Kitabı oku: «Reifer werden», sayfa 3

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35 Deshalb werden etwa bei Zen-Retraites neben den vielen Stunden Meditation stets auch eine Phase von praktischer Mitarbeit im Haushalt, ein Vortrag, ein Einzelgespräch mit der Leitperson sowie genügend Zeit für Spaziergänge in das Tagesprogramm eingebaut.

3 KRAFTQUELLE
Im Frühjahr 1991, kurz nach dem Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa, fuhr ich mit einem Freund durch den westlichen Teil Rumäniens. Es bot sich das Bild einer lieblichen, hügelreichen Landschaft mit vielen blühenden Obstbäumen. Etwas fiel uns jedoch speziell auf: die zahlreichen Dörfer, in denen zwar die Fassaden vieler Häuser am Bröckeln und die Straßen abseits der Hauptverbindungen meist ungeteert waren, die aber eine strahlende, frisch gebaute oder renovierte Kirche aufwiesen. Manche dieser Kirchen waren von einer Größe, die uns im Vergleich zur Anzahl der Häuser in der Ortschaft etwas übertrieben vorkam. Später erfuhren wir, dass sich gleich nach dem Sturz der Ceausescu-Diktatur und damit dem Ende des Religionsverbots im ganzen Land Freiwillige darangemacht hatten, „ihre“ örtliche Kirche wieder zu erstellen oder ihr zu altem Glanz zu verhelfen. Dennoch bekam ich nicht den Eindruck, die Rumänen seien im Durchschnitt religiöser als andere Nationen. Die freiwillige Bautätigkeit war vielmehr Ausdruck eines Urbedürfnisses, nämlich des Urbedürfnisses nach einem sichtbaren Zeichen des Sakralen. Eine Kirche ist ein solches weitherum sichtbares Symbol; ein sakraler Ort, auf den man Wert legt, selbst wenn man ihn in der Folge nur selten aufsucht.
Aus seinen psychoanalytischen Erfahrungen mit Hunderten von Patienten zog C.G. Jung folgenden Schluss: „Unter allen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits 35, ist nicht ein Einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat.“50
50 C.G. Jung, Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 362.
Wenn es nicht um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion geht, worum geht es dann? Es geht um die Urfragen der Menschheit: Was sind Ursprung und Ziel nicht nur meines eigenen Lebens, sondern auch von allem, was existiert? Wo finde ich einen dauerhaften Lebenssinn? Woran kann ich mich immer halten, egal in welcher Situation? Was trägt mich? Woraus beziehe ich Kraft? Und was ist dieses „Mehr“, von dem wir in Zusammenhang mit den Meditationserfahrungen gesprochen haben? In allen Kulturen und zu allen Zeiten war es der Bereich der Religion, in dem die Menschen, wenn nicht immer Antworten auf all diese Fragen, so doch Hinweise und Stärkung fanden.
In seinem zum Klassiker gewordenen Hauptwerk „Das Heilige“ unterscheidet der Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869–1937) zwischen zwei Grundtypen der religiösen Erfahrung: dem „Mysterium tremendum“ und dem „Mysterium fascinans“. Bei Ersterem handelt es sich um Ehrfurcht bis hin zum Erschauern (nicht Angst; das ist eine krankhafte, wenn auch zu gewissen Zeiten geradezu geförderte Form der Religiosität). Erschauern auch deshalb, weil die Erfahrung – dies ist auch ein Echtheitskriterium – mit einem Anspruch bezüglich unserer Lebensgestaltung verbunden ist.
Der zweite Begriff bezeichnet das Anziehende oder auch das Beglückende – und das Schmerzliche, wenn die Verbindung verloren scheint.
Derartige numinose Erfahrungen sind nicht selten an Naturerlebnisse gekoppelt. Folgender Bericht eines englischen Jugendlichen veranschaulicht beide der erwähnten Grundtypen: „Ich lebe in Essex am Rande eines weit ausgedehnten Salzmarschgebietes. In den Herbstmonaten sitze ich abends oft auf der Strandmauer und blicke über das Marschland. Wenn ich in der Schule bin, sehne ich mich nach dieser wilden Einsamkeit und dem Gefühl von Freiheit und kraftvoller Natur, das es vermittelt. Aber es hat auch etwas schrecklich Einsames, wenn es dunkel wird und die Flut kommt, sodass ich mich auf den Weg mache. Aber immer wieder zieht es mich dorthin zurück.“51
51 Zit. in Rupert Sheldrake, Die Wiederentdeckung der Spiritualität, S. 97.
Eine derartige Sehnsucht zusammen mit der Ehrfurcht vor etwas, das den Menschen übersteigt, bildet wohl das typischste Grundmuster spiritueller Erfahrungen. „Spirituell“ ist hier passender als „religiös“, denn der Erzählende bettet die Erfahrung nicht in einen konfessionellen Rahmen. Es kann sich also um vorreligiöse, religiöse oder transreligiöse Erfahrungen handeln. Man darf davon ausgehen, dass diese Kombination von Ehrfurchterweckendem und zutiefst Beglückendem – zusammen mit einer intuitiven Klarsicht – auch die Grunderfahrung bildet, kraft derer inspirierte Menschen in jeder Kultur der Erde Religionen ins Leben gerufen bzw. erneuert haben.
Untersuchungen zeigen, dass tiefgreifende spirituelle Erfahrungen, wie im obigen Beispiel zum Ausdruck gebracht, viel häufiger sind, als gemeinhin angenommen. Der Grund für die weitverbreitete Verschwiegenheit ist ein zweifacher: Erstens finden viele Menschen nicht die richtigen Worte, um ihr inneres Erleben adäquat wiederzugeben. Und zweitens gibt es eine weitverbreitete Scheu, über spirituell-religiöse Themen zu reden, selbst gegenüber nahestehenden Menschen. Aus einer Angst heraus, danach schräg angeschaut und als „Spinner“ oder „Träumer“ abqualifiziert zu werden, aber auch weil man dadurch etwas sehr Intimes preisgibt.
Diesem Intimen wollen wir uns nun hier und in den nächsten zwei Kapiteln zuwenden. Denn Reife bedingt – ganz zentral – auch Klarheit bezüglich dessen, was uns auf dem mit Unsicherheiten gespickten und oft beschwerlichen Weg die Richtung weist und die nötige Kraft zum Durchhalten verleiht.
Versuche, die Dimension des Heiligen als Hirngespinst, Schwärmerei oder Wunschdenken abzutun, gab es zu jeder Zeit. So weisen Rationalisten darauf hin, dass sich nichts aus diesem Bereich wissenschaftlich „einfangen“ und beweisen lässt. Das ist aber, wie wenn man versucht, dem Zauber einer Mozartsymphonie mit einer Analyse der Schwingungsfrequenzen der einzelnen Noten und Akkorde näherzukommen. Die Ratio hat ihren Aufgabenbereich, aber in der spirituellen Dimension – wie ich die Dimension des Religiösen bzw. des Heiligen zusammenfassend nennen möchte – bewegen wir uns im transrationalen (nicht irrationalen!) Bereich. Das heißt, der Verstand hat zwar auch in diesem Bereich seine Aufgaben (ein blinder Glaube ist unreif und kann auch persönlich sowie gesellschaftlich gefährlich sein), aber ohne Zusammenarbeit mit Gefühl und Intuition kommt er zu keinem brauchbaren Ergebnis. Einem, auf dem sich eine Lebenshaltung gründen lässt.
Andere wiederum lehnen alles Religiös-Spirituelle aufgrund persönlicher Enttäuschungen ab. Anlass dazu gab und gibt es genug: etwa die offensichtliche Diskrepanz zwischen dem, was verkündet und gelehrt wird, und dem, was manche religiöse Würdenträger vorleben. Das gilt auch für religiöse Institutionen als Ganzes – dort nämlich, wo Konservatismus und Machterhaltung stärkere Antriebskräfte bilden als Ehrfurcht und die Bereitschaft, auch durch Anpassungen und Loslassen dem Heiligen wirklich zu dienen.
Vielleicht der häufigste, wenn auch kaum je eingestandene Grund für die Ablehnung der spirituellen Dimension ist eine diffuse Angst. Wenn ich mich aufrichtig auf eine Auseinandersetzung, auf eine Begegnung mit dem Numinosen einlasse, führt das einerseits zu einer Begegnung mit mir selbst – auch mit denjenigen Aspekten, die ich lieber vor mir selber und vor anderen verborgen halte. Und andererseits führt es zu Anforderungen an meine Lebensgestaltung, bei denen es mir unwohl wird, weil sie mich auffordern, meine Komfortzone zu verlassen. Die biblischen Geschichten vom Auszug Abrahams sowie der Exodus aus Ägypten symbolisieren genau dies. Ebenso die Lebensgeschichte von Siddhartha Gautama (wie Buddha ursprünglich hieß), der nach einer Konfrontation mit bisher ausgeblendeten Realitäten des Lebens – Leiden und Tod – sein bequemes Leben als Fürstensohn abrupt zurückließ.
Mit der um sich greifenden Säkularisierung, insbesondere in der westlichen Welt, bekam die Ablehnung des Religiösen historisch gesehen eine gesellschaftliche Dimension. Während sich dadurch zwar ein großer Rechtfertigungs- und Reformdruck auf die institutionalisierten Religionen aufgebaut hat und die klassischen Formen des religiösen Vollzugs, nämlich der Kirchen-, Moscheen- oder Tempelbesuch stark zurückgegangen sind, hat die Säkularisierung, die nun seit gut einem Jahrhundert ihre Kreise zieht, nicht zu einem fortschreitenden Rückgang des Verlangens der Menschen nach Transzendenz geführt. Dieser Bezug findet nun eher in anderen, nicht-religiösen oder nicht explizit religiösen Formen seinen Ausdruck.
Dass Religion nicht nur von Individuen oder einem Teil der Gesellschaft, sondern vom gesamten Herrschaftsapparat abgelehnt, als illusionär erklärt und mit Gewalt aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde – dies ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Den Anfang machte 1917 die Sowjetunion mit der Machtübernahme der Bolschewiki, welche die atheistisch-materialistische Weltanschauung des Marxismus als „wissenschaftlich erwiesen“ darstellten und nach der Hingabe der Bevölkerung an die kommunistische Sache „mit Herz und Seele“ trachteten (rasch aber de facto nach ihrer Unterwürfigkeit). Die Machthaber wussten, dass eine vollständige Hingabe an eine irdische Macht niemals erfolgen wird, wenn jemand einer „höheren“ Macht anhängt. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten dann die Länder des von der UdSSR beherrschten Ostblocks52 sowie Albanien; in Ostasien waren es China sowie Kambodscha (vier Jahre unter den Khmer Rouge), Laos, Vietnam und Nordkorea. Keinem dieser Staaten mit einem offiziell atheistischen Regime gelang es jedoch, die Religion trotz zum Teil brutalster Repression zum Absterben zu bringen, selbst über Generationen hinweg nicht. Ausgerechnet ein russischer Philosoph – Nikolaj Berdjajew (1874–1948) – war es, der den Menschen als „unzerstörbar religiös“53 bezeichnete. Offensichtlich lässt sich weder das Bewusstsein des Heiligen (oder zumindest eine Ahnung davon) noch das Bedürfnis danach ausrotten. Regime in Ländern wie China, Vietnam und Laos mögen zwar offiziell immer noch die atheistische Ideologie propagieren, tolerieren religiöse Praxis jedoch, solange diese nicht als Gefahr für die Vormachtstellung der kommunistischen Partei eingestuft wird. Vollständige Unterdrückung jeglicher religiöser Erscheinungen – außer der Huldigung der gottgleichen Führer des Landes – gibt es heute nur noch in Nordkorea.
52 In einigen der Ostblockstaaten wurde die Unterdrückung von Religion eher halbherzig umgesetzt. (Denken Sie an das katholische Polen!) Die kommunistischen Machthaber arrangierten sich lieber mit den Kirchenoberen und machten sie so weit wie möglich gefügig.
53 Zit. in Josef Sudbrack, Mystik, S. 43.
Es ist wohl eine Kombination der genannten Gründe (Säkularisierung, Rationalismus, Enttäuschung über religiöse Institutionen und Angst vor Verbindlichkeit), die so viele Menschen im Westen heute auf Abstand zum Religiösen hält. Man beschäftigt sich lieber nicht mit dieser Thematik. Auf Anfrage hin – auch hier gibt es in unseren Breitengraden Untersuchungen – bezeichnen sich nämlich weit mehr Menschen als Agnostiker – welche die Frage nach Gott oder dem Göttlichen offenlassen – denn als Atheisten. Agnostiker verteidigen oftmals ihre Haltung, indem sie darauf hinweisen, dass sich die Frage nach der Realität des religiös-spirituellen Bereichs nie eindeutig beantworten lässt. Das stimmt zwar verstandesmäßig, aber es stellt gleichzeitig eine Weigerung dar, sich der Sache gefühlsmäßig zu öffnen und sich ihr auf der „Herzensebene“ zu nähern.
Ich bekomme oft den Eindruck, dass die scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Gläubigen und Atheisten sehr oft auf einem Missverständnis beruht. Die Falle ist sprachlicher Art: Bei einem Atheisten ruft das Wort „Gott“ schlicht andere Vorstellungen hervor als bei einer gläubigen Person, deren Glaube auf persönlichen spirituellen Erfahrungen beruht. Die Schemata im Kapitel 3.2 stellen einen Versuch dar, dies zu veranschaulichen.
Karl Rahner (1904–1984), der wohl bedeutendste katholische Theologe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat lange mit dem augenfälligen Phänomen gerungen, dass es Menschen gibt, die sich nicht als Christen bezeichnen, aber dennoch größtenteils im Einklang mit den sogenannt christlichen Prinzipien leben – in stärkerem Ausmaß vielleicht als manche bekennende Christen. Rahner prägte daraufhin den Begriff „anonyme Christen“. Das gleiche Phänomen findet sich zweifellos auch bei anderen Religionen.
Entscheidend ist also nicht der vordergründig propagierte Glaube, der möglicherweise aus intellektuellen oder kulturellen Gründen akzeptiert oder mehr oder weniger unkritisch von Eltern und Umfeld übernommen wurde. Ein solcher Glaube mag dann eine Schublade des Lebens neben anderen – Beruf, Familie, Hobbies – bilden, aber er stellt keinen alles durchdringenden Faktor dar. Gewisse Inhalte aus der religiösen Dimension werden zwar für wahr gehalten, aber es findet kein Sich-Fallenlassen in die Gottheit statt. Entscheidend ist vielmehr ein existenzielles Vertrauen (das, was die nie versiegende Kraftquelle offenhält). Ein solches kann bei Menschen ohne religiöse Bindung genauso vorhanden sein oder fehlen wie bei „Glaubenden“ der oben beschriebenen Art.
Es ist unübersehbar, dass der Einfluss der institutionalisierten Religionen abnimmt. Das Heilige wird zunehmend auch jenseits aller etablierten Religionen gesucht, was gesellschaftlich gesehen ein noch nie dagewesenes Phänomen darstellt. Individualisierte Spiritualitätsformen breiten sich aus, ohne dabei eine einheitliche Bewegung zu bilden. Verbundenheit mit der Natur ist eines ihrer häufigsten Merkmale. Zu den Grundlagen gehört die – heutzutage leicht zugängliche – religiöse und mystische Weisheitsliteratur aus allen Weltteilen. Auch die ethischen Grundprinzipien unterscheiden sich kaum von denen der Weltreligionen. So gesehen besteht nach wie vor eine enge Verwandtschaft zwischen der religiösen Tradition der Menschheit und der modernen Spiritualität. Noch ist eine solche inklusive, religionsübergreifende Spiritualität kein Massenphänomen; aber sie ist aus unserer Zeit auch nicht mehr wegzudenken.
Wo anders als in der Dimension des Religiösen bzw. Spirituellen lässt sich nach Antworten auf die angeführten Urfragen suchen? Der Humanismus bietet eine vergleichbare ethische Basis. Aber jene Sehnsucht nach dem „Mehr“ – nach etwas, das dem ganzen Kosmos Sinn verleiht und dem man danken kann für die Schönheit auf der Welt – vermag er nicht zu erfüllen.
Der Reifeweg bedeutet eine Lebensaufgabe. Er ist beschwerlich und mit Hindernissen, Ablenkungen und Unsicherheiten gespickt. Wir benötigen eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten (geistig sowie persönlich), aber auch die allein genügt nicht. Ohne eine verlässliche innere Quelle, aus der sich Kraft schöpfen lässt, und ohne einen verlässlichen Kompass sind die Aussichten, eine gute Wegstrecke zurückzulegen, gering – das zeigen genügend Einzelschicksale. Wo oder wie finden wir also Zugang zu einer solchen Quelle, die Wegzehrung und Orientierung zugleich bietet?
Für Angehörige einer Religion ist die Antwort naheliegend: durch Gebet, durch geistige Lektüre, in Ritualen sowie in der Religionsgemeinschaft. Meditation (im umfassenden Sinn) ist ein Zugang, der heutzutage auch nicht konfessionell eingebundenen Menschen offensteht. Aber auch die meditative Praxis braucht einen spirituellen Unterbau, um sich langfristig als fruchtbar zu erweisen.
Manchmal sind es Vorbilder, die uns als Orientierung dienen. Dies können globale Leuchtfiguren wie der Dalai Lama oder Mutter Teresa sein, oder aber Personen aus unserem Umfeld, etwa eine Großmutter, die das vorlebte, was uns als Wegweiser dienen kann.
Die Natur ist gerade in unserer säkular geprägten Gesellschaft ein wichtiges Portal zur Tiefendimension und Quelle. Dass sie nicht nur lebendig ist, sondern ihr (meist unbewusst) auch eine eigene Weisheit zuerkannt wird, lässt sich nicht nur bei naturnahen Völkern feststellen, sondern blitzt auch immer wieder in unserem Sprachgebrauch auf. Ein Satz wie „Die Natur hat das gut eingerichtet“ kann auch einem wenig spirituell gesinnten Menschen entrutschen. Und wer stört sich am Ausdruck „Mutter Natur“? Ferner kann es kein Zufall sein, dass „Natur“ in allen mir bekannten Sprachen, die ein grammatikalisches Geschlecht aufweisen, weiblich ist.54
54 z. B. die Natur, la nature (franz.), la natura (ital.), la naturaleza (span.), priroda (russ., vom Verb rodit’, gebären).
Portale können sich auch öffnen durch Berührtwerden von Kunst, sei es einem Gemälde, einem Musikstück oder einem Gedicht, sowie durch liebevolle Begegnungen oder Erfahrungen von Stille.
Um das, was hinter solchen Portalen liegt – also um das, was uns bis zum letzten Atemzug nährt, gleichzeitig aber sprachlich kaum fassbar und zutiefst intim ist –, geht es in den folgenden zwei Kapiteln.
Vielleicht gehören Sie, liebe Leserin und lieber Leser, zu denjenigen, die normalerweise auf Distanz gehen zu allem, was mit Religion oder Spiritualität zu tun hat. Sie können selbstverständlich einen Bogen um die kommenden zwei Kapitel machen. Aber möglicherweise würden Sie, wenn Sie weiterlesen, etwas Unerwartetes erfahren. Die Einladung liegt vor.
3.1 DER LEISE WINDHAUCH
Die Bibel erzählt folgende Geschichte vom Propheten Elija: Er zog durch die Wüste und stieg auf den Berg Horeb, wo er in einer Höhle Unterschlupf fand. Dort klagte er Gott sein Leid, worauf dieser ihn aufforderte, aus der Höhle herauszutreten und sich vor ihn hinzustellen:
„Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel.“ (1. Könige 19, 11–13)
In der Übersetzung des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965), die dem hebräischen Urtext näherkommt, lautet der zweitletzte Satz:
„[…] aber nach dem Feuer eine Stimme verschwebenden Schweigens.“55
55 https://bibel.github.io/BuberRosenzweig/ot/1.K%C3%B6n_19.html.
Das lateinische Wort „spiritus“ bedeutet „Atem, Lufthauch, Geist“; das Verb, aus dem es hervorging, lautet „spirare“ – „atmen“. Die jeder Religion zugrunde liegende Spiritualität enthält also dieses Element des Luftigen, Lebendigen, Fließenden. Es ist dieser leise und subtile Geist, der weht, wo er will.
Um bei diesem Bild zu bleiben: Spiritualität bringt frische Luft in ein ich-zentriertes Lebensgebäude, das ohne sie immer stickiger und unerträglicher wird. Und wie kein menschliches Leben ohne Atmen möglich ist, ist auch kein Reifeprozess ohne diesen leise inspirierenden und kraftspendenden Geist denkbar.
In der Bibel heißt diese Lebensessenz „Gott“. „Gott“ ist in einer geistig-religiös verunsicherten bis skeptischen Gesellschaft zu einem heiklen Wort geworden. Schuld daran sind nicht nur religiöse Zweifel, sondern auch der achtlose und manchmal auch bösartige Missbrauch, der mit ihm getrieben wurde und wird. Ist ein redliches Sprechen von Gott noch möglich? Wenn ja, verlangt es enorme Behutsamkeit.
Folgendes Gedicht des Arbeiterpfarrers und Dichters Andreas Knapp (geb. 1958) bringt diesen Zwiespalt auf prägnante Art zum Ausdruck: 56
56 Zitiert in der Zeitschrift Publik-Forum, Nr. 24/2018, S. 33.
Gott
Unwort der Jahrtausende
blutbesudelt und missbraucht
und darum endlich zu löschen
aus dem Vokabular der Menschheit
Redeverbot von Gott
getilgt werde sein Name
die Erinnerung an ihn vergehe
wie auf Erden so im Himmel
wenn unsere Sprache aber
dann ganz gott los ist
in welchem Wort
wird unser Heimweh wohnen
wem schreien wir noch
den Weltschmerz entgegen
und wen loben wir
für das Licht
Im Islam gibt es sowohl in der Sufi-Mystik als auch im Volksglauben die Tradition der 99 Namen Allahs (die alle im Koran vorkommen und alle gewisse Eigenschaften Gottes ausdrücken, welche sich die Menschen bei ihrem „Aufstieg“ mehr und mehr aneignen sollen). Der hundertste, weil unfassbar, bleibt ein Geheimnis. Diese Herangehensweise wird der oben geforderten Redlichkeit gerecht, denn sie umschreibt das Unsagbare, anstatt es beschreiben oder gar definieren zu wollen. Und sie lässt einen Leerraum für das, was dem beschränkten menschlichen Verstand nicht zugänglich ist.
In diesem Geist folgen hier ein paar Bezeichnungen, die auch im Rest des Buchs alternierend verwendet werden. Nicht als Entweder-oder, sondern als Sowohl-als-auch. Und stets mit einem leeren Raum für MEHR.
Gott …
Das Göttliche …
Das Heilige …
Das Unaussprechliche …
Das Transzendente … – in unserer Mitte
Der Seinsgrund …
Die Essenz unserer Essenz …
Liebe …
Friede …
Zutiefst in uns und um uns ganz subtil, wie ein leiser Windhauch, präsent, erahnbar, aber nicht erfassbar, meist von unseren Sinneseindrücken, Gedankenströmen, emotionalen Bewegungen sowie von festgefahrenen Meinungen, Abneigungen und Ängsten übertönt und überdeckt. Weitere Barrieren bilden eine Haltung des Misstrauens (Abwehrhaltung) und der Egozentrik (isolierende Haltung; Abkapslung von jener Mitte, in der wir mit allen und allem verbunden sind).
Dionysius Areopagita, ein vermutlich syrischer Mönch und Mystiker aus dem frühen 6. Jahrhundert, über dessen Identität wenig bekannt ist, der aber ein geistesgeschichtlich einflussreiches Werk hinterlassen hat, schrieb: „Die einzige Sprache, die keine Grenzen hat, in der das Unendliche noch einen Platz hat: das Schweigen. Nicht das düstere Schweigen, sondern ein Schweigen, das Sprache ist. Ehrfürchtiges Schweigen. Betendes Schweigen. Verehrendes Schweigen.“57
57 Zit. in: https://www.wir-sind-kirche.de/koeln/das_hell-lichte_dunkel.htm.
Und doch erfasst uns Menschen der Drang, das, „wovon das Herz voll ist“, zum Ausdruck zu bringen. Wenn wir uns eine von fassbar bis unfassbar reichende Skala der Subtilität vorstellen, so befinden sich konkrete, messbare, mit den Sinnen direkt wahrnehmbare Dinge (etwa ein Tisch) am einen Ende und das, was wir „Gott“ nennen, am anderen. Je näher etwas am ersten, „handfesten“ Ende angesiedelt ist, desto einfacher können wir es auch sprachlich und damit gedanklich fassen. Je mehr wir uns zum Subtilen hin bewegen, desto weniger eignen sich theoretische Abhandlungen und desto mehr müssen wir zu Metaphern und Vergleichen, besser noch zu Liedern, Gedichten und Geschichten greifen. Denn Lieder, Gedichte und Geschichten berühren das Gemüt, das feiner wahrzunehmen und zu unterscheiden in der Lage ist als unser Verstand. Und sie wecken Assoziationen. Durch sie wirken das Gehörte bzw. Gelesene wie auf unser eigenes Leben zugeschnitten.
Weil das Allersubtilste („das Göttliche“) von dem, was lauter und greller daherkommt (in der Elija-Geschichte der Sturm, das Erdbeben und das Feuer), oft übertönt oder verdeckt wird und so leicht zu verpassen ist, und weil es so weit jenseits des wissenschaftlichen Zugriffsbereichs liegt, wird es zumeist ignoriert und vielfach sogar negiert.
Dieses Subtile ist so fein, dass es alles durchdringt. Es kann genauso wenig abwesend sein wie Luft in einem lebendigen Körper. Und es ist nichts Statisches, es bewegt und ist in Bewegung wie der Ein- und Ausfluss der Luft beim lebenserhaltenden Atemvorgang. Wie oft aber nehmen wir Luft oder den Atemvorgang bewusst wahr?
Es muss ein gutes Gleichgewicht gefunden werden zwischen dem eigentlich angebrachten Schweigen und der Sehnsucht nach sprachlichen oder bildhaften Annäherungen. Ein solcher Versuch wird im folgenden Kapitel unternommen.
3.2 VON DER UNMÖGLICHKEIT, AUS GOTT HERAUSZUFALLEN
Es gibt keinen gottlosen Menschen auf dieser Welt, weil kein Mensch Gott loswerden kann.
(Karl Rahner, 1904–1984, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts)58
58 Zit. in Pierre Stutz, Geborgen und frei, S. 41.
Weltbilder im Überblick
In den vorhergehenden zwei Kapiteln haben wir uns gedanklich unserem Fundament bzw. unserer Kraftquelle angenähert und dafür Begriffe wie Gott, das Göttliche, die Grundlage alles Seienden usw. verwendet. In diesem Kapitel überlegen wir uns genauer, was darunter verstanden werden kann – bis an die Grenzen des Denkbaren. Denn das, was hier gemeint ist, geht per definitionem weit darüber hinaus. Wir schauen auch auf die guten Gründe, die das Postulieren eines solchen Fundaments plausibel machen, und zeigen auf, wie wichtig ein solches Fundament für einen bewussten, lebenslangen Reifeprozess ist. Als Leitplanken für die folgenden Überlegungen sollen vier Schemata dienen. Sie bilden auf eine sehr einfache Art verschiedene Weltbilder ab. Der Begriff „Weltbild“ wird umfassend verstanden, also einschließlich Menschen- und Gottesbild (das Gottesbild kann auch aus der Vorstellung der Nichtexistenz Gottes bestehen). So sieht das erste Weltbild aus:
WELTBILD A


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