Kitabı oku: «Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung», sayfa 3
Bei Inkrafttreten des IVG
IVG-1959Mit Inkrafttreten des IVG vom 19. Juni 1959 wurde der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes im Gesetz verankert, ohne aber eine gesetzliche Definition einzuführen. Gesetzliche Grundlage bildete bis zum Erlass des ATSG Art. 28 Abs. 2 IVG-1959, der sich in die allgemeine Umschreibung des Invaliditätsbegriffs nach Art. 4 IVG-1959 einfügte:
«Für die Bemessung der Invalidität wird das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre.» (Art. 28 Abs. 2 IVG 1959)
«Als Invalidität im Sinne dieses Gesetzes gilt die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit.» (Art. 4 IVG-1959)
AbgrenzungAufschluss über den Sinn und Zweck des ausgeglichenen Arbeitsmarktes ergibt die Botschaft zur Schaffung der Invalidenversicherung von 1958, in welcher der Bundesrat unter anderem ausführte, versichertes Rechtsgut sei «die Erwerbsfähigkeit und nicht der Erwerb als solcher». Die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit sei vom tatsächlichen Erwerbsaufall bzw. der Erwerbseinbusse zu unterscheiden.[22]
Besonders zu beachten sei – so der Bundesrat –, «dass in der Invalidenversicherung nur die durch einen Gesundheitsschaden verursachte Erwerbsunfähigkeit berücksichtigt werden darf. Die durch äussere Faktoren – wie Arbeitslosigkeit – bedingte Unmöglichkeit, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, ist davon zu unterscheiden. Nur auf diese Weise wird ein objektiver, von den Schwankungen des Arbeitsmarktes und dem Verhalten des Versicherten unabhängiger Versicherungstatbestand geschaffen. Eine klare Trennung zwischen Invalidenversicherung und Arbeitslosenversicherung, wie sie in verschiedenen Vernehmlassungen gefordert wird, ist nur möglich, wenn in der Invalidenversicherung ausschliesslich darauf abgestellt wird, ob der Versicherte mit seinen geistigen und körperlichen Kräften bei normaler Arbeitsmarktlage imstande wäre, erwerbstätig zu sein.»[23]
KonjunktureinflüsseKonjunktureinflüsse («fluctuations de la conjoncture économique») seien bei der Invaliditätsbemessung grundsätzlich auszuschalten.[24] Ein «Invalider» habe zwar in Zeiten wirtschaftlicher Depression häufiger Mühe, eine Stelle zu finden, als ein voll Erwerbstätiger. Würde die Invalidenversicherung aber diesem Umstand besonders Rechnung tragen, so übernähme sie Aufgaben der Arbeitslosenversicherung.[25] «Wir sehen daher vor» – so der Bundesrat wörtlich – «dass bei der Invaliditätsbemessung auf eine ausgeglichene Arbeitsmarktlage abzustellen ist»[26].
ZumutbarkeitEine allzu abstrakte, d.h. von den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen weitgehend gelöste Arbeitsmarktbetrachtung strebte der Gesetzgeber indes nicht an. Dies zeigt sich daran, dass der Bundesrat bei der Bemessung von Validen- und Invalideneinkommen auf die Zumutbarkeit abstellte: Validen- und Invalideneinkommen haben sich nach den «persönlichen und beruflichen Voraussetzungen» der Versicherten zu richten.[27] In einer Publikation aus jener Zeit hielt Paul Piccard zu den Abklärungsmassnahmen in der IV fest, «[s]ie alle gipfeln eigentlich in der Frage, welche Art von Arbeit dem Versicherten zumutbar sei.»[28] Und der Bundesrat führte zum Invalideneinkommen aus: «Welche Tätigkeiten zumutbar sind, kann nicht generell festgelegt werden; es wird vielmehr auf die Verhältnisse des Einzelfalls ankommen. Man wird (…) insbesondere auf Ausbildung und bisherige Tätigkeit, Art der Behinderung, Arbeitsort, Alter und körperliche Konstitution Rücksicht nehmen müssen».[29] Dies erklärt auch, weshalb der Gesetzgeber zur Bestimmung der Invalidität eine interdisziplinäre Abklärung durch fünf verschiedene Disziplinen vorsah:[30] Eine interdisziplinäre Abklärung braucht es nur dort, wo man der Realität gerecht werden will; bei Abstraktionen und Fiktionen erbübrigen sich weitere Abklärungen.
BeispielDie Abgrenzungsproblematik lässt sich an einem Beispiel aus dem Bericht der Expertenkommission veranschaulichen. Zum einen hielt der Bericht fest, es sei «scharf» zwischen Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit zu unterscheiden und daher seien äussere Faktoren wie eine «mangelnde Arbeitsgelegenheit am betreffenden Ort» nicht erheblich.[31] Zum anderen sei aber der Arbeitsort bei der Zumutbarkeit weiterer Erwerbstätigkeit einzubeziehen und etwa zu prüfen, ob einem bisher in einem «abgelegenen Gebirgstal» lebenden Versicherten die Ausübung einer Erwerbstätigkeit zugemutet werden könne, die er nur im Tal oder gar nur in der Stadt ausüben könne. Diese Frage sei nicht generell, sondern nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, wobei Faktoren wie familiäre Verhältnisse, Alter, Sprache, Grundbesitz, Art der Behinderung und dergleichen zu berücksichtigen seien.[32]
GratwanderungDie Gratwanderung zwischen abstrakter und konkreter Arbeitsmarktbetrachtung tritt in diesem Beispiel klar hervor: Vorübergehende, konjunkturelle Schwankungen wie etwa eine «Hotelkrise» in Tourismusregionen in den Bergen sind für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit unerheblich («mangelnde Arbeitsgelegenheit am betreffenden Ort»). Gleichzeitig stellt sich in strukturschwachen Regionen, in denen es – um im Bild zu bleiben – keine Hotels (mehr) gibt («abgelegenes Gebirgstal»), zusätzlich die Frage, ob der versicherten Person ein Wechsel des Arbeitsortes zugemutet werden kann.
Nach Inkrafttreten des IVG
Erste Entscheide
DurchschnittMit Inkrafttreten des IVG vom 19. Juni 1959 war der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes zwar im Gesetz verankert, es fehlte jedoch (und fehlt auch noch heute) eine gesetzliche Definition. Das EVG stellte im Urteil Herensperger vom 4. Oktober 1960 klar, dass der für den Versicherten in Betracht fallende Arbeitsmarkt massgebend sei, verzichtete dabei aber auf eine allgemeine Umschreibung. Das EVG knüpfte ausdrücklich an seine frühere Rechtsprechung (u.a. Urteil Arfini) an und forderte nähere Abklärungen dazu, welchen «objektiven Durchschnittsverdienst» der Versicherte u.a. unter Berücksichtigung seiner Ausbildung «auf dem ihm offenstehenden Arbeitsmarkt» erzielen könnte:[33] «Ausschlaggebend ist der dem Zustand des Versicherten entsprechende objektive Durchschnittsverdienst, während der tatsächliche Verdienst möglicherweise nur vorübergehend ist».[34]
ArbeitsmarktIn einem Entscheid aus dem Jahr 1967 verwies das EVG ebenfalls auf das Urteil Arfini und führte aus, der mutmassliche Verdienst sei nach durchschnittlichen Verhältnissen – d.h. z.B. unabhängig von Betriebseinschränkungen einerseits und Hochkonjunktur andrerseits – zu ermitteln.[35] Abzustellen ist nach einem weiteren Entscheid aus dem Jahr 1974 auf «wirtschaftlich normale Zeiten».[36] Die Rechtsprechung definierte 1960 eine «ausgeglichene Arbeitsmarktlage» als ein Zustand, in dem sich das Angebot von und die Nachfrage nach Arbeitskräften ungefähr die Waage halten.[37] Dies erläuterte das EVG in BGE 96 V 31 wie folgt:
«Es ist noch zu prüfen, ob die festgestellte Verbesserung der Erwerbsfähigkeit es rechtfertigt, den anrechenbaren Invaliditätsgrad revisionsweise auf 30% herabzusetzen, mit andern Worten, ob dieser Ansatz der durch den erlittenen Schaden verursachten ‹durchschnittlichen Beeinträchtigung der Erwerbsmöglichkeiten auf dem für den Versicherten in Betracht fallenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt› (EVGE 1967, S. 23) entspricht (…) In konjunktureller Hinsicht sodann kommt es für die Belange der Invaliditätsschätzung auf ausgeglichene Arbeitsmarktverhältnisse an, d.h. auf eine Situation, in welcher das Angebot an Arbeitskräften und die Nachfrage nach solchen sich ungefähr die Waage halten. Wie weit der Beschwerdeführer in solcher Lage gegenüber unversehrten Industriearbeitern seiner Kategorie erwerblich deklassiert wäre, ist Ermessensfrage (…)»
Allgemeiner ArbeitsmarktIn einzelnen Fällen nahm die Rechtsprechung beim Einkommensvergleich zur Invaliditätsbemessung eine Herabsetzung des tatsächlich erzielten Invalideneinkommens vor, da dieses konjunkturbedingt zu hoch war (sog. Konjunkturlöhne).[38] Um missbräuchliche Rentenzahlungen zu verhindern, wurde auch auf die tatsächlichen Verhältnisse abgestellt, wenn der Verdienst eine gewisse Stabilität erlangt hatte.[39] Oft sprach die Rechtsprechung auch nicht (nur) vom «ausgeglichenen Arbeitsmarkt», sondern vom «allgemeinen Arbeitsmarkt» oder vom «allgemeinen, ausgeglichenen Arbeitsmarkt».[40] Der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes hatte sich in der Rechtsprechung noch nicht gefestigt. Der Begriff fand seine heutige Prägung erst in einer Zeit, als die Hochkonjunktur vorüber war und die Eingliederung von behinderten Personen erschwert wurde.
Veränderte Verhältnisse
WirtschaftskriseDer gesetzliche Auftrag der Invalidenversicherung, «Eingliederung vor Rente» anzustreben, hängt «vom Entgegenkommen und der Mithilfe unserer Wirtschaft» ab.[41] Die konjunkturelle Abkühlung in der 1970-er Jahre war daher auch eine Herausforderung für den Gesetzesauftrag der IV: Wenn die Eingliederung von behinderten Personen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht gelingt, gewinnt die Rentenfrage an Aktualität. Wirtschaftliche Krisenzeiten erschwerten denn auch seit je die Abgrenzung von Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit:[42] Die Rechtsprechung stellte aber bereits Mitte der 1970-er Jahre klar, dass rezessionsbedingte Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden, nicht zu einer Invalidenrente führen sollen.[43] Dieses Risiko war über die Arbeitslosenversicherung abzudecken, die dann auch 1976 auf eidgenössischer Ebene obligatorisch erklärt wurde.[44]
SpardruckDer langjährige Leiter der IV-Regionalstelle Basel, Richard Laich, umschrieb die Situation zur Eingliederung von behinderten Personen Mitte der 1970-er Jahre wie folgt:
«Der Gesetzgeber der IV hat sich seinerzeit zum Grundsatz «Eingliederung vor Rente» entschieden und mit Eingliederung damals in erster Linie die einseitig erwerbsorientierte Eingliederung gemeint. Gerade darum hatte das Invalidenversicherungs-Gesetz überhaupt Chance, von unseren damals massgebenden Politikern angenommen zu werden, weil das IV-Konzept u. a. versprach, ein zusätzliches Arbeitskräftepotential zu erschliessen. Aber wo stehen wir heute nach 14 Jahren IV mit dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente»? Ist unsere Volkswirtschaft, ist unsere Arbeitgeberschaft heute bereit, den Behinderten die reale Chance einer angepassten beruflichen Eingliederung zu geben, und sind die Arbeitnehmer bereit, den behinderten Mitarbeiter zu akzeptieren und in das Betriebsgeschehen zu integrieren?
Die berufliche Eingliederung der Behinderten, d. h. die Arbeitsplatzvermittlung an die Behinderten ausserhalb von geschützten Werkstätten, bereitet uns von Jahr zu Jahr grössere Schwierigkeiten. Der Spardruck und der Sparwille im Personalsektor sowohl in der Privatwirtschaft wie in der öffentlichen Verwaltung, gestatten offenbar immer weniger soziales Entgegenkommen.»[45]
Persönliche VerhältnisseNoch vor der Konjunkturabkühlung und ca. bis Mitte der 1970-er Jahre war vereinzelt der gegenwärtig vorhandene, konkrete Arbeitsmarkt massgebend.[46] Das EVG verwies darauf, dass bei der Frage der Zumutbarkeit einer bestimmten Erwerbstätigkeit die gesamten persönlichen Verhältnisse zu beachten seien, insbesondere auch die berufliche und soziale Stellung des Versicherten,[47] seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten von einem medizinischen Standpunkt aus, die Art der Behinderung sowie seine Kenntnisse und sein Alter.[48] Massgebend sei jedoch das objektive Mass des Zumutbaren, nicht die subjektive Wertung des Versicherten.[49]
AbstraktionParallel zur schweren Wirtschaftskrise der 1970-er Jahre ging die Verwaltungspraxis zu einer zunehmend theoretischen und abstrakten Betrachtungsweise über.[50] Das BSV führte 1975 und 1976 zwei Konferenzen über rezessionsbedingte Probleme Behinderter durch und behandelte dort namentlich auch die «Grenzfälle» zwischen Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit. Der Vertreter des BSV umschrieb dabei den ausgeglichenen Arbeitsmarkt wie folgt:
«Wir betrachten jenen Arbeitsmarkt als ausgeglichen, auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht.»[51]
Abgrenzung zur ALVZiel der IV sei es, den durch einen Gesundheitsschaden verursachten Erwerbsausfall in einem gewissen Rahmen auszugleichen, während die Arbeitslosenversicherung das Risiko von Arbeits- und damit Verdienstausfällen, die durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt seien, teilweise abdecke (konjunkturelle, strukturelle, technologische Arbeitslosigkeit).[52]
Absehen von ArbeitsmarktBemerkenswert an diesen Ausführungen der Verwaltung ist die Tendenz zum «Wegdefinierten des Arbeitsmarktes»: Während die Rechtsprechung zuvor «zufällige Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt» und damit Konjunktureinflüsse als invaliditätsfremd ausgeschieden hatte, wurde nun tendenziell vom Arbeitsmarkt als solchem bzw. von den gesamten wirtschaftlichen Verhältnissen abstrahiert: Die Verwaltungspraxis ging dazu über, einen Arbeitsmarkt zu fingieren, «auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht» (Rz. 35). Erschwernisse bei der Stellensuche von behinderten Personen – sei es aufgrund ihres Gesundheitsschadens, sei es aufgrund übriger persönlicher Verhältnisse – wurden ausgeblendet, und zwar auch dann, wenn sie sich unter «normalen» bzw. «durchschnittlichen» Arbeitsmarktverhältnissen negativ auswirkten.[53]
Historischer KontextIn den Krisenzeiten der 1970-er Jahre flammte auch erstmals die Debatte um Versicherungsmissbräuche auf.[54] Trotz der Einsetzung einer Arbeitsgruppe für die Überprüfung der Organisation der Invalidenversicherung (sog. Arbeitsgruppe Lutz[55]) konnte keine Lösung für den langfristigen Kostenanstieg in der Invalidenversicherung gefunden werden.[56] Als «typische Fälle bedenkenlosen und ungerechtfertigten Rentenbezuges» erkannte die Arbeitsgruppe Lutz u.a. den «arbeitsmüden Gastarbeiter».[57] Dabei äusserte die Arbeitsgruppe vor allem auch die Besorgnis, dass angesichts des (damals) bevorstehenden BVG-Obligatoriums Rückwirkungen auf Pensionskassen und Privatversicherungen zu erwarten seien: «Ganz allgemein können bei der Invaliditätsbemessung der IV Rückwirkungen auf die Pensionskassen und Privatversicherungen nicht ausbleiben.»[58]
Wandel des Invaliditätsbegriffs?
EVG-PraxisDie verschärfte Verwaltungspraxis spiegelte sich auch in der Rechtsprechung wider. In zwei Leitentscheiden präzisierte das EVG Anfang der 1980-er Jahre zunächst die Abgrenzung zwischen Erwerbsunfähigkeit und fehlender Erwerbsmöglichkeit (Erwerbslosigkeit) (BGE 107 V 17) und ging anschliessend dazu über, von den wirtschaftlichen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt (BGE 110 V 273) stark zu abstrahieren und eine beruflich-praktische Verwertbarkeit der verbleibenden Arbeitsfähigkeit vermehrt zu fingieren.
LeonardelliDas Urteil Leonardelli (BGE 107 V 17) fiel insofern differenziert aus, als das EVG nochmals klar auf die Bedeutung einer «engen, sich ergänzenden Zusammenarbeit» zwischen Mediziner und Berufsberater hinwies. Der Berufsberater habe auszuführen, «welche konkreten beruflichen Tätigkeiten aufgrund der ärztlichen Angaben und unter Berücksichtigung der übrigen Fähigkeiten des Versicherten» in Frage kommen.[59] Im Rahmen der Zumutbarkeit weiterer Erwerbstätigkeit seien die persönlichen Verhältnisse wie die berufliche Ausbildung, die physischen und geistigen Fähigkeiten oder das Alter des Versicherten zu berücksichtigen; «indessen sind die genannten Gesichtspunkte keine zusätzlichen Faktoren, welche neben der Zumutbarkeit weiterer Erwerbstätigkeit das Ausmass der Invalidität mitbestimmen würden».[60] Dies lag auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung einer Abgrenzung von (versicherter) Erwerbsfähigkeit und (nicht versicherter) Erwerbslosigkeit. Etwas überschiessend erscheint die Formulierung, wonach bei der Vermittelbarkeit die «rein invaliditätsbedingten Faktoren» entscheidend seien. Massgebend war aber für das EVG im Anschluss an die bisherige Praxis folgende Überlegung: Die Erwerbslosigkeit aus invaliditätsfremden Gründen wie Alter, mangelnde Ausbildung oder Verständigungsschwierigkeiten vermag keinen Rentenanspruch zu begründen.[61]
BeyIm Urteil Bey (BGE 110 V 273) erklärte das EVG den ausgeglichenen Arbeitsmarkt zum theoretischen und abstrakten Begriff («une notion théorique et abstraite»): «Er beinhaltet einerseits ein gewisses Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften und anderseits einen Arbeitsmarkt, der einen Fächer verschiedener Tätigkeiten aufweist.»[62] Die Tragweite dieses Entscheids zeigt sich in der späteren Rechtsprechung: So führt das Bundesgericht in einer etablierten Praxislinie bis heute aus, der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» berücksichtige die konkrete Arbeitsmarktlage nicht, umfasse in wirtschaftlich schwierigen Zeiten auch tatsächlich nicht vorhandene Stellenangebote und sehe von den fehlenden oder verringerten Chancen Teilinvalider, eine zumutbare und geeignete Arbeitsstelle zu finden, ab.[63]
Fiktive ErwerbstätigkeitGerade die Rechtsprechung im Anschluss an das Urteil Bey zeigt, dass mit dem «Wegdefinieren des Arbeitsmarktes» (Rz. 37) durch den theoretischen und abstrakten Begriff eines ausgeglichenen (fiktiven) Arbeitsmarktes letztlich nicht nur von der Erwerbslosigkeit, sondern auch von der individuell-konkreten Erwerbsfähigkeit abstrahiert wird. Ausschlaggebend wird dann eine Art «fiktiver Erwerbsfähigkeit»: Die Erwerbsfähigkeit bestimmt sich nicht (mehr) danach, welche zumutbaren Erwerbsmöglichkeiten unter Berücksichtigung der gesamten objektiven und subjektiven Gegebenheiten des Einzelfalls bestehen. Vielmehr erübrigt sich eine Abklärung der persönlichen Verhältnisse im Einzelfall, wenn ein «Arbeitsmarkt» fingiert wird, «auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht». Der Grundsatz der Zumutbarkeit wird so durch einen zur Fiktion erklärten ausgeglichenen Arbeitsmarkt übersteuert bzw. eingeschränkt.
Fiktive FaktenBezeichnend für die zunehmende Abstrahierung ist der Wechsel vom Indikativ zum Konjunktiv und damit von der Wirklichkeit zu «fiktiven Fakten», so etwa, wenn das BSV darauf abstellt, «welche praktischen Möglichkeiten der Versicherte trotz seiner Gesundheitsschädigung noch hätte, wenn eine normale Schulbildung und genügende Sprachkenntnisse vorlägen».[64] Letztlich wird dann auf einen Durchschnittstypus beruflicher Anforderungen abgestellt, der zwar den Gesundheitszustand der versicherten Person berücksichtigt, ansonsten aber von den wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen im Einzelfall abstrahiert. Eine solche Invaliditätsbemessung richtet sich weniger nach persönlichen Verhältnissen als nach einem «Standardversicherten» mit Durchschnittskenntnissen und Durchschnittsfähigkeiten.[65] Dieser schleichende Wandel des Begriffs der Erwerbsfähigkeit (Art. 7 ATSG) und damit der Invalidität (Art. 8 ATSG) sticht besonders hervor, wenn man sich den Entscheid Arfini in Erinnerung ruft: «Indessen dürfen dem Versicherten nur solche neue Erwerbstätigkeiten zugemutet werden, die ihm angesichts seiner beruflichen Ausbildung sowie seiner physischen und intellektuellen Eignung erfahrungsgemäss wirklich zugänglich sind.»[66]
Persönliche VerhältnisseDie höchstrichterliche Praxis ist indes nicht so konsistent, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Von einem konsequenten Wechsel der Rechtsprechung hin zum (problematischen) Begriff der fiktiven Erwerbsfähigkeit kann auch bei der rentenbegründenden Invalidität nicht die Rede sein.[67] Das Gesetz bot denn auch weder früher (aArt. 28 Abs. 2 IVG) noch heute (Art. 16 ATSG) eine Grundlage zur Ausklammerung der Zumutbarkeit, weshalb Meyer/Reichmuth zu Recht Folgendes festhalten:
«Der Begriff des allgemeinen ausgeglichenen Arbeitsmarktes erfährt für die Invaliditätsbemessung insofern eine Einschränkung, als dem Versicherten nicht sämtliche gesundheitlich zumutbaren Erwerbsmöglichkeiten zugerechnet werden können, sondern nur diejenigen, welche für ihn – allenfalls nach einer Eingliederung (Art. 8 ff. IVG) – nach seinen persönlichen Verhältnissen infrage kommen (BGE 130 V 343 E. 3.3). Über die Zumutbarkeit, die Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verwerten, ist im konkreten Einzelfall zu befinden (BGE 113 V 22 E. 4a).»[68]
Zumutbarkeit als GrenzeGerade die jüngste Lehre vertritt die Auffassung, der ausgeglichene Arbeitsmarkt finde an der Zumutbarkeit seine Grenze – und nicht umgekehrt.[69] Die Invaliditätsbemessung abstrahiert zwar teilweise von der konkreten Arbeitsmarktlage und blendet die «augenblickliche Arbeitslosigkeit»[70] bzw. den konjunkturell bedingten Arbeitsausfall aus.[71] Die Erwerbsfähigkeit als solche bestimmt sich aber nach den konkreten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen und nicht nach «fiktiven Fakten».