoff für die nachfolgenden Kapitel.2.3 ALLTAG ALS ZIELORTWer Meditation regelmäßig praktiziert, allein und/oder in einer Gruppe, erlebt oft zwei Parallelwelten. Die eine Welt ist charakterisiert durch Stille, Entschleunigung, innere Verarbeitung, Gefühle der Offenheit und Verbundenheit und vielleicht sogar Inspiration und intuitive Einsichten. Die andere, jene des Alltagslebens, ist voller Anspannung, Ansprüche von innen und außen, Unruhe und Konflikte. Falls es nicht gelingt, diese Welten einander anzunähern, wird die Meditationspraxis höchstwahrscheinlich nicht von Dauer sein. Die lärmerfüllte Welt wird die stillere verschlingen.Sowohl in unserer Meditationspraxis als auch in unserem Alltagsleben sind wir unterwegs. Idealerweise verlaufen die zwei Wege immer mehr aufeinander zu und bilden schließlich nur noch einen Weg, der die verschieden vorgespurten Rinnen vereint. Anders gesagt: Alle unsere Lebensrinnen führen dann in die gleiche Richtung; die Bodenerhebungen zwischen ihnen werden niedriger und es entwickeln sich Zwischenverbindungen. Bis auch im gewöhnlichsten Alltag möglichst viele Augenblicke bereichert sind von einer meditativ konsolidierten inneren Stille sowie einer Weiträumigkeit, in der nicht nur Tun, Empfangen und Beobachten nebeneinander Platz haben, sondern auch Wohlwollen und Dankbarkeit zu Hause sind.Woran aber können wir erkennen, ob die ersehnte Konvergenz auch wirklich stattfindet? Anhand welcher Unterschiede in der Alltagsgestaltung wird sie sichtbar? Diesen Fragen wird auf den kommenden Seiten sowie in den Kapiteln „Was heißt Reife?“ und „Individuelles Reifen“ ausgiebig nachgegangen. Betrachten wir hier zunächst ein paar Beispiele:Wenn ich im Supermarkt von den Regalen zur Kasse schreite, kann ich der Ungeduld angesichts der langen Warteschlange durch bewusstes Atmen die Kraft entziehen und dem irrationalen Widerwillen gegen die Personen, die mir meine wertvolle Zeit stehlen, durch Wohlwollen die Luft aus den Segeln nehmen. Vielleicht kommt mir daraufhin beim Anstehen in ruhigerem Zustand sogar etwas in den Sinn, das ich kaufen wollte und beinahe vergessen hätte.Oder wenn ich einem Arbeitskollegen zuhöre, kann ich dem Impuls, etwas zu erwidern, widerstehen, weil ich aufmerksam genug bin, um zu erfassen, dass mein Gegenüber noch nicht zu Ende gesprochen hat. Mein Arbeitskollege wird all dies bewusst oder unbewusst als Wertschätzung registrieren.In einer toxischen Situation, die ich dank gestärkter Sensibilität (Empfänglichkeit) als solche erkenne, kann ich die Reißleine ziehen und mich entfernen. Oder, falls dies nicht möglich ist, kann ich dank der Weiträumigkeit innerlich distanziert genug bleiben, um mich nicht hineinsaugen zu lassen.So lerne ich, zunächst in einer Vielzahl von unscheinbaren Situationen, mich nicht vom Pferd, das Schicksal oder Karma heißt, einfach tragen zu lassen, sondern vermehrt die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Um dann auch für anspruchsvollere Situationen gerüstet zu sein.Wenn sich hingegen bei der Gestaltung meines Alltags trotz Meditation wenig ändert, muss ein fundamentaler Mangel in meiner Übungspraxis vorliegen. Entweder ein Mangel an Ausdauer oder an Hingabe oder, am wahrscheinlichsten, an beidem. Einfach gesagt: Die Übung hat schlicht keine hohe Priorität in meinem Leben.Stellen wir tatsächlich fest, dass sich der Meditationsweg und der Alltagsweg einander annähern, so ist mehr geschehen, als dass wir uns nur ein paar neue Verhaltensweisen angewöhnt haben. Es ist zu einem inneren Wandel gekommen. Lassen wir hierzu eine Geschichte sprechen:Ein jüdischer Weiser fragte seine Schüler: „Wie kann man den Augenblick bestimmen, wo die Nacht zu Ende ist und der Tag anbricht?“ Der erste Schüler fragt: „Ist es, wenn man in der Ferne einen Feigenbaum von einer Palme unterscheiden kann?“ Der Rabbi antwortet: „Nein, das ist es nicht.“ Der zweite Schüler meint: „Wenn man ein Schaf von einer Ziege unterscheiden kann, dann wechselt die Nacht zum Tag.“ – „Auch das ist es nicht“, ist die Antwort des Weisen. „Aber wann ist denn der Augenblick gekommen?“, fragen die Schüler. Der Rabbi antwortet: „Wenn du in das Gesicht eines Menschen schaust und darin den Bruder oder die Schwester erkennst, dann ist die Nacht zu Ende, dann bricht der Tag an.“41Es hat also ein Gesinnungswandel stattgefunden. Aber das Geschehen ist damit nicht zu Ende. Das Bild des anbrechenden Tages weist auf einen weiteren wichtigen Punkt hin: Selbst wenn wir bei uns einen Wandel konstatieren, darf die Genugtuung darüber uns nicht zur Annahme verleiten, die gesamte Arbeit sei nun geleistet und wir seien bereits am Ziel. Erst recht sollte sie nicht in einen Stolz münden, der uns von anderen Menschen isoliert und auf neue Abwege führt. Der Tag hat erst begonnen. Nun gilt es, den Initialwandel auszuweiten und zu vertiefen.Ein fortschreitender Wandel lässt sich anhand weiterer Kennzeichen feststellen. Dazu zählt ein Alltag, der merklich mehr von Achtsamkeit geprägt ist und in dem sich die Herzensqualitäten spürbar entfaltet haben (das Erkennen eines Bruders oder einer Schwester in jedem Menschen ist eine davon). Diese beiden zentralen Themenbereiche wollen wir in den anstehenden zwei Kapiteln vertiefen. Danach folgen Hinweise zu meditativen Alltagsübungen, die uns helfen können, auch außerhalb von formellen Meditationseinheiten die zum Vorschein gekommenen Fähigkeiten im Alltag stärker zu integrieren. Und schließlich werden die Früchte der Meditation nochmals in einer Zusammenschau präsentiert – als Wiederholung und Vertiefung sowie als Appell (auch an mich, den Schreibenden), vor lauter Theorie die Praxis nicht zu vergessen.2.3.1 Einüben von AchtsamkeitTara Brach (geb. 1953), eine bekannte amerikanische Meditationslehrerin, vergleicht das Üben in der Meditation mit der Stärkung der beiden Flügel eines Vogels, damit dieser durch alle Stürme hindurch in Freiheit fliegen kann. Der eine Flügel ist die Weisheit, die sich durch das Üben der Achtsamkeit bildet, der andere das Mitgefühl, das sich durch das Üben der Herzensqualitäten bildet.42Der Schweizer Meditationslehrer und Buchautor Peter Wild (geb. 1946) bringt dieselben zwei Aspekte mit anderen Worten zum Ausdruck: Der Meditationsweg sei der Weg „von der Routine zu Sorgfalt und Zärtlichkeit“.43In diesem Kapitel betrachten wir die Sorgfalt bzw. die Achtsamkeit, bevor wir uns im nachfolgenden Kapitel der Zärtlichkeit bzw. den Herzensqualitäten widmen. Es braucht beide Flügel – gekräftigt und im Gleichschlag – für ein Entkommen aus Automatismen und Ich-Bezogenheit, die uns wie ein Käfig einengen und dumpf werden lassen.Wenn wir nicht schlafen, ist unser Bewusstsein stets im „An“-Zustand. Wir nehmen laufend wahr – mal mehr, mal weniger bewusst, je nach Befinden auf der Wachheitsskala – und handeln daraufhin entsprechend eher reflexartig oder eher bewusst und behutsam. Um dies zu veranschaulichen, wird im Folgenden ein alltägliches, unspektakuläres Ereignis von der Art, wie wir im Laufe eines einzigen Tages unzählige erleben und meistens rasch wieder vergessen, in zwei Varianten vorgestellt. Zunächst wird der Ablauf so geschildert, wie er typischerweise im unteren bis mittleren Bereich der Wachheitsskala (sozusagen im Normalzustand) stattfinden könnte. Danach wird aufgezeigt, wie der Wachheits- bzw. Achtsamkeitsgrad in einer Meditationssitzung einerseits und im Alltag andererseits durch entsprechende Übungen gesteigert werden kann. Und schließlich läuft das gleiche Ereignis in einer zweiten Variante ab, bei der sich der Achtsamkeitsgrad des Protagonisten in einem höheren Bereich befindet.Tiefer Achtsamkeitsgrad (Normalzustand)Unser Leben im Wachzustand besteht aus einer Nonstop-Kette des ewig gleichen Ablaufs: von Input (Sinneswahrnehmung, Triebschub oder gedanklichem Impuls) über innere Reaktion zu äußerer Reaktion bzw. Aktion (was oft Stoff für neuerlichen Input liefert, womit der Kreislauf wieder von vorne losgeht). Im unten geschilderten Alltagsereignis erfolgt dieser Kreislauf zweimal. Nennen wir es deshalb ein Stück in zwei Akten. Der hier äußerst detailliert und wie in Zeitlupe betrachtete Ablauf geht in Wirklichkeit blitzschnell und – im Normalzustand des eher tiefen Achtsamkeitsgrades – größtenteils unbewusst vor sich.1) Input (über Augen und Ohren)Ich gehe auf einem relativ breiten Gehsteig. Dabei sehe ich, dass mir zwei Jugendliche entgegenkommen, und höre, wie sie laut und lachend aufeinander einreden.2) Instinktive Reaktion und gefühlsmäßige AusweitungEs findet stets eine unmittelbare instinktive Reaktion statt, wovon es prinzipiell nur drei Möglichkeiten gibt: Das Wahrgenommene wird entweder als angenehm (positiv), unangenehm (negativ) oder uninteressant (neutral) empfunden. Bei „angenehm“ oder „unangenehm“ kommt noch der Intensitätsgrad hinzu. Wird das Wahrgenommene als Bedrohung empfunden oder als etwas unerwartet Erfreuliches, ist dieser hoch. Eine solche instinktive, wertende Reaktion ist wohl biologisch vorprogrammiert, um unser Überleben zu sichern. Denn wenn uns unser Instinkt „hochgradig unangenehm“ meldet, kann das eine Gefahr bedeuten, bei der wir uns möglichst rasch wehren oder in Sicherheit bringen müssen. Für eine verstandesmäßige Analyse der Situation bleibt in einem solchen Fall keine Zeit. Im konkreten Geschehen hier wittere ich keine Gefahr, aber auch keinen Grund zur Freude. So würde das Auftauchen der zwei Jugendlichen normalerweise in die Kategorie uninteressant fallen. Da es jedoch in diesem Augenblick nichts anderes gibt, was mich stärker absorbiert, und ich überdies an diesem Morgen ein wenig übel gelaunt bin, empfinde ich das ausgelassene Tun der Jugendlichen als unangenehm. Dieses Gefühl, in Verband mit meiner aktuellen Stimmungslage, setzt sich zunächst fest und beeinflusst das, was als Nächstes folgt.3) Einordnung, gedankliche und emotionale Reaktion und Ich-BezugKurz nach der unwillkürlichen, instinktiven Reaktion und der gefühlsmäßigen Ausweitung folgt die gedankliche Reaktion. In einer Übergangsphase von Gefühl zu Verstand wird das Wahrgenommene mit meinem vorherrschenden Weltbild, meinen (unbewussten) Erwartungen und meiner momentanen Stimmungslage abgeglichen. Dass mir Menschen auf dem Gehsteig entgegenkommen, passt zu meinem Weltbild und meinen Erwartungen und wirft somit weder gefühls- noch verstandesmäßig große Wellen – was anders wäre, wenn mir eine Giraffe entgegenstolzieren würde. Die sich jedoch aus meiner Stimmungslage heraus bildenden Gedanken erhalten nun zumindest fragmentarisch eine sprachliche Form: „Rücksichtslos, wie laut die sind!“ Und gleich darauf: „Den ganzen Gehsteig nehmen die in Beschlag.“ Und so verfestigt sich auch ein Urteil – in diesem Fall eine Verurteilung. Die emotionale Reaktion auf diese Gedanken ist spezifischer als die ursprüngliche instinktive Reaktion. Aus einem diffusen „unangenehm“ wird eine mittelschwere Empörung. Als Nächstes registriert mein Verstand vage eine Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit für die kommenden Meter, was die Emotion „Kränkung“ auf den Plan ruft.4) Reaktives HandelnIch verlangsame unwillkürlich meinen Schritt und weiche den Entgegenkommenden ein wenig aus.Es folgt nun der zweite Akt:1) Input (über Augen, Ohren, Berührung und wieder Ohren)Der eine Jugendliche boxt den anderen spielerisch in den Arm, dieser macht einen Schritt zur Seite und rempelt mich dabei an. Ohne dass die zwei den Schritt verlangsamen, höre ich gerade noch ein gemurmeltes „Sorry“.2) Instinktive Reaktion und gefühlsmäßige AusweitungMein Instinkt meldet innert Sekundenbruchteilen: „äußerst unangenehm“ und mein Körper meldet ein Schmerzempfinden an der Schulter. Das „äußerst unangenehm“ wird gefühlsmäßig dominant.3) Gedankliche und emotionale Reaktion und Ich-Bezug„Das darf doch nicht wahr sein“, geht es mir durch den Kopf und die Empörung schießt noch weiter in die Höhe. Sie verbindet sich mit dem Eindruck, nicht beachtet und nicht ernst genommen zu werden, dringt tief in mich ein und erreicht einen Pegel, der kaum noch Raum für andere Gedanken und Emotionen lässt.4) Reaktives HandelnIch drehe mich um und rufe den beiden mit mühsam gedämpfter Wut hinterher: „Sagt mal, spinnt ihr?“5) GegenreaktionDaraufhin schaut einer der beiden Jugendlichen kurz zurück und zeigt mir den Mittelfinger.Üben in der MeditationDie Meditation ist sozusagen der geschützte Versuchsraum, in dem wir unser Verhalten auf Achtsamkeit hin trimmen können. Und zwar immer wieder, sodass immer tiefer geblickt und feiner unterschieden werden kann. Die Übungstätigkeit umfasst beinahe den ganzen oben geschilderten, allgemeinen Zyklus, vom Input über instinktiv-gefühlsmäßige, gedankliche und emotionale Reaktionen bis möglicherweise zu einem Handlungsimpuls. Nur die eigentliche Handlung findet nicht statt. In der Meditation fallen sinnliche Wahrnehmungen zwar größtenteils weg, Triebschübe und gedankliche Impulse gehen jedoch weiter – bloß unter klarerer Beobachtung. Nehmen wir ein Beispiel: Ich sitze in Stille und auf einmal dringt das Hupen eines Autos in meinen Wahrnehmungsraum. Wie reagiere ich? Vielleicht schrecke ich auf. Das zeigt mir, dass ich in diesem Augenblick nicht wach und empfangsbereit war. Oder ich empfinde Missmut und es kommt der Gedanke: „Ich will ja bloß in Stille sitzen und jetzt so was!“ Auch diese Reaktion registriere ich mit weit größerer Klarheit, als mir dies im raschlebigen Trubel des Alltags möglich wäre. Ein zweites Beispiel: Ich empfinde Hunger und es zeigen sich daraufhin Bilder eines köstlich gefüllten Tellers, dessen Inhalt ich sogar meine, riechen zu können. Ich sitze jedoch weiter regungslos in der Stille, atme bewusst und der Klammergriff des Essenstriebs lockert sich allmählich. Der Rahmen der Meditation ermöglicht es mir also, meine Gedanken und Triebe und die Reaktionen darauf in Ruhe zu beobachten. So lerne ich überhaupt erst meine Reaktionsweisen kennen und kann sie in der Folge (möglichst wohlwollend!) abwägen. Aus einer solchen Übung heraus gehe ich etwas besser gerüstet in den Alltag.Ferner üben wir in der Meditation, die Aufmerksamkeit über mehr als nur ein paar Sekunden auf einen Punkt gerichtet zu halten (klassischerweise den Atemfluss) und zu diesem bewusst zurückzukehren, sobald wir merken, dass uns Gedanken und Emotionen wegziehen. Wenn wir merken, dass uns etwas absorbiert und wir so die bewusste Verbindung zu uns selbst und unserem Körper verloren haben, holen wir uns aus der Absorption zurück. Wir üben auch, den Wachheitsgrad trotz Mangel an spannendem Input hochzuhalten und nicht in einen Dösezustand zu verfallen. Und schließlich zähmen wir mit dem Verweilen in Stille ohne Input von außen allmählich unsere Wahrnehmungsgier.Da ich jedoch, wie zweifellos die Mehrheit der Menschheit, im Lauf meines bisherigen Lebens weit mehr Zeit auf einer relativ tiefen Achtsamkeitsstufe als beim Üben eines höheren Grades von Achtsamkeit verbracht habe, werden naturgemäß die schon viel länger eingeprägten und wiederholten Muster aus dem meditationsfernen Alltag überwiegen. Deshalb sollten uns Rückfälle in altes Routineverhalten in unserem täglichen Leben trotz bester Vorsätze weder überraschen noch entmutigen. Die Devise lautet: dranbleiben.Üben im AlltagIch mache mich daran, eine Tasse Kaffee zuzubereiten, und nehme mir dabei vor, jeden Handlungsschritt bewusst auszuführen. Dadurch verlangsamt sich der gesamte Ablauf – es findet also Entschleunigung statt. Ich öffne den Schrank und nehme mit einer behutsamen Bewegung meine gewohnte Kaffeetasse heraus. Das Porzellan fühlt sich kühl und glatt in meiner Hand an. Es kommt ein Funke Freude hoch – der stärker wird, als mir beim Betrachten der Tasse in den Sinn kommt, dass Bekannte aus Warschau sie mir geschenkt haben. Dankbarkeit kommt hinzu und so weitet sich die Übung aus: Neben Achtsamkeit werden auch die Herzensqualitäten gestärkt. Die Kaffeemaschine wird ebenfalls in Ruhe betrachtet und auch hier gesellt sich Dankbarkeit hinzu – darüber, dass ich in Wohlstand lebe und mir so ein praktisches Gerät problemlos leisten kann. Die anhaltende Freude wird bereichert vom köstlichen Kaffeegeruch, als sich die Tasse allmählich füllt. Mit Bedacht hole ich die Zuckerdose aus dem Schrank, stelle sie behutsam nieder und schöpfe mir daraus meinen gewohnten Teelöffel Zucker. Auch das Umrühren erfolgt langsamer und aufmerksamer als sonst – spontan mache ich mit der Hüfte die gleiche Kreisbewegung wie mit der Hand und es entsteht ein kleiner Tanz (in diesem Augenblick bin ich froh, dass mir niemand zusieht). Mit einem Lächeln lege ich den Löffel zur Seite. Ich halte kurz inne und trinke dann den Kaffee mit Genuss.Die Geschichte der unachtsamen Variante ist rasch erzählt: Jeder Handgriff verläuft mit der geschmierten Automatik einer tausendfach ausgeführten Handlung. Alles geschieht hastig und in Gedanken bin ich bei weit wichtigeren und interessanteren Tätigkeiten. Weder Freude noch Dankbarkeit kommen auf und das Trinken erweist sich auch nicht als echter Genuss.Der Tagesablauf bietet uns unbeschränkt Stoff für derartige meditative Übungen. Weitere Beispiele und Anregungen finden Sie im übernächsten Kapitel.Hoher Achtsamkeitsgrad (Zielzustand)Kehren wir nun zu jenem bereits einmal durchgespielten Geschehnis auf dem Gehsteig zurück und nehmen wir an, mein Achtsamkeitsgrad – und parallel dazu das Mitgefühl mit mir selbst und anderen – habe sich dank regelmäßiger Übung zumindest etwas erhöht. Dann könnte das gleiche Ereignis wie folgt ablaufen:1) Input (über Augen und Ohren)Ich gehe auf einem relativ breiten Gehsteig. Dabei sehe ich, dass mir zwei Jugendliche entgegenkommen und höre, wie sie laut und lachend aufeinander einreden.2) Instinktive Reaktion und gefühlsmäßige AusweitungIch bin zwar mit etwas gedämpfter Stimmung unterwegs, aber das ausgelassene Lachen der zwei registriere ich als positiv.3) Gedankliche und emotionale Reaktion, Einordnung und kein unnötiger Ich-Bezug„Schön, wenn man sich so unbeschwert freuen kann“, denke ich. Und dieser Gedanke, im Speziellen die Worte „schön“ und „freuen“, lösen in mir selbst Freude aus. Da ich mit nur geringem eigenen Gedankenfluss unterwegs bin, haben diese neu ausgelösten Gedanken und die mit ihnen einhergehenden Emotionen mehr Platz, weniger „Konkurrenz“ und somit mehr Wirkkraft. Dank des freudvollen Impulses hellt sich meine Stimmungslage signifikant auf. Auf mich selbst beziehe ich das Herannahen und Lachen der Jugendlichen nicht (was der Realität wesentlich gerechter wird).4) Bewusstes Beobachten der inneren und äußeren VorgängeNeben der Freude beobachte ich in mir auch einen Anflug von Neid – auch ich wäre gerne so ausgelassen unterwegs. Gleich darauf registriere ich die Möglichkeit eines Zusammenstoßes auf den kommenden Metern, was in mir einen kurzen Schrecken auslöst. Meine Abschätzung der Lage führt jedoch zur raschen Beruhigung mit dem Gedanken: Ein Schritt zur Seite und die Gefahr dürfte gebannt sein.5) Bewusstes HandelnIch weiche den Entgegenkommenden ein wenig aus, blicke sie an und lächle ihnen zu.Und der zweite Akt:1) Input (über Augen, Ohren, Berührung und wieder Ohren)Der eine Jugendliche boxt den anderen spielerisch in den Arm, dieser macht einen Schritt zur Seite und rempelt mich dabei an. Er bleibt kurz stehen und sagt: „Sorry, alles o. k.?“.2) Instinktive Reaktion und gefühlsmäßige AusweitungMein Instinkt meldet sofort: „unangenehm“. Hinzu kommt ein kurzes Schmerzempfinden an der getroffenen Schulter. Gleich darauf dringt das „Sorry, alles o. k.?“ durch, worauf sich das „unangenehm“ in „angenehm“ kehrt.3) Gedankliche und emotionale ReaktionIch bin kurz aufgewühlt. Sogleich folgen die Gedanken „Schön, dass er sich entschuldigt“ und „Da war ja keine Absicht“. Erleichterung löst die Sekundenstarre ab.4) Bewusstes BeobachtenIch nehme das innere Auf und Ab wahr. Dann spüre ich in der getroffenen Schulter nach, aber der Schmerz ist bereits abgeklungen. Mein innerer Beobachter gibt vollständige Entwarnung.5) Bewusstes Handeln„Alles o. k., kein Problem.“ Ich bleibe daraufhin noch kurz stehen und blicke den beiden nach. Dann schüttle ich mit einem erneuten Lächeln den Kopf, atme tief durch und gehe weiter.Ich lade Sie ein, derartige Abläufe anhand simpler Vorkommnisse bei sich selbst nachzuvollziehen. Später lassen sich auch komplexere Geschehnisse auf diese Art entwirren.Was ist bei einem achtsamen Vorgehen (gekoppelt mit einer wohlwollenden Grundhaltung) anders? Zunächst gilt es festzuhalten: Eine instinktive Reaktion kommt immer, und sie wird immer von der aktuellen Stimmungslage mitgefärbt. Je positiver also die Grundstimmung, desto weniger oft und vor allem weniger stark kommt es zur Meldung „unangenehm“. Hier setzen nun die Unterschiede ein: Bei einem höheren Wachheitsgrad können wir die instinktive Reaktion auf das Wahrgenommene bewusst erkennen. Dies ist möglich, weil Input und unmittelbare Reaktion aus einer größeren inneren Distanz betrachtet werden. Das (bloß Sekundenbruchteile andauernde) Innehalten, das ein bewusstes Erkennen ermöglicht, führt auch dazu, dass sich der darauffolgende Ablauf entschleunigt. Wir registrieren das Wahrgenommene grundsätzlich mit Akzeptanz (als ein nicht rückgängig zu machendes Faktum) und ohne Urteil, es sei denn, die Situation verlangt von uns eine Wertung oder Entscheidung. Wenn nötig, bringen wir das Wahrgenommene gedanklich auf die Reihe, um größtmögliche Klarheit zu schaffen. Einen Selbstbezug stellen wir nur her, wenn dies von der Sache her gerechtfertigt ist (wenn uns etwa jemand direkt anspricht). Wir wägen ab und entscheiden dann bewusst, ob ein Handeln bzw. Sprechen angebracht ist und, wenn ja, auf welche Art. Und ist die Episode zu Ende, lassen wir sie gefühlsmäßig nachklingen (insbesondere wenn die Emotionen hochgingen), bevor wir sie ganz loslassen. Um dann empfänglich zu sein für den nächsten Input.Nach all der geleisteten Vorarbeit lässt sich, so meine ich, nun der Versuch einer Definition von Achtsamkeit wagen:Achtsamkeit = Entschleunigung + ungeteilte Aufmerksamkeit + angepasste innere Distanz + Wohlwollen + Nichturteilen (Akzeptanz des Augenblicks)Zwei Fragen, die erfahrungsgemäß in Zusammenhang mit einer derart verstandenen Achtsamkeit auftauchen, möchte ich an dieser Stelle aufgreifen. Die erste lautet: Führt eine generelle Akzeptanz nicht zu einer Passivität bzw. zu einer Akzeptanz von Inakzeptablem? Nein, denn akzeptiert wird nur das, was bis zu diesem Augenblick geschehen bzw. geworden ist. Akzeptanz ist somit Realismus pur, denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, um dem Augenblick eine andere Gestalt zu geben. Aber erkennen und annehmen, was gerade jetzt ist, hindert mich nicht daran, im nächsten Augenblick zu handeln und so den Fluss der Dinge in eine andere, eine wünschenswertere Richtung zu lenken.Und die zweite Frage lautet: Geht bei achtsamem Tun nicht die Spontaneität verloren? Nein, im Gegenteil. Denn spontan ist nicht dasselbe wie automatisch. Eine rasche Reaktion aus automatisierten, kaum bewussten Mustern heraus ist keine spontane Reaktion. Je weniger bewusst eine handelnde Person ist, desto unfreier und verstrickter ist sie, während Spontaneität am ehesten in einem aus Verstrickungen befreiten Zustand aufblüht (man fühlt sich leicht). Wenn durch Verlangsamung oder ein kurzes Innehalten die Automatismen durchbrochen werden, löst sich etwas in uns und kreative Kräfte aus der Tiefe können wirksam werden. Es öffnet sich also ein Kanal für Spontaneität. Und schließlich geht, wie bereits mehrfach angesprochen, eine Haltung der Achtsamkeit mit einer Haltung des Wohlwollens einher. Dieses Wohlwollen bietet weitgehend Gewähr dafür, dass nicht nur vorsichtig abgewogene, sondern auch spontane Worte oder Taten aus einem Zustand der Achtsamkeit heraus kein Leiden verursachen.Man ist nicht einfach „achtsam“ oder „unachtsam“. Die Unterscheidung bewegt sich vielmehr entlang einer Skala. Unsere Aufmerksamkeit kann von diffus bis gestochen scharf reichen. Von Achtsamkeit spricht man generell in den höheren Bereichen dieser Skala. Zum Abschluss möchte ich den Begriff Achtsamkeit noch auf eine andere Art gliedern. Hierbei geht es um die Weite des Bildwinkels bzw. die Tiefenschärfe. Dies lässt sich am einfachsten veranschaulichen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit einer Filmkamera samt Zoomfunktion vergleichen.Fokus der Achtsamkeit: von Tele bis WeitwinkelTeleeinstellung. Der Fokus ist ausschließlich auf eine Sache, Handlung, Regung, Bewegung oder Begegnung gerichtet. Alles Übrige, wenn überhaupt im Bild eingefangen, wird bloß verschwommen wahrgenommen.Wechselnder Fokus und Zoom. Die Wahrnehmung wird bewusst hin und her gelenkt zwischen dem momentanen Vorgang, der Umgebung und der eigenen Befindlichkeit. Variante 2 des Zwischenfalls auf dem Gehsteig ist ein Beispiel für bewusst gesteuerte Aufmerksamkeit, während es sich bei Variante 1 um ungesteuerte Aufmerksamkeitsbewegungen handelt. Überhaupt sind Spaziergänge ein gutes Beispiel für einen in einem überschaubaren Rahmen wechselnden Fokus. Mal betrachten wir einen Baum auf der angrenzenden Wiese (mittlere Weite), dann unsere Reaktion darauf (Nähe) und daraufhin die Wolkenformationen am Himmel (Distanz und große Weite).Weitwinkeleinstellung. Die Wahrnehmung ist geräumig. Im Äußeren stellt sie sich beispielsweise ein, wenn wir von oben herab auf eine Partygesellschaft mit vielen Leuten blicken und den Rhythmus, in dem sich wechselweise Paare und Kleingruppen bilden und wieder auflösen, beobachten (ohne an einzelne Personen heranzuzoomen).Eine spezielle, etwas fortgeschrittene Spielart dieser Einstellung besteht darin, sich selbst gedanklich und gefühlsmäßig in das Gesamtbild einzufügen. Man ist dann gleichzeitig Handelnder, Beobachter und einer von mehreren aus der Distanz Beobachteten. Dies ist schwierig, denn wir müssen dabei unsere angeborene Egozentrik stark reduzieren (wir sind immer noch im Zentrum des Bildes, aber nur noch als eine relativ kleine Figur unter anderen). Je länger wir diese Einstellung durchhalten, desto deutlicher sehen wir jedoch unsere wirkliche Situation. Wir erkennen erstens, dass wir in ein Geflecht von sich permanent entwickelnden Beziehungen und Vorgängen eingebunden sind. Und zweitens (nach noch mehr Übung) erkennen wir, wo und wie stark die einzelnen Verflechtungen sich auf unser Tun und Lassen auswirken.Zur Übung der Achtsamkeit gehört es in diesem Zusammenhang, den Fokus bewusst, und zwar situationsgerecht, einzustellen. Ein auf ein einziges Phänomen gerichteter Fokus (Tele) ist angebracht, wenn wir jemandem aufmerksam zuhören wollen. Eine distanzierte Einstellung (Weitwinkel) wiederum ist bei chaotischen oder spannungsgeladenen Situationen oder bei schmerzlichen Erinnerungen empfehlenswert. Wir lassen dann das Wahrnehmungsfeld weit werden und es bildet sich ein schützender Abstand zwischen uns selbst und dem, was wir wahrnehmen.Bei geringer Achtsamkeit hingegen ist es wie mit einer Filmkamera, die sich selbstständig gemacht hat. Sie hat dann die Kontrolle über den Kameramann, anstatt dass dieser die Kamera bewusst führt.Ein anderer, sehr ausdrucksstarker Begriff für Achtsamkeit ist Geistesgegenwart. Das Gegenteil von Geistesgegenwart ist der Fall, wenn wir geistig abwesend sind. Dann schwirrt unser Geist zwischen selbst retuschierten und vervollständigten Bildern der Vergangenheit und selbst ausgestalteten Zukunftsbildern umher. Dazwischen hängt er sich an etwas, beispielsweise eine gehörte Aussage, und lässt sich von dort in Welten treiben, wo sich Realität und Fantasie mischen. Und all dies wird als Normalität pur empfunden. Unser Körper wiederum ist zwar dauernd anwesend, fristet aber in Phasen der Geistesabwesenheit ein unbeachtetes Dasein. Dies ergibt eine Gespaltenheit, die selten als solche erkannt, aber doch als ein leichtes Unwohlsein, ein leichtes Unzufriedensein (mit sich selbst nicht in Frieden sein) empfunden wird. Bei einem Dasein in Geistesgegenwart sind Körper und Geist wiedervereint. Und schließlich weist das Wort auf eine weitere Dimension hin: Es ist – so wird angedeutet – ein größerer als nur der eigene kleine Geist anwesend und wirksam.2.3.2 Einüben der HerzensqualitätenIn diesem Kapitel wenden wir uns nun dem zweiten Flügel des Vogels zu, der sich nach Kraft für Flüge jenseits seines üblichen Reviers sehnt. Das Bild aus dem vorhergehenden Kapitel macht deutlich, dass nur ein gleichzeitiges Stärken der Achtsamkeit und der Herzensqualitäten sinnvoll ist, denn kein Vogel kann mit nur einem Flügel fliegen. Im Folgenden wird zunächst eine Liste von Herzensqualitäten vorgeschlagen und beleuchtet. Danach werden meditative Übungen vorgestellt, mit denen sich diese Qualitäten, die latent in uns allen vorhanden sind, an die Oberfläche bringen und stärken lassen, um im Alltag wirksamer zu werden. Die Liste der Herzensqualitäten könnte weniger oder auch mehr Begriffe umfassen, je nachdem, wie fein differenziert wird. Ich habe mich für Folgende entschieden:Mitgefühl, Güte, Vergebungsbereitschaft, Vertrauen, Mut, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Demut, Wahrhaftigkeit, Langmut und TreueEs sollen dabei sowohl Eigenschaften (die im Hintergrund dauernd präsent und potenziell abrufbar sind) als auch deren Konkretisierungen zum Ausdruck gebracht werden. So lässt sich Mitgefühl beispielsweise als eine Konkretisierung von Güte verstehen und Vergebung wäre die Konkretisierung von Vergebungsbereitschaft. Zeige ich in einer Situation Geduld, obwohl mir etwas unter den Nägeln brennt, ist das ein Ausdruck von Langmut. Mit „Vertrauen“ ist ein Ur- oder Grundvertrauen gemeint; das, was im religiösen Kontext „Glaube“ genannt wird. Allerdings nicht bloß ein im Kopf lokalisierter Glaube, wo Glaubenssätze für wahr gehalten werden. Sondern ein Glaube im Herzen, der unser gesamtes Lebensgefühl mit einer Vertrauensschicht färbt. Unter „Demut“ verstehe ich eine realistische Haltung gegenüber unserer Stellung im Kosmos (wir machen uns dabei weder zu klein noch zu groß) sowie zu dem, was wir wissen und was wir nicht wissen können; zusammen mit dem Vertrauen kann dies zu einer großen Gelassenheit führen. Die übrigen Begriffe brauchen meines Erachtens keine weitere Erklärung.Beim Durchgehen der aufgelisteten Qualitäten merken Sie es wohl selbst: Scharf voneinander abgrenzen lassen sie sich nicht. Denn sie sind alle im Grunde genommen Ausprägungen einer Qualität: der Liebe. Sie zweifeln? Versetzen Sie sich zurück in einen Zeitpunkt, in dem Sie so richtig verliebt waren. Wären Sie da nicht bereit gewesen, für die geliebte Person enorm viel zu wagen (Mut), enorm viel Nachsicht zu zeigen (Vergebungsbereitschaft), wenn nötig stundenlang auf sie zu warten (Langmut), ihr alles Mögliche zu schenken (Großzügigkeit)? Stellen Sie sich nun vor, diese Verliebtheit wäre nicht bloß auf eine Person gerichtet, sondern auf alle Menschen (inklusive sich selbst), alle Lebewesen, ja den gesamten Kosmos. Um zu verhindern, dass diese Verliebtheit bzw. Liebe blind ist oder blind macht, muss jedoch ein genügend hoher Grad an Bewusstsein hinzukommen. Damit wären wir wieder bei den zwei Flügeln, die ein Vogel braucht, um fliegen zu können.Trotz der Urverwandtschaft all dieser Eigenschaften ist es sinnvoll, mit den oben aufgeführten Unterscheidungen zu arbeiten. Denn bei jedem von uns sind manche der genannten Qualitäten stärker entwickelt als andere. Bei ehrlicher und eingehender Betrachtung kann uns die Liste somit die eine oder andere schwächer ausgeprägte Herzensqualität vor Augen führen, bei der etwas mehr Übungsbedarf besteht.Im Folgenden werden wir exemplarisch Mitgefühl, Vergebungsbereitschaft und Mut beleuchten; das Erste ausführlich, die zwei anderen in knapper Form. Zur Dankbarkeit wird anderswo Stellung genommen (siehe S. 268), ebenso zur Demut (S. 455–457). Und da, wie gesagt, alle diese Qualitäten aus der gleichen Quelle stammen, lassen sich zu den hier nicht weiter ausgeführten Herzensattributen in Analogie und mit einer Portion Fantasie eigenständig Überlegungen anstellen und Übungen kreieren.MitgefühlEine einfache Formel soll klarmachen, was hier unter „Mitgefühl“ verstanden wird:Mitgefühl = Empathie plus Wohlwollen.Ein anderes Wort für Empathie ist Einfühlung. Je stärker unser Einfühlungsvermögen ist, desto stärker die Fähigkeit, in Resonanz das zu übernehmen, was andere in diesem Moment fühlen. Resonanz allein genügt jedoch nicht: Wenn ich mit jemandem, der in Panik geraten ist, in Resonanz trete (mich also einfühle), wird die Panik zumindest in den ersten Sekunden auf mich überschwappen. Damit ist niemandem geholfen. Mit Wohlwollen jedoch kommt auch der Wille, zum Wohle des anderen beizutragen, als Zusatzelement ins Spiel. Dies ermöglicht es mir, mit der notwendigen Distanz zur mitempfundenen Emotion aktiv zu werden. So verringere ich die Gefahr, durch die Intensität dessen, was ich empathisch übernehme, überfordert zu sein, oder andererseits vom Einfühlen in Beschlag genommen und ausgenutzt zu werden.Die Grundvoraussetzung für jedes echte und wirksame Mitgefühl mit anderen ist Mitgefühl mit sich selbst. Es wird berichtet, dass der Dalai Lama, als er neu in den Westen kam, erstaunt darüber gewesen sei, wie viel Selbstablehnung die Leute hier mit sich herumtrugen. Diese Selbstablehnung kommt wohl daher, dass viele Menschen in unserer Kultur ihr Selbstwertgefühl nicht nur stark an Leistung und/oder soziale Stellung koppeln, sondern diesbezüglich auch einen äußerst strengen Maßstab anlegen: Die Leistung muss möglichst perfekt sein bzw. ich muss klar erkennbar aus der Masse herausragen. Und doch: Denken Sie an ein neugeborenes Baby. Muss es seine Kostbarkeit durch irgendeine Leistung unter Beweis stellen? Und ist es denn möglich, diesen intrinsischen Wert im Lauf des Lebens zu verlieren? Oder führen Sie sich vor Augen, wie Menschen auf der ganzen Welt instinktiv und mit allergrößtem Einsatz versuchen, Suizidwillige von ihrem Vorhaben abzubringen. Man überlegt nicht erst, ob dies nun ein guter oder schlechter, ein leistungsstarker oder leistungsschwacher Mensch sei. Das Wissen um den innewohnenden Wert jeder Person ist zutiefst in uns verankert. Dies macht sich zwar im Alltag nicht immer, in einer Notsituation der betreffenden Person aber sehr wohl bemerkbar.Anstatt den Prozess des Reifens mit einem Weg zu vergleichen, können wir auch ein anderes Bild verwenden. Stellen Sie sich einen mit Dreck, Staub und verkrusteter Erde überdeckten Diamanten vor. Der Diamant steht für unser wahres Wesen und bringt damit unseren wahren Wert zum Ausdruck. Wir müssen uns unseren Wert also nicht verdienen, wir müssen ihn bloß wieder zum Vorschein bringen. Unser Reifeprozess besteht darin, die Krusten der Verunreinigungen allmählich aufzulockern, sodass sie sich wegschwemmen lassen. Diese Verunreinigungen sind von verschiedener Art und haben verschiedene Namen: Ignoranz (über unser wahres Wesen), Begierde nach allen möglichen äußeren Phänomenen; Hass, Neid, Lüge, Verstellung – eben alles, was dunkel ist und verdunkelt, was also das Gegenteil von Transparenz und Leuchtkraft darstellt. Zur Arbeit an uns selbst angestoßen werden wir durch Ausnahmesituationen, in denen der Panzer der verdeckenden Schichten durchdrungen wird, oder durch ein kurzes, unerwartetes Funkeln durch diese Schichten hindurch, durch das wir plötzlich etwas vom inneren Diamanten wahrnehmen. Dabei ist die Meditation eine große Hilfe, denn durch sie fallen Ablenkungen weg. Während wir durch den Blick nach innen statt nach außen zwar die Verkrustungen und den Schmutz deutlicher wahrnehmen, dringen doch immer wieder Lichtstrahlen von unterhalb dieser Schichten in unser Bewusstsein. Das wiederum dient als Motivation, um die Klärungs- und Lösungsarbeit fortzusetzen.Es gehört aber zur Conditio humana, dass wir Bestätigung unseres Wertes auch von außen benötigen. Jack Kornfield (geb. 1945), der große amerikanische Lehrer buddhistischer Weisheit, erzählt von einer High-School-Lehrerin, die an einem Nachmittag, als ihre 16- bis 17-jährigen Schützlinge besonders unruhig waren, den Normalunterricht abbrach und stattdessen alle eine Liste mit den Namen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler erstellen ließ. Dann wies sie sie an, hinter jedem Namen eine Eigenschaft, die sie an dieser Person besonders mochten oder bewunderten, aufzuführen. Am Ende sammelte sie die Blätter ein. Einige Wochen darauf, ebenfalls zu einem Zeitpunkt, als die Stimmung gereizt war, verteilte sie an jeden Schüler und jede Schülerin eine persönlich zusammengestellte Liste mit all jenen positiven Eigenschaften, die ihnen von ihren Klassenkameradinnen und Kameraden zuerkannt worden waren. Es folgten Ausrufe der Überraschung und Freude, ja der Entzückung über die vielen guten Wesensmerkmale, die jeder und jede über sich aufgelistet sah.Die wahre Geschichte geht aber noch weiter. Drei Jahre später erhielt die Lehrerin einen Anruf von der Mutter eines ehemaligen Schülers aus dieser Klasse. Der junge Mann war nach Ende seiner Schulzeit zur Armee gegangen und kurz darauf bei einem Einsatz im Irak ums Leben gekommen. Die Mutter lud die Lehrerin zur Abdankung ein. Nach Ende der Zeremonie trat die Mutter auf die Lehrerin zu und zeigte ihr ein zerknittertes Blatt Papier. Es war jene Liste mit den guten Eigenschaften, die ihm seine Altersgenossen attestiert hatten. Das Blatt gehörte zu den wenigen Habseligkeiten, die der junge Soldat bei sich trug, als man seinen Leichnam barg. In dem Moment trat eine ehemalige Klassenkameradin hinzu und erklärte etwas verlegen, dass auch sie diese Liste immer in ihrer Handtasche habe. Und eine weitere verriet, dass bei ihrer Trauung Worte der Wertschätzung aus dieser Liste in ihr Ehegelübde eingeflossen seien.44Aus einem gesunden (nicht überheblichen) Selbstwertgefühl heraus drängt es uns geradezu, das Mitgefühl auf andere auszudehnen. Aber tun wir das nicht bereits? Sicherlich längst nicht in jedem Augenblick, aber ich wage zu behaupten, dass Sie ein Buch wie dieses nicht in die Hand nehmen würden, wenn Sie nicht ein Mensch mit ordentlich entwickeltem Einfühlungsvermögen und Wohlwollen wären. Es geht nun darum, von diesem „ordentlich“ aus weiter voranzuschreiten. Vergleichen wir hierzu, wie bei der Achtsamkeit im Kapitel zuvor, den „Normalzustand“ mit einem Zielzustand.NormalzustandMit den meisten Menschen in unserem familiären Umfeld sowie mit einigen im beruflichen Umkreis und darüber hinaus spüren wir eine tief verankerte und wenig von Tagesemotionen abhängige Verbundenheit. Vielfach geht diese auch mit Zuneigung einher, die zwar nach Streitigkeiten kurz aussetzen kann, aber – da die Zuneigung mehr als nur emotional bedingt ist – später wieder zum Vorschein kommt. Diese Menschen gehören hier zur Kategorie 1. Im Allgemeinen fällt es uns nicht schwer, Personen aus dieser Kategorie Mitgefühl zukommen zu lassen. Die Verbundenheit mit ihnen besteht jedoch nicht nur aus Zuneigung. Hinzu kommen meist ein subtiles Besitzgefühl oder umgekehrt ein Gefühl von Abhängigkeit. Ein Gefühl der Verbundenheit auf Distanz nimmt oft die Form von Bewunderung an. In all diesen Fällen bildet zudem die empfundene Verbindung auch einen Teil unserer Identität. Dies lässt sich leicht testen: Fühlen Sie sich selbst angegriffen, wenn die betreffende Person angegriffen wird, so trifft die Vereinnahmung zu Identitätszwecken zu. Außerdem kommt ein gewisses Maß an Eifersucht auf, wenn die betreffende Person sich allzu stark anderen Menschen zuwendet.Gerade in unserem Verhältnis zu Menschen, die wir ursprünglich zu dieser Kategorie zählten, kann es jedoch zu Brüchen oder zu einem anhaltenden Erkalten der Zuneigung kommen. Beispiele von Familienzwisten, Ehescheidungen, abgestumpften Paarbeziehungen oder dauerhafter Entzweiung bei einer beruflichen Beziehung sind uns allen bekannt. Daraufhin kann es sehr schwierig werden, Mitgefühl zu entwickeln, wenn es die Situation eigentlich erfordern würde, denn die betreffende Person befindet sich inzwischen in der „schwierigsten“ Gruppe (Kategorie 5).Kategorie 2 umfasst Menschen, die für eine kurze Zeit auf unserem Radar auftauchen und in unserem Leben eine als angenehm oder nützlich empfundene Rolle spielen. Eine solche kurzzeitige Verbundenheit kann mit spontaner Zuneigung einhergehen (beispielsweise aufgrund eines anregenden Gesprächs mit einer fremden Person während einer längeren Zugfahrt). Ferner kann es aus Nützlichkeitsdenken zu einer Verbindung kommen (wenn ich etwa einen Mechaniker bitte, mein Auto auf Mängel hin zu untersuchen, mit ihm am Tag darauf über sinnvolle Reparaturmaßnahmen diskutiere und eine Woche später die Resultate mit ihm begutachte). Hier ist die Verbindung vorwiegend rationaler Natur. Entwickeln wir gegenüber Menschen dieser Kategorie Mitgefühl? Es könnte sich beispielsweise darin äußern, dass wir ihnen aufmerksam und im wörtlichen Sinn zugewandt zuhören. Und damit mehr aufzunehmen bereit sind, als bloß das, was uns interessiert oder wir an Information benötigen.Den allermeisten Menschen, denen wir flüchtig begegnen (einer Kassiererin im Supermarkt zum Beispiel) oder die ganz kurz in den Fokus unserer Aufmerksamkeit geraten (Menschen etwa, über die wir einmal in einem Zeitungsbericht lesen), begegnen wir de facto mit annähernder Gleichgültigkeit (Kategorie 3). Natürlich kann eine minimale oder nur ganz kurz aufflackernde affektive oder gedankliche Zuwendung stattfinden, aber diese vergeht sehr rasch wieder, ohne eine merkliche Spur zu hinterlassen. Zu einem Mitgefühl, das etwas bewegt, wird es kaum kommen.Kategorie 4 umfasst jene Personen, denen gegenüber bei uns kurzzeitlich Abneigung (Hass, Neid, Wut, Widerwillen, Verachtung usw.) aufflammt und mit deren Verschwinden aus unserem Leben wieder vergeht. Um an eines der obigen Beispiele anzuknüpfen, können wir uns einen Sitznachbarn auf einer Zugreise vorstellen, der penetrant, aufdringlich oder furchtbar langweilig auf uns einredet. Mitgefühl? Fehlanzeige.Und Kategorie 5 schließlich umfasst diejenigen Menschen, gegen die wir einen tiefsitzenden und langandauernden Groll hegen. Das sind meist Menschen, denen wir die Schuld an unserem eigenen Leid zuschreiben. Würden wir Einzelnen von ihnen mehr als nur ein kurz aufleuchtendes Quantum an Mitgefühl entgegenbringen, wären sie nicht mehr in dieser Kategorie. Würden wir ihnen allen Empathie und Wohlwollen zukommen lassen, gäbe es diese ganze Kategorie in unserem Leben nicht mehr.Üben in der Meditation (und darüber hinaus)Für die ersten Schritte eignet sich, wie bei der Achtsamkeit, der Rahmen einer formellen Meditation am besten – dort, wo wir eingebettet in Stille und frei von Zeitdruck üben können. Wenn uns die Übungen vertrauter geworden sind, können wir sie auch spontan in Alltagssituationen einbauen.Zunächst geht es um eine liebevolle Güte uns selbst gegenüber. Alle Übungen beginnen wir mit einem Blick auf unsere gegenwärtige Gemütslage. Bin ich gerade unruhig, genervt, unter Stress oder gelangweilt, dumpf, traurig oder sehnsüchtig, erwartungsvoll oder gelassen? Oder finde ich verschiedene Elemente dieser Stimmungslage vor, von denen manchmal das eine, manchmal das andere an die Oberfläche vorstößt? Der erste Teil der Übung besteht stets darin, im Verbund mit dem bewussten Atmen hinzusehen und hinzuspüren; das, was ist, zu akzeptieren und ihm wenn möglich zuzulächeln. Wie bei einem chemischen Vorgang, bei dem ich eine neue Ingredienz hinzufüge, wird das allein schon den ganzen Mix verändern. Und zwar in Richtung von Entspannung und Beruhigung. Dann spreche ich innerlich das, was mir am angebrachtesten scheint. Es kann als Zuspruch oder Gebet formuliert werden. Hier ein paar Sätze zur Auswahl:Möge ich Ruhe finden. Möge ich Trost finden. Ich wünsche mir Frieden. Ich bitte um Vertrauen. Danke, dass ich Geduld habe mit … (Person oder Situation benennen).Passt keiner dieser Sätze, sollte es Ihnen anhand der Beispiele leicht fallen, andere zu formulieren, die inhaltlich und in der Tonlage besser auf Ihre Situation abgestimmt sind. Halten Sie die Sätze möglichst kurz und einfach. Und bauen Sie keine Negation ein (etwa im Stil von „Möge ich nicht dauernd wütend werden“). Die Worte sind ja nicht an den Verstand gerichtet, sondern an das Herz, die Seele, das Gefühl und das Gemüt bzw. an das Umfassende, an Gott. Beim obigen Beispiel würde sich bei Ihnen vor allem das Wort „wütend“ einnisten. Mit der steten Wiederholung im meditativen Rahmen stellen wir fest, dass die Worte als solche nach einer Weile „zerfließen“. Spürbar bleibt ein – zumindest kurz anhaltender – innerer Wandel.Das Einüben von liebevoller Güte anderen gegenüber verläuft ähnlich. Anstatt mit dem Einfühlen in mich selbst beginne ich hier mit einer Visualisierung der betreffenden Person und der Identifizierung der Gefühle, die dabei hochkommen. Ich benenne und akzeptiere sie als das, was sie sind. Danach wiederhole ich im Verbund mit dem Atem meinen Zuspruch bzw. mein Gebet. Etwa:Mögest du Trost finden. Mögest du einen guten Weg finden. Mögest du glücklich sein. Mögen du und ich Frieden finden. Danke, dass es dich gibt.Selbstverständlich fällt uns dies gegenüber Menschen der garstigen Kategorien (4 und 5) zunächst wesentlich schwerer als gegenüber jenen, denen wir bereits wohlgesonnen sind. Wenn direkte Visualisierung allzu starken Widerwillen hervorruft, können wir zu Hilfsvisualisierungen greifen. Wir stellen uns dann die betreffende Person beispielsweise als schutzloses Kind vor, das wir in den Armen halten. In den meisten Fällen werden Sie überrascht sein, wie schnell die gefühlsmäßigen Barrieren im Lauf einer solchen Übung sich zu lockern beginnen. Natürlich kommen die alten Ressentiments nach Beendigung der Übung wieder hoch. Es braucht Wiederholung – bei der sich die Sätze vom Kopf ins Herz verschieben – und Ausdauer, um das Mauerwerk der Gefühle, das uns trennt, allmählich abzutragen. Aber die kleine Übung als einzelner Schritt fordert uns nichts Übermenschliches ab.Zwei weitere Übungen zum Mitgefühl, diesmal außerhalb des formellen Meditationsrahmens, möchte ich Ihnen noch nahelegen. Die erste lässt sich dann ausführen, wenn ich mich unter Menschen befinde, beispielsweise als Pendler in einem Zug. Ich betrachte die Personen um mich herum (unauffällig, natürlich) und versuche, in jedem Gesicht etwas Schönes zu finden. Daraufhin lasse ich die dabei aufkommenden Gefühle nachklingen.Bei der zweiten (meiner Lieblingsübung in diesem Zusammenhang) betrachte ich ebenfalls Menschen um mich herum und sage innerlich zu mir: Das bin auch ich. Auch hier spüre ich am Ende nach. Im ersten Moment erscheint die Übung widersinnig – und doch ist sie kraftvoll, weil sie mit einer Bewegung die Grenzen unseres Alltagsverstandes aushebelt und somit überwindet. Verstandes- und erfahrungsmäßig sind die andere Person und ich zwei getrennte Individuen, und doch kann aus dieser Übung heraus in mir ein tiefliegendes, beglückendes, aber niemals rational erklärbares Gefühl der Verbundenheit bzw. der Einheit erwachen. Es ist, wie wenn die Hand zum Fuß blicken und sagen würde: „Das bin auch ich.“ Oberflächlich gesehen ist es Unsinn, im tieferen Sinn (sie gehören beide dem gleichen Körper an) ist es eine Anerkennung der Realität. Probieren Sie es aus.ZielzustandDas Ziel muss hochgesteckt sein. Denn der Weg ist ein lebenslanger, und wenn ich etwas, das de facto ein Zwischenziel darstellt, zum Endziel erklären würde, hieße das stehenbleiben, obwohl noch eine Wegstrecke vor uns liegt. Beim Mitgefühl lässt sich das Endziel etwa so formulieren: eine Haltung von universeller Güte und universellem Wohlwollen ohne Anhaftung. Aus einer solchen Grundhaltung heraus kann sich Mitgefühl jederzeit konkret äußern, wenn die Situation es erfordert. Im Fall von uns nahestehenden Personen geschieht dies ohne Inbesitznahme; das heißt, wir gewähren unserem jeweiligen Gegenüber die Freiheit bei der Lebensgestaltung nicht nur äußerlich, sondern auch gefühlsmäßig (was diese Person spüren wird). Auch Eifersucht tritt dann nicht mehr in Erscheinung, wenn eine Person, die wir mögen, sich anderen stärker zuwendet als uns. Ferner vermitteln wir selbst bei flüchtigen Begegnungen niemandem das Gefühl, er oder sie sei uns gleichgültig. Bei jeder Begegnung wird unser Mitgefühl aktiviert, danach legen wir es aber wieder zur Ruhe, damit wir für die nächste Begegnung aufnahmebereit und am Ende des Tages gefühlsmäßig nicht ausgebrannt sind. Im Fall von Personen, die wir nicht mögen, die uns verletzt oder hintergangen haben, braucht es den Blick durch die (Widerwillen hervorrufende) Oberfläche hindurch zu deren verletztem Innern, um die Abneigung zu verringern und bei Bedarf jenes Maß an Mitgefühl zu entwickeln, das Gutes bewirkt.Wenn wir uns dieses Ziel in seiner ganzen Tragweite vor Augen halten (nehmen Sie sich dafür ein paar Sekunden Zeit), scheint es uns wohl tatsächlich in fast unerreichbar weiter Ferne zu liegen. Lassen wir uns aber vom Ideal nicht abschrecken. Jeder Schritt in die gute Richtung bewirkt bereits ganz konkret Gutes. Denken Sie zudem zurück an das Bild des von Verunreinigungen überdeckten Diamanten. Wenn unser eigenes tiefstes Wesen wie ein Diamant beständig ist und dort, wo er nicht überdeckt ist, Licht vermittelt, so trifft dies natürlich auf alle anderen Menschen gleichermaßen zu. Dieses Bild bei einer unangenehmen Begegnung beizuziehen, kann hilfreich sein. Hilfreich ist ferner der Begriff Nächstenliebe. Er weist mich darauf hin, dass ich nicht gleich die ganze Welt umarmen und retten muss. Die Liebe soll derjenigen Person gelten, die mir jetzt am nächsten ist. Also der Person, mit der ich es gerade zu tun habe.In einem solchen Bemühen ist es überdies wichtig zu wissen, dass wir nicht allein sind. Wir können uns eine zeitlose „Gemeinschaft des Mitgefühls“ als Kraftquelle vorstellen (es gibt sie, auch wenn wir sie uns nicht vorstellen). Jesus, Buddha, Mutter Teresa und der Dalai Lama gehören zu den universell bekannten Figuren dieser Gemeinschaft, aber wir alle kennen (hoffentlich) auch Menschen in unserem Umkreis, die uns mit ihrem gelebten Einfühlungsvermögen und Wohlwollen inspirieren können.Und schließlich gehört es zum Ziel, dass die verschiedenen Kategorien, in die wir unbewusst und gefühlsmäßig Menschen einteilen, mit der Zeit immer mehr schwinden. Was wiederum zu einer enorm erleichternden Vereinfachung unseres Gefühlslebens führt.VergebungsbereitschaftVieles, das bereits zum Mitgefühl gesagt wurde, lässt sich analog auf den Themenbereich Vergebung anwenden. Die zwei hängen eng zusammen und benötigen einander. Um etwa einen langgehegten Groll abzubauen, braucht es neben Einfühlen und Wohlwollen vielfach auch Vergebung dessen, was uns angetan wurde.Vergebung bedeutet weder Vergessen noch Gutheißen von vergangenem Unrecht (oder dem, was als Unrecht empfunden wird). Es bedeutet, die mit diesem Sachverhalt verknüpften Barrieren aus negativen Gefühlen – Nichtakzeptanz, Schuldzuweisungen und Ressentiments – aufzuweichen und durchlässig werden und schließlich ganz von uns abfallen zu lassen. Der Prozess muss bis zum Schluss im Auge behalten werden, denn aufgeweichte Gefühle, die nicht vollständig losgelassen werden, können sich rasch wieder verhärten. Die Wurzel des Wortes „vergeben“ ist „geben“ (engl. for-give, franz. par-donner). Wenn wir vergeben, reichen wir der Person, die uns verletzt hat, (und uns selbst) eine kostbare Gabe.NormalzustandIn uns befindet sich ein Stück innerer Verhärtung, die Unversöhntheit heißt. Da sie sich eigentlich nur gegen einzelne Personen, vielleicht sogar nur gegen eine einzige Person richtet, verharrt sie meist unter der Oberfläche und ist nicht unbedingt alltagswirksam. Und doch beeinflusst sie nicht nur unser gesamtes Lebensgefühl, sie kann auch in Situationen, in denen die „schuldige“ Person gar nicht involviert ist, zu einem Wirkfaktor werden.Oder wir tragen eine Last von Schuldgefühlen mit uns herum, einen mehr oder minder schweren Rucksack an Unvergebenem. Auch dieser kann unserem ganzen Lebensgefühl einen dunkleren Anstrich geben. Eine solche Belastung durch Schuld kann ein Gefühl erzeugen, wonach ich selbst oder das Leben mich bestrafen müssten. Oder wonach ich mein wahres Wesen verstecken müsste (als ob meine Schuld darauf gebrandmarkt und ohne eine Maske für alle sichtbar wäre) und der Welt nur noch eine Rolle vorspielen dürfte.Üben in der Meditation (und darüber hinaus)Vergeben bzw. um Vergebung bitten geschieht von Mensch zu Mensch. In der Meditation lässt sich jedoch der Boden für einen solchen Akt vorbereiten. Wie immer in Stille und in Verbindung mit dem Atemfluss sage ich innerlich etwas in folgender Art:Vergebung gewähren:… (Name nennen), ich vergebe dir.… (Name nennen), ich trage dir … (Sache benennen) nicht mehr nach.Wenn die Vergebung sehr schwerfällt:… (Name nennen), soweit es mir möglich ist, vergebe ich dir.Schuld anerkennen und um Vergebung bitten:… (Name nennen), ich habe dir mit … (Sache benennen) Leid zugefügt.… (Name nennen), soweit es dir möglich ist, vergib mir.… (Name nennen), … (Sache benennen) tut mir leid. Bitte vergib mir.Gerade bei Übungen dieser Art gehört das feine Hinhören auf innere Regungen zu den zentralen Elementen. Schließlich verschafft sich auch das Gewissen in der Stille der Meditation leichter Gehör. Ein weiteres wesentliches Element ist das Beobachten dessen, was der Vorgang in uns auslöst, und zwar ein Beobachten mit Wohlwollen und Akzeptanz. Der Wandlungsprozess wird kaum glatt und gradlinig verlaufen – Schmerz, Zweifel und Widerstände beim Wiedererleben alter Verletzungen sind also zu erwarten und sollten uns nicht von unserem Vorhaben abbringen. Durch unbeirrte Wiederholung aber wird sich unweigerlich im Innern eine gewisse Erleichterung einstellen. Diese wiederum wird unser Verhalten im Alltag mitprägen. Und wenn das Leben uns mit einer der betreffenden Personen zusammenführt, wird uns aufgrund dieser Vorarbeit ein Verzeihen oder ein Bitten um Verzeihung von Angesicht zu Angesicht bzw. von Herz zu Herz ein Stück leichter fallen. Mehr noch: Vergebung bzw. um Vergebung bitten passieren dann nicht mehr unüberlegt und unvorbereitet, aus einer gerade vorherrschenden Stimmung oder Laune heraus, sondern aus der Tiefe einer eingeübten Haltung.ZielzustandIm Alter von zehn Jahren wurde Richard Moore (geb. 1961) von einem Gummigeschoss, das ein britischer Soldat aus nächster Nähe abfeuerte, mitten ins Gesicht getroffen. Die Folge: Blindheit. Im gleichen Jahr (1972) wurde sein Onkel erschossen. All dies geschah im Rahmen der jahrzehntelang andauernden gewaltsamen Unruhen in Nordirland. Gemäß eigenen Aussagen entwickelte Richard jedoch nie eine Wut in sich, weder auf jenen Soldaten, der auf ihn geschossen hatte, noch auf die britische Armee im Allgemeinen. Im Gegenteil. Er machte als Erwachsener den Soldaten, der jenes Gummigeschoss abgefeuert hatte, ausfindig und suchte ihn auf. Es folgte ein mehrstündiges Gespräch im Privaten. Die beiden, Richard Moore und Charles Innes, kamen offensichtlich miteinander ins Reine, sodass sie sich seitdem mehrmals wiedergesehen haben, sogar öffentlich. Richard spricht inzwischen von Charles als einem Freund. Mit dieser außergewöhnlichen Haltung ist er für andere zum Vorbild geworden. Er wird in Schulen und zu Vorträgen eingeladen und hilft so anderen Opfern, die Bürde von Hass abzubauen und vielleicht sogar bis zur Vergebung zu gelangen.MutWas mache ich, wenn mich jemand verbal angreift? Wenn ich das Gefühl habe, zu Unrecht übergangen oder unfair behandelt zu werden? Und, über das Eigene hinaus, wenn ich mit einer Ungerechtigkeit anderen gegenüber konfrontiert werde? Es sind natürlich je nach Situation verschiedene Reaktionen möglich, aber die häufigsten Muster laufen etwa wie folgt ab:NormalzustandWerde ich kritisiert oder beleidigt (oder empfinde ich dies zumindest so), wird die Zugbrücke zu meiner inneren Burg hochgezogen. Entweder begebe ich mich in den tiefsten Schmollwinkel des Verlieses. Oder, wenn der „Gegner“ nicht übermächtig ist (sich etwa in einer Chefposition befindet), gehen meine Bogenschützen in Position. Die Pfeile werden von meinem Verstand geschärft und von meiner Wut mit Gift bestrichen. Die Kraft, den Bogen zu spannen und Pfeil um Pfeil abzuschießen, kommt von der Aggression. Vielleicht entsende ich sogar die Kavallerie zum Gegenangriff. Selbst nachdem der Rückzug, Kampf oder Gegenangriff vorbei sind, steigen Wellen der Empörung über diesen Angriff auf mich in den darauffolgenden Stunden und Tagen immer wieder hoch.Eine Empörung über Ungerechtigkeiten anderen Personen gegenüber klingt hingegen fast immer rasch ab. (Dies gilt für Angriffe auf mir nicht nahestehende Personen. Angriffe auf solche, die mir nahestehen, werden de facto mit Angriffen auf mich selbst gleichgesetzt.) Zuvor aber mache ich mich selber in meiner scheinbaren Hilflosigkeit klein, oder ich schicke aggressive Gedanken in Richtung der Übeltäter.Tatsächlich bestehen viele Momente in unserem Leben aus Abwehr (bzw. innerem Rückzug) oder Angriff (bzw. aggressivem Denken und Verhalten). Und zwar reaktiv, ohne hohen Bewusstseinsgrad. Muss das so sein?Üben in der Meditation (und darüber hinaus)Nehme ich – in einem störungsfreien Rahmen und ohne Zeitdruck – meine Meditations-Sitzhaltung ein, findet vieles, was im Inneren rumort, endlich meine Aufmerksamkeit. So beispielsweise die Empörung über eine kürzlich erlittene Beleidigung sowie meine Reaktion darauf. Wenn solches hochkommt, kann ich unabgelenkt hinschauen und genau nachspüren. Dabei versuche ich, vorgefasste Meinungen außer Acht zu lassen und nicht ins Wiederkäuen zu geraten. Es werden Fragen auftauchen: Aus welchem Motiv kamen die Worte der anderen Person? War das Hochziehen der Zugbrücke wirklich nötig? Waren die totale Abschottung oder die Pfeile angebracht? Und vielleicht dämmert mir dann auch, dass ich mir mit diesen Aktionen die Chancen auf Verständigung oder gar Versöhnung verbaut habe.Auch mein fehlendes Engagement für andere Opfer von Ungerechtigkeiten kann mir in der Meditation wieder vorschweben. War es Feigheit? Trägheit? Oder gab/gibt es für mich keine realistische Möglichkeit zu helfen? Intuitiv kommt vielleicht eine Antwort, oder ich stelle mich den neu aufgeflammten Fragen nach der Meditation.Der Samen des Zweifels über meine zuvor unhinterfragten Reaktionsmuster ist also gesät. Natürlich braucht es weiteres Üben, bis aus diesem Samen ein Gesinnungs- und Verhaltenswandel heranwächst. Aber ich beginne vielleicht, bei persönlichen Konflikten die Zugbrücke unten zu lassen und auf das Abschießen von Pfeilen zu verzichten. Dadurch mache ich mich zwar – scheinbar – verletzlich, aber die Chance, anderen Person auf eine nicht defensive oder aggressive Art zu begegnen, scheint das Risiko wert zu sein. Manch ein Versuch wird gelingen, andere werden scheitern. Aber ich bleibe dran. Bis ich merke, dass ich auch ohne (geistig oder verbales) Abwehrverhalten nicht wirklich zu Schaden komme.Dasselbe gilt auch für mein Verhalten bei Unrecht, das anderen geschieht. Dort, wo ich eine Möglichkeit für ein konstruktives Eingreifen sehe, stelle ich mich auch möglichen Konfrontationen, aber unbewaffnet. Unbewaffnet bedeutet ohne Aggressivität, weder in den Worten noch in der Stimme noch in der Gestik. Aber eben auch ohne Zurückhaltung aus Ängstlichkeit oder Bequemlichkeit.Offenheit und gewaltloses Engagement auch in konfliktträchtigen Situationen kommen nicht von selbst. Sie verlangen eine weitere essenzielle Herzensqualität, nämlich Mut.ZielzustandAußer es liegt tatsächlich eine Bedrohung von Leib und Leben oder Hab und Gut vor, lasse ich mich weder zu aggressivem noch defensivem Verhalten provozieren, noch ziehe ich mich ängstlich oder schmollend zurück. Ich bin gewillt zuzuhören und suche aus einer friedvollen Grundhaltung heraus bereitwillig das Gespräch. Wenn nötig mehrmals. Ohne Angst vor Zurückweisung und ohne das Bedürfnis, andere auf irgendeine Art zu „besiegen“. Ist Kritik an mir berechtigt, bin ich bereit, dazuzulernen. Denn – und diese Erkenntnis gehört ebenfalls zum Ziel – die Burg, die mir scheinbar Schutz bietet und die ich verteidigen muss, ist nichts anderes als mein Ego. Gelebter Mut bedeutet, mein Ego mit seiner ganzen kleinlichen Gefallsucht, Ängstlichkeit, Dünnhäutigkeit und Bequemlichkeit zu konfrontieren. Jenes Ego, das jegliche Kritik als einen Angriff auf seine Existenz wahrnimmt und das seinerseits gegen Widerstand oder Nichtanerkennung aggressiv zu Felde zieht – oder die Aggression kaschiert, woraufhin sie im Innern wie ein Geschwür die Lebensenergie zersetzt. Im Idealfall brauche ich keine Burg mehr, weil es nichts mehr an mir gibt, das ich verteidigen müsste. Ich brauche auch keine Waffen, weil ich es nicht mehr nötig habe, zurückzuschlagen oder andere anzugreifen. Ich kann für eine Sache kämpfen, ohne auf eine Person zu zielen.Somit wird klar, dass sich Mut als Herzensqualität von Wagnis oder Kühnheit unterscheidet. Wenn ich mich an einem Bungee-Seil von einer Brücke herunterstürze, trage ich damit weder zur Verringerung der Macht meines Egos über mich noch zum Wohl meiner Gemeinschaft bei (abgesehen vom finanziellen Zustupf an den Sprunganbieter). Wenn ich hingegen den Mut zu Verständnis und zur Versöhnung auch in spannungsgeladenen Situationen aufbringe, trage ich zu beidem sehr wohl bei. Außerdem ist Mut nicht mit Furchtlosigkeit gleichzusetzen, obwohl gelebter Mut uns die Furcht vor mancher imaginärer Gefahr nehmen kann.Ausgeweitet auf andere Lebenssituationen, die Mut erfordern, lässt sich Folgendes beobachten: Gereifter Mut bedeutet gestärkter Mut. Gestärkt wird er, wenn seine Widersacher schwächer werden, nämlich die Facetten des Egos, die wie Schattengewächse die Herzensqualitäten zu umschlingen drohen: Überheblichkeit und Unterwürfigkeit, Bissigkeit und Wehleidigkeit, Tatenwahn und Bequemlichkeit, Ängstlichkeit, Wankelmütigkeit, Gefallsucht und viele weitere Arten und Unterarten. Es braucht Mut, den Kampf gegen solche Gegenkräfte aufzunehmen und durchzustehen (zu diesem Thema siehe Kapitel 4.4).Weil sich der Kampf im Innern abspielt, ist Mut – im Gegensatz, wie gesehen, zu Wagnis oder Kühnheit – jedoch selten spektakulär. Aber ohne Mut (und der im Gleichschritt gedeihenden Resilienz) werden sich die übrigen Herzensqualitäten nur so lange entfalten, bis ihnen ernsthafter Widerstand erwächst.Ein kräftig verwurzeltes Aufblühen der Herzensqualitäten führt letztlich zu einer Vereinfachung des Gefühlslebens im Alltag. Lassen Sie bei Gelegenheit (in Momenten der Ruhe) folgende Zeilen – einzeln oder zusammen – auf sich wirken:Die Einfachheit der Langmut– weil ungeteilt in Geduld und Ungeduld.Die Einfachheit der Vergebung– weil ungeteilt in verdient und unverdient.Die Einfachheit der Herzensgüte– weil ungeteilt in Zuneigung und Ablehnung.Die Einfachheit der Liebe– weil ungeteilt mit allen geteilt.2.3.3 Meditative AlltagsübungenIn der Meditation üben wir uns darin, wach und achtsam zu bleiben, das Herz zu öffnen und uns einer grenzenlosen Weite in Stille hinzugeben. Im Alltag hingegen ist der Wachheitsgrad nur punktuell hoch und ansonsten tief, wir lassen uns mehrheitlich von Gewohnheiten und Außenanstößen treiben, und was als breiter Weg begann, wird leicht zu einem engen Hamsterrad. Die Frage wurde bereits einmal gestellt: Was können wir dazu beitragen, dass die zwei Welten zusammenfinden? Als Antwort möchte ich Ihnen hier einfache Übungen vorstellen, die uns genau diesem Ziel näherbringen. Manche sind zuvor schon zur Sprache gekommen, andere sind neu. Hier werden sie in gebündelter und systematisierter Form präsentiert.AchtsamkeitInnehalten und sich vergegenwärtigen. Machen Sie im Lauf des Tages immer wieder Mini-Pausen und vergegenwärtigen Sie sich: Wo bin ich? Was tue ich? Ist es passend? Tue ich es auf eine gute Art? Was steht als Nächstes an?Innehalten, Körperkontakt herstellen und auf den Atem achten. Sitzen oder stehen Sie gerade und legen Sie eine Hand auf den Bauch. Sie sind dadurch wieder mit Ihrem Körper in Berührung. Dann beobachten Sie, wie sich die Bauchdecke bei jedem Einatmen hebt und bei jedem Ausatmen senkt.Bewusstsein auf den Körper lenken. Spüren Sie blockierte oder verspannte Stellen auf und versuchen Sie bewusst, sie mithilfe des Atems zu lockern und zu entspannen.Entschleunigen und den Atemfluss befreien. Es heißt, wir sollen von Augenblick zu Augenblick leben. Wie lange dauert aber ein Augenblick? Nehmen wir einmal an, ein Augenblick umfasst einen Atemzug. Einmal einatmen, einmal ausatmen. Bei hektischem Tun atmen wir stoßweise und rasch; die Dauer eines Atemzugs wird kürzer und seine Tiefe nimmt ab. So wird die – gefühlte – Zeit knapper und der Innenraum enger. Eine aus innerer Distanz vorgenommene Selbstbeobachtung ist kaum möglich. Verlangsamen wir unser Tun, so verlangsamt sich auch die Atemfrequenz. Und wir atmen nicht mehr nur bis zum Brustbereich, sondern bis hinunter in den Bauch. Der Augenblick (im oben definierten Sinn) wird länger. Es öffnet sich eine räumliche und eine zeitliche Weite, die es uns ermöglicht, uns laufend selber aus einem gewissen Abstand zu beobachten und so unser Verhalten bewusster zu gestalten. Verlangsamen Sie also immer wieder Ihr Sprechen und Tun, und lassen Sie den Atem wieder freier fließen.Unscheinbare Verrichtungen bewusst ausführen. Nirgends lässt sich bewusstes Handeln leichter einüben als bei hochautomatisierten Abläufen. Das Geschirr abtrocknen, die Wäsche aufhängen, den Mantel anziehen. Bewusst verrichten heißt geistesgegenwärtig im Körper verankert sein, denn nur so lassen sich die einzelnen Handbewegungen behutsam und von innen heraus ausführen. Auch Missgeschicke werden seltener vorkommen. Das Risiko, dass Sie bei achtsamem Geschirrabtrocknen einen Teller fallen lassen, ist gering.Übergänge bewusst gestalten. Achten Sie auf die (kleinen) Übergänge. Das kann das Betreten und Verlassen eines Zimmers oder des Hauses sein, das Aufstehen und das Zubettgehen, der Übergang von einer Aktivität zur nächsten. Stehen oder sitzen Sie einen Moment lang einfach still und nehmen Sie Ihre Umgebung wahr. Dann lassen Sie sich das soeben beendete sowie das anstehende Geschehen durch den Kopf gehen, bevor Sie wieder aktiv werden. Auch diese Übung kann einen sehr praktischen Nutzen haben: Wenn ich zum Beispiel nach dem Betreten meiner Wohnung die Schlüssel achtsam ablege, vermeide ich später das leidige „Wo sind meine ver… Schlüssel?!!“Auf die Wahrnehmungen eines Sinnesorgans achten. Achten Sie eine Weile lang auf das – und nur das –, was Sie vor Augen haben. Oder schließen Sie die Augen und horchen bloß noch auf die ganze Bandbreite von Geräuschen und Klängen, die in verschiedener Tonhöhe und Lautstärke auf Sie zukommen. Achten Sie auch auf Unterschiede bei Ihren Reaktionen – generell wird das Schöne natürlich wesentlich mehr Freude und Lebenslust hervorrufen als das, was Sie als hässlich empfinden. Kauen Sie beim Essen langsam und kosten Sie den Geschmack in seiner ganzen Bandbreite aus. Halten Sie beim Kochen inne, schließen Sie die Augen und nehmen sie das Aroma oder die Aromen wahr. Auch im Freien können Sie sich ganz auf die Düfte einer Wiese oder eines Waldstücks konzentrieren. Oder legen Sie bei geschlossenen Augen die Fläche der einen Hand auf den Rücken der anderen und spüren Sie, wie sich die Berührung über einen gewissen Zeitraum hinweg anfühlt.HerzensqualitätenDas Herz öffnen. Richten Sie die Aufmerksamkeit auf das Herz mit dem Wunsch, es möge sich öffnen. Lenken Sie in Ihrer Vorstellung auch den Atem dorthin; solange, bis sich der Brustraum weicher und offener anfühlt. Und versuchen Sie, diese Offenheit auch bei der nächsten Begegnung mit einem Menschen (egal welchem) aufrecht zu erhalten.Eine Situation mit Dankbarkeit durchleuchten. Zum Beispiel beim Essen einer Scheibe Brot: Lassen Sie Dankbarkeit Ihren Körper durchfluten – Dankbarkeit gegenüber der Natur für das Wachsen des Getreides, gegenüber dem Bauern, dem Transporteur, dem Bäcker und der Verkäuferin, die es Ihnen (vermutlich für bescheidene Löhne) zusammen ermöglichen, dieses Brot zu essen.Einen Tag zum „Dankbarkeitstag“ erklären und für möglichst viel bewusst dankbar sein: für das warme Wasser der Dusche am Morgen, die Erfindung der Zahnbürste, das Funktionieren der Toilettenspülung usw. Als Folge vermindert sich das Gefühl von Isolation. Solche und ähnliche Übungen führen mit der Zeit zu heilsamen Denk-, Fühl- und Reflexmustern. Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn sie nach zehn Uhr morgens bereits vergessen haben, dass dies eigentlich ein Dankbarkeitstag wäre. Sie haben in der Regel noch genügend Tage vor sich.Langmut üben (Übung mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad). Jedes Mal, wenn Sie ungeplant warten müssen (der Computer fährt nur langsam hoch, Sie stehen im Stau, die Antwort auf eine wichtige E-Mail ist immer noch nicht da), sagen Sie bewusst „ja“ dazu. Nicht unbedingt mit Freude, aber doch mit der Einstellung, dies sei nützlicher Übungsstoff. Jeder bestandene Probefall wird Freude erzeugen.Vertrauen stärken. Wählen Sie einen vertrauensstärkenden Satz als Tagesmotto. Etwas, das Ihrem Verstand zusagt und Ihr Herz berührt und mit dem Sie Ihren Ängsten begegnen können. Ein Vorschlag: „Schaut euch die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Feld an, sie sorgen sich nicht.“ Rufen Sie sich die Worte bzw. die mit ihnen verbundenen Bilder im Lauf des Tages immer wieder in Erinnerung und lassen Sie sie ihre Wirkung entfalten.Neben den Übungen zur Achtsamkeit und zu den Herzensqualitäten möchte ich hier noch fünf weitere vorstellen. Die ersten beiden tragen dazu bei, unser Seelenleben zu entlasten und zu vereinfachen. Die dritte schärft unser Bewusstsein für das, was uns geistig verstopft, abstumpft oder zersetzt, sowie für das, was uns nährt und inspiriert. Die zwei letzten dienen der Vertiefung und Verfeinerung der Selbstkenntnis.Seelische HygieneManchmal sind wir aufgewühlt, und der innere Sturm will sich nicht beruhigen, selbst wenn äußerlich unser Leben in den gewohnten und unauffälligen Bahnen weiterverläuft. Wir sind emotional hin und her geworfen und dies setzt der seelischen Gesundheit zu. Folgende zwei Übungen können dazu beitragen, dass sich die unguten Winde legen.Reflexartige Urteile und Wertungen loslassen. Beobachten Sie zunächst, wie oft Sie unwillkürlich urteilen bzw. werten: Das ist schön, das ist hässlich. Das ist gut, das ist schlecht. Das ist nervig. Das ist unanständig. Seine Krawatte ist viel zu grell, dieser Haarschnitt steht ihr nicht. Manchmal ist ein Urteil notwendig, etwa wenn ein Kaufentscheid ansteht oder mich eine Sache direkt betrifft. Meistens ist es aber unnötig und frisst bloß psychische Energie. Und häufen sich die negativen Urteile, setzen sich allmählich eine negative Denkweise und schließlich ein negatives Lebensgefühl fest. Versuchen Sie deshalb, (ver)urteilende Reaktionen auf Wahrnehmungen als solche zu identifizieren, sobald sie hochkommen, und lassen Sie sie mit einem Lächeln los. Allmählich werden solche reflexartigen Urteile seltener und, mehr noch, sie fallen weniger heftig und langanhaltend aus. Als Standortbestimmung können Sie sich einer Herausforderung stellen: Einen ganzen Tag schaffen, ohne irgendeine Situation oder Person herunterzuputzen oder an ihr herumzunörgeln, egal ob vernehmbar oder lautlos (rein sachliche Analysen und Verbesserungsvorschläge zählen nicht dazu).Unsinniges Verlangen und Ablehnen aufgeben. Ich sitze vor dem Computer in einem kleinen Büro mit Blick auf eine Wand. Durchs Fenster sehe ich eine Mauer. Nichts würde ich lieber tun, als den Raum verlassen (Verlangen). Aber der Bericht muss bis am Abend fertig sein und weit ist er noch nicht gediehen. Der Drang nach Ausbruch ist meiner Kreativität und Produktivität nicht förderlich. Oder ich ärgere mich bei der Heimfahrt über eine Zugverspätung (Ablehnung). Die Ablehnung beschleunigt keinesfalls die Ankunft des Zugs. Anstatt nutzloses Verlangen bzw. Ablehnen durch stets wiederkehrende Gedanken anzufachen, üben wir uns besser darin, sie als solche zu identifizieren und beiseitezulegen. So sparen wir langfristig viel psychische Energie.Den Geist entgiftenEine wachsende Zahl von Menschen achtet auf die Quantität und Qualität ihrer Nahrung. Der Magen soll nicht überfüllt und dem Körper sollen keine Gifte zugeführt werden. Warum nicht ähnlich akribisch auf das achten, womit wir unseren Geist nähren? Wir haben stets eine Auswahl, wenn es darum geht, was und wie viel wir uns zu Gemüte führen. Es gibt toxische (abwertende, zynische, destruktiv-kritische) Inhalte, die wir über Bücher, Zeitungen, Fernsehprogramme, Online-Posts oder YouTube-Videos zu uns nehmen. Und es gibt triviale Inhalte, die unseren Geist vollstopfen. Aber es findet sich auch reichlich Herzerwärmendes, Einsichterweckendes und Inspirierendes. Ferner haben wir auch bei Treffen und Gesprächen eine Ermessensfreiheit, und zwar ob und, wenn sich diese nicht vermeiden lassen, wie wir an ihnen teilnehmen.Achten Sie eine Woche lang speziell auf den geistigen Stoff, den Sie sich zuführen. Auch darauf, dass es Ihnen nicht an gesunder geistiger Nahrung mangelt (gute Lektüre, bereichernde Gespräche, Musik, die das Herz berührt usw.). Und schauen Sie, was passiert.„Unterscheidung der Geister“Die folgende Übung erfordert ein gewisses Maß an Zeit und Sammlung. Eine Möglichkeit wäre die Ruhe vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen. Sie erfordert zudem Bereitschaft zur Öffnung und zu ehrlicher Innenschau. Blicken Sie zurück auf eine Aktivität oder ein Gespräch und stellen Sie sich die Frage: „Was trieb mich dabei an?“ bzw. „Was hielt mich zurück?“ Und versuchen Sie, innerhalb des oft diffusen Eintopfs an Gefühlen, der daraufhin hochkommt, genauer zu unterscheiden: Geschah dies auf Druck von außen, und hatte ich dabei eine Wahlfreiheit? Waren Gefallsucht oder Geltungsbedürfnis im Spiel? War es Angst? Eventuell Neid oder Rachsucht? Trieb mich Ehrgeiz an? Oder Begierde? Geschah es rein reaktiv, ausgelöst von den Worten und Taten eines anderen? Oder aus Gewohnheit? Handelte ich so, um mir die Langeweile mit etwas Ablenkung zu vertreiben? Hielt mich Rücksicht oder Angst zurück? War es der Wunsch nach Ruhe? War es die Neugier? Machte oder sagte ich es aus Anteilnahme? Aus Dankbarkeit? Aus Liebe? Oder sprudelte es aus Lebensfreude hervor? Was erhoffte ich mir, als ich so handelte oder sprach, wie ich es tat? In den allermeisten Fällen werden Sie feststellen, dass es sich beim Antrieb bzw. bei der Hemmnis um eine Mischung verschiedener Elemente in unterschiedlicher Stärke handelte.Die Übung lässt sich nicht nur rückblickend auf abgeschlossene Vorkommnisse, sondern auch bei laufenden durchführen. Egal, ob wir uns an einer Weggabelung befinden oder ob ein gewöhnlicher Schritt ansteht. Sie können jederzeit innehalten und sich fragen: „Was treibt mich gerade jetzt an?“ bzw. „Was hemmt mich gerade jetzt?“ Die Antriebe äußern sich nicht nur als Impulse, sie können auch sprachliche Gestalt annehmen. Wessen Stimme ist es, die mich anstachelt mit „Dem werde ich es zeigen“? Oder die mich lähmt, indem sie mir einflüstert, ich könne das sowieso nicht schaffen? Nicht nur werden Sie mit ein bisschen Übung Ihre Motivations- bzw. Demotivationselemente besser identifizieren lernen, Sie werden auch feststellen, dass die Analyse selbst den Motivationsmix verändert. Eine „objektive“, wirkungsfreie Beobachtung ist gar nicht möglich. Wie es auch gemäß Quantenphysik nicht möglich ist, ein Elementarteilchen zu beobachten, ohne es dabei zu beeinflussen.Nun kommt es zum eigentlichen Unterscheiden der Geister. Sind die „Früchte“ aus den identifizierten Antrieben, das heißt, die resultierenden Worte und Taten, gut (verbindend, herzerweiternd) oder ungut (isolierend, leidverursachend) für mich und mein Umfeld? Dass etwas mir selbst guttut, aber der Gemeinschaft, in der ich eingebunden bin, schadet, oder umgekehrt, ist – wenn man kurzfristige Folgen ausnimmt – eine Illusion. Frieden beispielsweise ist ein Gewinn für alle Seiten, während sich anhaltende Konflikte negativ auf alle Beteiligten auswirken. Und schließlich: Etwas erkennen ist das eine, etwas verändern das andere. Wir haben jedoch bereits festgestellt, dass es genügt, genau hinzuschauen; dann sind die Geister bzw. die Antriebe nicht mehr die Alleinherrscher in unserem inneren Reich. Wir können mithilfe der Unterscheidung auf ihre Zusammensetzung und Gewichtung einwirken. Vor allem aber können wir sicherstellen, dass ihre Anwesenheit allein uns nicht eine bestimmte Handlungsweise aufzwingt.TagesrückblickDiese Übung ist der vorhergehenden ähnlich, aber der Fokus richtet sich hier nicht auf ein Ereignis und seine Quellen, sondern auf den Ablauf eines ganzen Tages und seine Früchte. Kommen Sie nochmals zur Ruhe, bevor Sie ins Bett gehen oder bevor Sie einschlafen. Und betrachten Sie dann die Stationen des abgelaufenen Tages wohlwollend, aber mit unverstelltem Blick. Was würden Sie im Nachhinein als geglückt, was als weniger geglückt bezeichnen? Was hätten Sie rückblickend anders gemacht (ohne Selbstvorwurf)? Was lässt sich vielleicht am nächsten Tag noch in Ordnung bringen? Was lässt sich daraus lernen? Am Ende legen Sie die Tageslast behutsam in ein imaginäres Gabengefäß ab und lassen sie somit los.Für alle Übungen gilt:Probieren Sie verschiedene aus und bleiben Sie bei denen, die Ihnen zusagen.Lenken Sie als Stütze die Aufmerksamkeit immer wieder auf den Atem.Beobachten Sie die innere Wirkung. Achten Sie auf mögliche Widerstände und auf den Wandel, der stattfindet. Und auch darauf, wie lange er anhält.Je häufiger die Übungen durchgeführt werden, desto wirksamer und nachhaltiger sind sie. Lassen Sie sich von „Misserfolgen“ nicht entmutigen. Wenn wir gehen lernen, fallen wir zunächst hin. Dasselbe passiert, wenn wir Fahrradfahren lernen. Wenn wir eine Fremdsprache oder ein Musikinstrument lernen, machen wir wiederholt Fehler. Alles, was das Leben bereichert und uns voranbringt, beinhaltet Misserfolge. Bleiben wir dran.Es sind hier zahlreiche Übungen vorgestellt worden. Vielleicht wirkt die schiere Vielfalt etwas abschreckend. Es könnte auch sein, dass Ihnen alles während des Lesens gut und recht vorkommt und Sie dann zur Tagesordnung übergehen, ohne dass sich an dieser etwas ändert. Es genügt aber, dass Sie sich nur eine der aufgeführten Übungen zu Herzen nehmen und konsequent zu eigen machen, denn sie stammen alle aus demselben Geist. Die eine Übung wird Ihnen neue Türen öffnen.Die Übungen sind unspektakulär, aber sie geben dem Alltag eine Tiefendimension, die wir, wenn wir ehrlich sind, oft vermissen. Es handelt sich bei ihnen um unscheinbare kleine und wiederholte Schritte, die in kein Heldenepos eingehen werden und doch Helden aus uns machen können.2.3.4 Früchte der MeditationWarum im Gefängnis bleiben, wenn die Tür weit offen steht? Lass das Dickicht des angsterfüllten Denkens hinter dir.(Dschalaluddin Rumi, 1207–1273)45Dass eine anhaltende Meditationspraxis positive Auswirkungen auf unser Alltagsbefinden und damit auch unser Alltagsleben zeitigt, ist heutzutage weitgehend unbestritten. Werden diese Auswirkungen erörtert, darf jedoch etwas nicht fehlen: die Unterscheidung zwischen einem temporär und einem dauerhaft veränderten Zustand. Unter Zustand verstehe ich hier unsere Haltung und Lebenseinstellung als wichtige Gestaltgeber unserer Alltagspraxis. Vielleicht sind wir nach einer erfüllenden Meditationssitzung für die nächsten Stunden behutsamer in unseren Handlungen und rücksichtsvoller unseren Mitmenschen gegenüber. Dann passiert etwas Unerwartetes, wir geraten unter Druck, und die positive Wirkung ist dahin. Die alten Denk-, Sprech- und Handlungsmuster herrschen wieder vor. In diesem Fall handelte es sich bei der „Frucht“ der Meditation um eine vergängliche. Je besser es uns gelingt, achtsam, geistesgegenwärtig und liebevoll zu agieren, egal was passiert, desto mehr sind aus potenziellen Fähigkeiten dauerhafte Eigenschaften geworden. Das heißt nicht, dass die temporären Verbesserungen wertlos sind. Zumeist ist es die Summe solcher kleinen Fortschritte, die bei anhaltender Übung zu einem nachhaltigen Wandel führen.Die Reichhaltigkeit der positiven Effekte kam bereits in den vorhergehenden Kapiteln zur Sprache. Viele dieser heilsamen Auswirkungen der Meditation sind inzwischen in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen (und die Zahl solcher Studien steigt gegenwärtig von Jahr zu Jahr exponentiell an). Zu all den hier erwähnten Effekten gibt es zudem Erfahrungsberichte aus mehreren Jahrtausenden. Und schließlich bin ich überzeugt, dass viele von Ihnen eigene Erfahrungen aufweisen, die Ihnen als Fundament für die weitere Praxis dienen. Es folgt nun eine Zusammenschau. Sie soll nicht bloß als eine weitere theoretische Abhandlung, sondern insbesondere auch als Motivation dienen. Sie als Leserin oder Leser sind angehalten, das Buch zwischendurch zugunsten der Praxis zur Seite zu legen, und ich bin angehalten, das, worüber ich nachdenke und schreibe, vermehrt auch in die Tat umzusetzen.Eine konsequente Meditationspraxis, die sich aus regelmäßigen formellen Einheiten und meditativen Alltagsübungen zusammensetzt, wird allmählich folgende Früchte aufweisen:Geringere StressanfälligkeitDie Amygdala gehört zum limbischen System des Gehirns, das eine zentrale Schaltstelle im Bereich Erinnerungen und Emotionen sowie unsere Reaktionen darauf bildet. Sie ist über ein dichtes Netzwerk an Neuronen mit anderen Hirnteilen verbunden. Insbesondere bei angstauslösenden Situationen wird die Amygdala aktiv und löst sogenannte Kampf- oder Fluchtreaktionen aus. Dazu gehören die Ausschüttung von Adrenalin und Cortisol („Stresshormone“), Steigerung der Herzfrequenz und stärkere Durchblutung der Muskeln. Außerdem wird die Verbindung zum präfrontalen Cortex, wo rationale Entscheidungen getroffen werden, abgeschwächt. Denn wenn wir in akuter Lebensgefahr sind, müssen wir blitzschnell reagieren, und dafür erweisen sich Nachdenken und Abwägen als hinderlich. Bloß kann die Amygdala nicht unterscheiden zwischen einem auf uns zurasenden Auto und einem bevorstehenden Gespräch mit dem Chef, das uns Angst macht. Im ersten Fall ist Nachdenken tödlich, im zweiten hingegen sehr wohl angebracht.Wie bereits im Kapitel über Körper und Meditation erwähnt, haben Studien am Gehirn nachgewiesen, dass bei Menschen mit signifikanter Meditationserfahrung in einer (nicht lebensbedrohlichen) Stresssituation die Amygdala-Reaktivität im Vergleich zu Nicht-Meditierenden geringer ausfällt und somit weniger Stresshormone ausgeschüttet werden, und dass gleichzeitig die Verbindungssignale zum präfrontalen Cortex nicht verringert werden.46 Dies bedeutet, dass eine langfristige Meditationspraxis uns in Stresssituationen weniger anfällig für primär emotional gesteuerte Reaktionen werden lässt. Und dass wir tendenziell rascher zu einem Zustand der Ruhe und Ausgeglichenheit zurückfinden.Einsicht in die Natur unseres Denkens und FühlensWährend der Meditation machen unser Sprechen und Tun eine Pause und auch die Zahl der Außenanregungen ist nahe bei null. Übrig bleibt nur noch das, was innen abläuft. Die Meditation gibt uns also den Freiraum, ungestört unser Innenleben zu beobachten. Wir stellen bei dieser Innenschau dann vielleicht mit Erstaunen fest, erstens, dass wir im Wachzustand pausenlos am Denken sind – mal klarer, mal diffuser – und zweitens, was wir überhaupt so denken. Und was für Emotionen wir dadurch erzeugen. Außerdem können wir beobachten, wie die Emotionen von unserer aktuellen Stimmung mitgefärbt werden und wie sie die Stimmung wiederum modifizieren. Wir merken dann auch, wie repetitiv unser Denken ist. Einen Großteil von dem, was ich heute denke, habe ich schon gestern und letzte Woche gedacht. Nicht nur das: Mit trainiertem Blick erkennen wir auch jene Begierden und Aversionen, die unsere Alltagsreaktionen so stark mitprägen. Ferner können während einer Meditation auch Erinnerungen hochkommen, die uns klarer erkennen lassen, wie wir zu dem geworden sind, was wir zurzeit sind. Insgesamt führt die Innenschau also zu wachsender Selbstkenntnis.Um positive Auswirkungen zu zeitigen, sollte eine solche meditative Innenschau in einer Haltung von wohlwollender Akzeptanz dessen, was gerade ist, eingebettet sein. Denn wenn wir uns selbst verurteilen bei der Erkenntnis von wenig Schmeichelhaftem (das wir unweigerlich vorfinden werden), verschließen wir uns und werden unempfänglich. Und dann kann für den Moment zumindest kein Impuls durchdringen, der eine Entwicklung zum Besseren ermöglichen würde.Bei ausreichender Übung lässt sich die in der Meditation herangebildete Fähigkeit der Selbstbeobachtung auch im Alltag aktivieren. Will ich etwas, beispielsweise ein neues Paar Schuhe (obwohl ich schon Dutzende besitze), einen Blick auf meine Facebook-Seite oder meine bevorzugte Nachrichten-App (obwohl ich schon vor einer Stunde die neusten Posts bzw. Updates gelesen habe) oder ein zweites Glas Wein (obwohl ich mit dem Auto nach Hause fahren werde), bin ich in der Lage, dieses Habenwollen zu erkennen, bevor ich zur Tat schreite. Vielleicht erfasse ich auch dessen Intensitätsgrad auf der Skala von Wunsch über Verlangen bis hin zu Sucht. Selbstbeobachtung hilft mir auch bei meinen Anflügen von Aversion. Ich erkenne diese, bevor ich mich zu einer unguten Reaktion hinreißen lasse.Auf diese Art wird unser Verhalten allmählich weniger automatisch, reaktiv, gewohnheits- und triebgesteuert. Vertiefte Selbstkenntnis leitet einen Wandel zu bewussterem Agieren ein.Mein Bruder Jean ist wieder einmal im Land. Wir treffen uns in einem Kaffeehaus.„Wie war die Zen-Meditationswoche?“, frage ich ihn.„Gut.“ Jean war noch nie ein Mensch der vielen Worte. Doch diesmal fährt er fort: „Die Kursleiterin hat ein interessantes Bild verwendet. Bei der Meditation ist es wie … wie, wenn du am Ufer eines Flusses sitzt. Und du siehst Boote vorbeifahren.“ Kurze Pause. „In diesen Booten sind deine Gedanken und Emotionen, die beim Sitzen in der Stille in dir hochkommen. Aber statt aufzuspringen, also in die Boote hineinzuspringen und die Gedankengänge weiterzuspinnen … bleibst du einfach am Ufer sitzen und schaust zu, wie die Boote, also die Gedanken, vorbeiziehen.“ Ich nicke, um ihn zum Fortfahren zu ermuntern. „Dann merkst du: Ich bin nicht meine Gedanken und Emotionen. Sie sind kein beständiger Teil meiner Selbst. Sie kommen und gehen … Wenn ich sie gehen lasse, ohne dass sie mich von meinem Beobachterposten weglocken …“Ich will gerade das Bild kommentieren, als ich merke, dass Jean noch nicht fertig ist.„Und weißt du was? Während einer Sitzung in der Stille sah ich so ein Boot vorbeifahren und darin lag etwas. Darin lag … meine Schwermut und … meine Schwerfälligkeit … wie eine Last in diesem Boot. Als ich sie so aus der Distanz sah, da konnte ich sie loslassen. Als Problem loslassen, meine ich. Oder anders gesagt, ich kann mich jetzt ein bisschen mehr akzeptieren so, wie ich bin.“Nochmals nicke ich und denke: Das ist das erste Mal, dass Jean so viel von sich preisgibt. Wenigstens mir gegenüber.Dann schaut er hoch und fragt: „Wie geht es Mira?“Ich schüttle den Kopf. „Nicht wirklich besser. Sie hat wieder einen Psychologen sausen lassen. Es helfe ihr nicht, einfach endlos über ihre Probleme zu reden, sagt sie. Und in eine Klinik will sie sowieso nicht. Sie sagt, wenn sie einmal dort lande, komme sie nie mehr raus. Ich weiß nicht … Übrigens, als ich kürzlich Mutter besucht und mich im Haus wieder einmal umgesehen habe, fand ich das Banner, das Mira vor Jahren mal kurz vor Weihnachten über unseren Hauseingang aufgehängt hatte. Mit Tannenzweigen verziert. Weißt du noch? Manche Besucher fanden den Spruch etwas eigenartig, aber Mutter ließ ihn noch monatelang dort hängen.“„Ja, ich erinnere mich … Wie lautete der Spruch schon wieder? Die Kraft, die …“„Dieselbe Kraft, die aus Staub Schmetterlinge und aus Urlauten Poesie heranwachsen ließ, treibt uns an auf dem Weg zur Weisheit.“Jean schmunzelt. „Ja, genau. Irgendwie stark, nicht wahr? Weißt du eigentlich, dass ich früher immer ein bisschen neidisch auf Mira war?“„Ist mir nie aufgefallen. Wieso denn?“„Sie hatte all die Eigenschaften, die ich nicht hatte. Sie war flink, vif, kam bei allen gut an. Und jetzt das. Ausgerechnet sie. Da bin ich plötzlich mit … mit meiner Art zufrieden. Schwermütig bin ich manchmal, ja. Aber nie richtig depressiv.“„So gesehen hat sogar die Depression von Mira etwas Gutes. Klingt pervers, nicht wahr?“„Hmmm … Auf die Art habe ich es noch nie betrachtet. Aber ja, irgendwie hast du recht. Mensch, ich hoffe einfach, dass sie über diesen Scheiß hinwegkommt.“Größere Achtsamkeit beim Tun und Lassen, Sprechen und SchweigenDas Thema „Achtsamkeit“ wurde bereits in einem eigenen Kapitel beleuchtet. Inzwischen als Modewort in aller Munde, läuft dieser Begriff schuldlos Gefahr, in die Kategorie „Banalitäten und Plattitüden“ abzugleiten. Dabei gibt es kaum einen Gewinn aus der Meditation, der sich im Alltag direkter und unkomplizierter umsetzen lässt. Denken Sie einfach an all den Ärger, den Sie sich selbst und anderen mit Unachtsamkeiten aller Art über die Jahre eingebrockt haben (vergessene Regenschirme, verlegte Schlüssel, verpasste Termine oder zerbrochene Tassen, um eher harmlose Beispiele zu wählen). Achtsamkeit ist verbunden mit einer angemessenen Entschleunigung. Führen wir die Bewegungen beim Sortieren von Dokumenten ein bisschen langsamer als üblich aus, verringert sich das Risiko, dass wir etwas falsch einordnen, um ein Vielfaches. Sie können nun Ihren Alltag in Gedanken durchgehen und feststellen, wo überall durch hastiges Tun und Sprechen Widerwärtigkeiten drohen.Achtsamkeit bedeutet Präsenz im Hier und Jetzt, und zwar mit dem Herzen und mit den Gedanken. Wir sind aber oft mit 80, 90 oder 95 Prozent unseres Bewusstseins nicht anwesend, sondern bei Phänomenen, die vergangen sind (aber nie genau so, wie wir sie in Erinnerung haben) oder die es genau so, wie wir sie uns vorstellen, auch nie geben wird (Zukunftsprojektionen und Fantasiererei). Real im Vollsinn des Wortes ist nur das, was im Jetzt da ist. Außerdem: Das Jetzt ist das Einzige, was nie zu Ende geht. Wach und präsent im Jetzt zu sein, heißt demzufolge, in größerer Fülle an der Ewigkeit teilzuhaben (es lohnt sich, bei diesen Sätzen etwas zu verweilen).Entfaltung der HerzensqualitätenZu den Qualitäten, die hier gemeint sind, zählen – Sie erinnern sich vielleicht – Mitgefühl, die Fähigkeit zu vergeben, Mut, Güte, Langmut, Großzügigkeit, Demut, Wahrhaftigkeit, Treue und Dankbarkeit. In ihren unendlich vielfältigen konkreten Ausformungen im Alltag lassen sie uns selbst und andere um uns herum friedlicher und freudvoller werden. Verschiedene Arten, diese Qualitäten einzuüben, wurden zuvor in Kapitel 2.3.3 vorgestellt. Im Kapitel über das individuelle Reifen wird ihre zentrale Rolle im Reifungsprozess beleuchtet.Paul Ekman (geb. 1934), Professor für Psychologie und eine der anerkanntesten Koryphäen auf dem Gebiet der Emotionen, führte über Jahre hinweg immer wieder folgendes Experiment durch: Auf einem Video werden Probanden in einer sehr raschen Sequenz Gesichter gezeigt, die folgende Emotionen ausdrücken: Wut, Angst, Ekel, Überraschung, Trauer oder Freude. Das jeweilige Gesicht leuchtet jedoch nur für 1/30 einer Sekunde auf. Viel zu wenig also für die Einschaltung des Verstandes. Das Erkennen der Emotionslage beim Gegenüber geschieht in diesem Fall also nur über das Einfühlungsvermögen. Zwischendurch wird stets ein Gesicht mit neutralem Ausdruck gezeigt. Das Ergebnis der Versuchsreihe: Mit Abstand am besten beim Identifizieren der Emotionen schnitten zwei Probanden mit langjähriger Meditationserfahrung ab – besser als Tausende von anderen, die keine Erfahrung in Meditation aufwiesen.47Studien dieser Art belegen, was als Erfahrungswert längst bekannt ist: Eine anhaltende Meditationspraxis trägt wesentlich zur Stärkung unserer Herzensqualitäten (mit Einfühlungsvermögen als Fundament) bei, was sowohl unserem Wohlbefinden als auch dem Reifeprozess förderlich ist. Ferner lässt sich beobachten, dass die Eigenschaften, die zu den Herzensqualitäten zählen, aufs Engste miteinander verbunden sind. Entwickle ich ein ausgeprägtes Mitgefühl meinen Mitmenschen gegenüber, wird es mir auch leichter fallen, Großzügigkeit an den Tag zu legen. Es wurde schon gesagt, dass es sich im Grunde genommen um verschiedene Ausprägungen der Liebe handelt. Man könnte es aber auch so formulieren: Was all die Herzensqualitäten verbindet ist – der gewählte Name verrät es – das Herz. Je öfter es uns gelingt, das Bewusstsein in die Herzregion zu führen und den Alltag mit offenem und wachem Herzen zu gestalten, desto klarer werden sich die Früchte der Übungspraxis zeigen.Bewusstere und wohlwollendere Verbindung mit dem KörperArbeiten wir vor allem körperlich, besteht die Gefahr, dass wir unseren Körper aus Unachtsamkeit überstrapazieren oder ihm auf andere Weise Schaden zufügen. Arbeiten wir vor allem geistig, besteht die Gefahr, dass wir über lange Phasen hinweg vergessen, dass wir einen Körper haben. In beiden Fällen nehmen wir seine Signale nicht wahr, schätzen ihn nicht und gehen zu wenig behutsam mit ihm um. Dies erstreckt sich auch auf die Nahrung, die wir ihm zuführen.Meditation verstärkt das Bewusstsein für Körperempfindungen. Wenn wir uns daran gewöhnt haben, im Rahmen der Meditation verspannte Stellen bewusst zu entspannen (etwa die Mund-Kiefer-Partie, den Nacken-Schulter-Bereich sowie die Handgelenke), wird uns auch im Alltag eher in den Sinn kommen, uns zwischendurch zu entspannen. Insgesamt schärft und verfeinert die Meditationspraxis unser Gespür für das, was dem Körper schadet, und das, was ihm guttut, da wir während einer Meditationssitzung – nicht zuletzt aufgrund des drastisch reduzierten Wahrnehmungsangebots – unser Sensorium für die Botschaften des Körpers schärfen.Überprüfen Sie es bei sich selbst: Nachdem Sie den Körper bewusst entspannt haben, verweilen Sie mit der Aufmerksamkeit ein wenig im Körper und spüren sie dabei den Atem. Die Chance ist groß, dass Sie sich allmählich ein wenig ruhiger und wohler fühlen werden. Sie sind sozusagen zu Hause bei sich selbst angekommen.Und wenn wir schließlich bedenken, dass wir ausnahmslos alles, was wir vom ersten bis zum letzten Tag unseres Daseins erleben, durch den Körper erfahren, sollte das Grund genug sein, ihm trotz aller Gebrechen und Unvollkommenheiten ein Grundgefühl der Dankbarkeit entgegenzubringen. Er wird es uns entlohnen.Gelassenheit – die Fähigkeit, Situationen und Vorgänge aus einer gewissen Distanz zu betrachtenEine lebenserfahrene Person sitzt auf einer Parkbank und schaut einer Gruppe von Kindern beim Spielen zu. Sie beobachtet das Geschrei und Lachen der Kinder, ihre Streitigkeiten und Rivalitäten, wie sich Grüppchen bilden und wieder auflösen und wie sie alle ihre Aktivitäten unendlich ernst nehmen. All dies ruft bei ihr ein Lächeln hervor. Wir sind diese Kinder. Idealerweise sind wir aber auch die beobachtende Person.Je größer der innere Abstand, desto geringer ist unsere Identifikation mit dem, was gerade in uns abläuft. Statt „ich bin wütend“ beschreibt sich der Zustand dann etwa so: „Es ist eine Wut in mir“. Die Wut ist in diesem Moment real, sie wird weder verleugnet noch verdrängt, aber sie bildet nicht unsere Identität. Wir sind mehr und wir sind dauerhafter als die Wut, die kommt und vergeht.Bis ein solches „Auf-Abstand-Gehen“ des inneren Beobachters sogar in hektischen, stressvollen Situationen glückt, das heißt, bis sich eine Gelassenheit nicht nur als Zwischenzustand, sondern als Default-Modus herausbildet, braucht es viel Übung. Das Aussteigen aus der Betriebsamkeit sowie die Stille, die den Rahmen der Meditationspraxis ausmachen, bilden dafür ein ideales Umfeld.Aus dem Druck des Tun-Modus in die Beziehungswelt des Sein-ModusMeditation wirkt befreiend. Befreiend wovon? Unter anderem vom tief in unserer gesellschaftlichen DNA eingeprägten Zwang, die ganze Zeit etwas zu tun, das als nützlich erachtet wird. Macht uns dieses Nützlichkeitsdenken glücklich? Nein, es erzeugt eher einen Dauerdruck und unter Druck bleibt kein Freiraum für Glück. Ein Kind kann endlos lang einen Stein in die Hand nehmen, ihn drehen und abtasten und wieder ablegen. Eingebettet in fast tatenlosem Sein – und zwar Sein in Beziehung, in diesem Fall mit einem Stein – ist das Kind dabei glücklich.Auf den ersten Blick ist es paradox: In der Meditation kapseln wir uns scheinbar ab, indem wir uns aus dem Räderwerk der Alltagsverrichtungen lösen. Gerade dieses Räderwerk sollte nach gängiger Vorstellung Verbindungen herstellen, aber sie erweisen sich doch, wenn überhaupt, als oberflächlich. Tief im Innern fühlen wir uns dabei oft abgetrennt und allein. In der Meditation gibt es keine äußerlich registrierbare Verbindung. Doch indem wir einfach da sind, lassen wir auf einer tieferen Ebene unsere Beziehung mit allem, was an diesem Sein teilhat – also mit allem, was ist – wirksam werden und werden uns mindestens ansatzweise dieses Beziehungsreichtums bewusst.Versuchen möchte ich hier, etwas anzudeuten, das mit Worten leichter zu verdunkeln als zu erhellen ist: Reines Sein (dem wir uns in der Meditation annähern) ist gleichzeitig reines In-Beziehung-Sein. Je länger wir uns in einem egogetriebenen Tun-Modus befinden (was bei den meisten von uns während des größten Teils des Tages der Fall zu sein scheint), desto mehr blockieren wir dieses natürliche Beziehungsnetz zu allem und allen um uns herum. Wir bauen und unterhalten Dämme, die den natürlichen Fluss in diesem Verbindungsnetzwerk zu einem Gerinnsel abschwächen oder ganz unterbinden. Dies wird uns gemeldet durch ein schmerzliches Gefühl der Stagnation und Isolation.Wo oder wie werden diese potenziell stets vorhandenen Beziehungen, wie wir sie in der Meditation so oft spüren, aktualisiert? Sodass die Illusion der Trennung zwischen mir und den anderen, zwischen mir und der Welt überwunden wird? Vielfach geschieht das in Momenten und Geschehnissen, die als nebensächlich gelten – eben weil sie keinen messbaren Nutzen erzeugen. Ein paar Beispiele: Wenn Menschen aus vollem Herzen gemeinsam lachen, gemeinsam singen, gemeinsam musizieren, gemeinsam spielen, gemeinsam beten oder gemeinsam meditieren. Wenn sich Menschen derart öffnen, dass sie einander mit wenigen oder gar keinen Worten verstehen und sie diesem intuitiven Verständnis trauen. Aber auch, wenn ich eine Blume (zum Beispiel eine Sonnenblume) eingehend betrachte und auf mich wirken lasse. Dann wird sie von einem Massenphänomen (eine unter Millionen ihrer Art, die alle gemäß Standardvorstellungen gleich sind) zu einem Unikum, zu dem ich eine Beziehung aktiviert habe. Wie ich durch ihre Präsenz bewegt werde, wird sie durch meine sie wahrnehmende Gegenwart beeinflusst, auch wenn ich nie wissen werde, auf welche Art. Hieraufhin ist das Leben angelegt. Solche Momente sind derart voller Sinn, dass sich die Frage nach Sinn nicht mehr stellt.Erst wenn wir es schaffen, die in Phasen des Innehaltens gespürten oder erahnten Beziehungen im Alltag zu konkretisieren und auszuleben, werden wir nutzbringend im besten und nachhaltigsten Sinn sein.Das Ertragen und Schätzen von StilleDer geniale Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) schrieb einmal: „Nichts ist für den Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein.“48 Die Unruhe bzw. Rastlosigkeit, von der Pascal meinte, sie sei gleichzeitig unser natürlicher Zustand und die Ursache von allem Elend, macht sich insbesondere zu Beginn einer Meditationspraxis bemerkbar, wenn wir einer ungewohnten, andauernden Stille ausgesetzt sind. Und doch bringt uns das Üben früher oder später so weit: Wir sind dann in der Lage, völlige Ruhe zu ertragen. Mehr noch: Wir lernen, die Stille als wohltuend zu schätzen, und suchen sie vermehrt auch im Alltag. Sie bildet ferner den Nährboden nicht nur für das Pflegen von Beziehungen (wie oben angedeutet), sondern auch (wie in den kommenden zwei Punkten ausgeführt) für Wahrheitserkennung und intuitive Einsichten.Reinigung und Verfeinern des Sensoriums für StimmigkeitZweifellos haben Sie auch schon Momente erlebt, in denen Sie ein äußerst starkes Gefühl von „Das stimmt!“ oder „Ja, genau so ist es!“ überkam. Die Seele jubelt, heißt es dann. Die Seele jubelt aber kaum, wenn wir unter großem Druck stehen, von nervöser Rastlosigkeit umgetrieben werden oder starke negative Emotionen durchleben. Dann ist jenes Sensorium für Stimmigkeit, das uns erlaubt, jenseits von rein logischen Überlegungen zwischen wahr und unwahr, richtig und falsch oder gut und ungut zu unterscheiden, blockiert oder verunreinigt. Meditation hilft bei der Lösung von Blockaden und der Reinigung. Der Ertrag, den wir im Alltag ernten, ist in Zeiten von Fake-News und immer ausgeklügelteren Werbeversprechungen besonders erstrebenswert.Stärkung des Sensoriums für intuitive Einsichten sowie geahntes UrwissenDer bereits erwähnte Wissenschaftler Claus Otto Scharmer (geb. 1961) ist vor allem bekannt für seine „Theorie U“, in der er der Intuition bei der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle zuweist. Er schlägt auch spezifische Übungsformen hierfür vor, die er „Presencing“ nennt. Man unterbricht das momentane Tun und lässt – mit einer Geste der Hingabe – alle eigenen Vorstellungen und Wünsche los, um so einen erwartungsfreien und doch empfangsbereiten Innenraum zu schaffen. „Suche einen Raum der Stille, und lass dein inneres Wissen entstehen“49, empfiehlt er. Also eigentlich eine Mini-Meditation, die speziell der willentlich nicht herbeizuführenden Intuition einen Empfangsraum bereitet.Stärkung der Empfänglichkeit für das, was unser limitiertes Ich übersteigtIn der Stille deutet sich früher oder später ein MEHR an – etwas, das sich mit Alltagsbegriffen und Alltagskategorien nicht fassen lässt. Auch wissenschaftlich ist ihm nicht beizukommen. Man spricht dann vom Heiligen oder Transzendenten, vom Göttlichen oder von Gott. Worte sind aber bloß Platzhalter für – oder Anrufe an – das, was alle Sprach- und Definitionsmöglichkeiten übersteigt. Durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch wurde und wird dieses MEHR immer wieder angedeutet bzw. bruchstückhaft zum Ausdruck gebracht, sei es in heiligen Schriften, in theologischen und philosophischen Abhandlungen, in Mythen, Geschichten und Poesie oder in Musik, in Tanz und darstellender Kunst.Direkte und intensive Erfahrungen des Heiligen werden gewöhnlich als mystische Erlebnisse bezeichnet. Der Psychologe Abraham Maslow (1908–1970) verwendete dafür den Begriff „Gipfelerfahrung“ und vertrat die Ansicht, dass solche Erlebnisse nicht bloß ein paar wenigen erlauchten Personen vorbehalten seien. Wie überall sind die Unterschiede graduell: Viele von uns erleben Momente auf dem „Gipfel“, um dann wieder in niederere Gefilde zurückzugleiten. Die als Mystikerinnen und Mystiker wirksam werdenden Menschen sind nach ihren Erfahrungen weitgehend auf der „Gipfelstufe“ innerlich zu Hause. Allen gemeinsam ist jedoch das Ringen um passende Worte, mit denen sich das Erfahrene beschreiben ließe. Dies erklärt zum Teil die weitverbreitete Zurückhaltung beim Berichten über solche Erlebnisse.Was aber steht hinter derartigen Gipfelerlebnissen bzw. mystischen Erfahrungen? Was eröffnet sich da der erfahrenden Person? Was bedeutet dieses hier angesprochene MEHR? Und was hat all dies mit dem menschlichen Entwicklungsweg zu größerer Reife zu tun? Diesen Fragen wird in den nächsten Kapiteln nachgegangen.Fassen wir zusammen: Abrupte und radikale Transformationen, wie etwa bei Franz von Assisi, finden höchst selten statt (und selbst die haben wohl eine innere Vorgeschichte). Meditation führt eher zu einer Schwerpunktverschiebung. Dabei verändert sich allmählich die Gewichtung zwischen dem Ausgangs- und dem Zielbereich. Letzterer wird zentraler und einflussreicher. Es ist eine Verlagerungvon der Welt des Lärms zur Welt der Stille;von der Welt der Hektik und Anspannung zur Welt der Langsamkeit und Entspannung;von der Welt des achtlosen Tuns und Konsumierens zur Welt des achtsamen Gestaltens;von der Welt der Ich-Besessenheit zur Welt des unbegrenzten Mitgefühls;von der Welt der Wirrnis zur Welt der Klarheit und Einfachheit;von der Enge des Nur-Immanenten zur Weite des Auch-Transzendenten.