Kitabı oku: «Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung», sayfa 4

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Fiktion als Regel, Realität als Ausnahme

Aktuelle Arbeitsmarkt­lageDie verschärfte Verwaltungs- und Gerichtspraxis blieb nicht ohne Widerspruch und Abmilderungen: Im Rahmen der 2. IV-Revision brachte eine Minderheit im Parlament erfolglos Anträge ein, den Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes zu streichen oder durch eine Bezugnahme auf die «aktuelle Arbeitsmarktlage» zu ersetzen. Die Mehrheit sprach sich dagegen aus, namentlich mit dem Hinweis, dass ansonsten nicht nur die Verminderung der Erwerbsfähigkeit, sondern auch die Verminderung der Erwerbsgelegenheit (Erwerbslosigkeit) über die IV abgedeckt werde.[72]

HärtefallrentenEine Milderung erfuhr die verschärfte Verwaltungs- und Gerichtspraxis insofern, als für die Ausrichtung einer Härtefallrente in der Invalidenversicherung vom aktuellen Arbeitsmarkt und den besonderen Verhältnissen bei der versicherten Person ausgegangen wurde.[73] Die Härtefallrente ermöglichte bei Bedürftigkeit auch den Bezug von Ergänzungsleistungen. Art. 29bis Abs. 2 IVV lautete in seiner Fassung ab 1. Januar 1988 wie folgt:

«Die Kommission legt das Erwerbseinkommen fest, das der Versicherte durch eine für ihn zumutbare Tätigkeit erzielen könnte. Dieses kann niedriger sein als das Invalideneinkommen nach Artikel 28 Absatz 2 IVG, wenn der Behinderte wegen seines fortgeschrittenen Alters, seines Gesundheitszustandes, der Lage am Arbeitsmarkt oder aus anderen nicht von ihm zu verantwortenden Gründen die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit nicht oder nicht voll ausnützen kann.»

EL auch bei ViertelsrentenMit der 4. IV-Revision wurden die Härtefallrenten abgeschafft. Dafür wurde ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen auch bei Bezug einer Viertelsrente der IV eingeführt.[74] Dabei gilt im Bereich der Ergänzungsleistungen nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz, dass das mögliche Erwerbseinkommen von teilinvaliden Personen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls – wie namentlich Alter, Gesundheitszustand, Sprachkenntnisse, Ausbildung, bisherige Tätigkeit und konkrete Arbeitsmarktlage – zu ermitteln ist.[75] Das Bundesgericht unterstreicht die Abgrenzung zum Invalideneinkommen, welches «auf verschiedenen Fiktionen» beruhe.[76] Diese Regelung mag wirtschaftliche Härtefälle abfedern, jedenfalls wenn ein Anspruch auf eine Viertelsrente besteht, doch die Fiktion wird damit zur Regel in der Invalidenversicherung und die Realität zur Ausnahme für (gewisse) Härtefälle gestempelt.

Keine realitätsfremden Einsatzmöglich­keitenDas EVG ging – wie bereits erwähnt – nie in voller Konsequenz zu einer fiktiven Erwerbsunfähigkeit über, bei welcher die Realität nur noch die Ausnahme bildete. So führte das EVG schon im Jahr 1989 aus, es dürfe nicht von realitätsfremden Einsatzmöglichkeiten ausgegangen werden. Von Arbeitsgelegenheiten könne nicht mehr gesprochen werden, wenn die zumutbare Tätigkeit nur in so eingeschränkter Form möglich sei, dass sie der allgemeine Arbeitsmarkt nicht kenne oder nur unter nicht realistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers möglich wäre und das Finden einer solchen Stelle deshalb zum Vornherein als ausgeschlossen erscheine:[77] «Im Rahmen der Selbsteingliederung dürfen von einem Versicherten nicht realitätsfremde und in diesem Sinne unmögliche oder unzumutbare Vorkehren verlangt werden».[78] So erachtete es das EVG als unrealistisch, dass ein als Maler und Bodenleger tätig gewesener Versicherter ohne jegliche Vorbereitung eine Stelle in einem Büro annehmen könne.[79]

Berufspraktische AbklärungDer Wandel hin zur fiktiven Erwerbsunfähigkeit zeigt sich gut in der veränderten Stellung der berufspraktischen Abklärungen. Noch bis zum Entscheid Leonardelli unterstrich das EVG die hohe Bedeutung solcher Abklärungen: «Der Arzt sagt, inwiefern der Versicherte in seinen körperlichen bzw. geistigen Funktionen durch das Leiden eingeschränkt ist (…). Der Berufsberater dagegen sagt, welche konkreten beruflichen Tätigkeiten aufgrund der ärztlichen Angaben und unter Berücksichtigung der übrigen Fähigkeiten des Versicherten in Frage kommen (…)».[80] In aktuellen Entscheiden sind diese Ausführungen deutlich abgeschwächt,[81] in der Regel wird sogar den «objektiven» medizinischen Abklärungen klar der Vorrang eingeräumt.[82]

Praktische VerwertbarkeitBei der Schaffung beruflicher Abklärungsstellen (BEFAS) im Jahr 1980 umschrieb das BSV ihre Aufgabe wie folgt: «[W]as sind mögliche und zumutbare leichte Arbeiten, in welchem Umfange und mit welchen Lohnchancen können diese in der freien Wirtschaft verrichtet werden?»[83] Geklärt werden sollte die «praktische Verwertbarkeit von noch vorhandener Arbeitsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt».[84]

Genaue Abklärungen im EinzelfallBereits 1985 hat der damalige Leiter der BEFAS in Horw (Luzern) darauf hingewiesen, dass die möglichst genaue Kenntnis der wirklichen Arbeits- und Berufsanforderungen «zentrale Grundvoraussetzung» für alle ist, die eine Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit zu beurteilen haben.[85] Die berufliche Abklärung setzt genaue, objektive und zuverlässige Kenntnisse über die Bedingungen der Arbeits- und Berufswelt voraus,[86] welche im Einzelfall abzuklären sind. Je stärker indes Verwaltungs- und Gerichtspraxis den Arbeitsmarkt wegdefinieren, desto entbehrlicher werden berufspraktische Abklärungen. So rief das BSV bereits im Jahr 1986 in Erinnerung, dass die BEFAS nur «in besonderen Fällen» beizuziehen sind.[87]

Fokus: Abgrenzung und Bezüge zur Arbeitslosenversicherung

Abgrenzung Leistungsbereich IV/ALVStandardmässig wird in Gerichtsentscheiden ausgeführt, der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» diene dazu, den Leistungsbereich der Invalidenversicherung von jenem der Arbeitslosenversicherung abzugrenzen.[88] In der Tat hat denn auch bereits der Gesetzgeber bei der Schaffung der Invalidenversicherung auf die Bedeutung einer Abgrenzung zwischen (gesundheitlich bedingter) Erwerbsunfähigkeit (= IV) und anderweitig bedingter Erwerbslosigkeit (= ALV) hingewiesen.[89] Schon vor der Schaffung einer obligatorischen Arbeitslosenversicherung auf eidgenössischer Ebene im Jahr 1976 war eine klare Trennung zwischen Invalidenversicherung und Arbeitslosenversicherung gesetzlich gewollt;[90] sie entsprach bereits bei der Schaffung der Invalidenversicherung der konstanten EVG-Praxis[91]. Der Wandel des Begriffs der Erwerbsunfähigkeit lässt sich deshalb nicht mit der Schaffung des Obligatoriums der Arbeitslosenversicherung auf Bundesebene erklären.

Vermittlung BehinderterIn anderer Hinsicht bestehen dagegen Bezüge zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung, und zwar bei der Vermittlungsfähigkeit von behinderten Personen (Art. 15 Abs. 2 AVIG[92]) sowie bei den Beiträgen zur Förderung der Arbeitsmarktforschung (Art. 73 Abs. 1 AVIG[93]). Gemäss Gerichts- und Verwaltungspraxis bedeutet der Begriff «ausgeglichene Arbeitsmarktlage», dass die versicherte Person nicht nur bei Hochkonjunktur und Arbeitskräftemangel als vermittelbar gelten darf.[94] Das EVG führte dazu Folgendes aus:

«Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber eine Milderung der vom alten Recht für die Vermittlungsfähigkeit von Behinderten verlangten Erfordernisse erreichen. Nur noch die Erwerbslosigkeit, welche «voll oder stark überwiegend» auf den Gesundheitszustand eines Behinderten zurückzuführen ist, sollte nicht mehr zu dem von der Arbeitslosenversicherung gedeckten Risiko gehören (…) Selbst Bezüger einer ganzen Invalidenrente sind daher im Falle ihrer Arbeitslosigkeit grundsätzlich anspruchsberechtigt, sofern ihre Vermittelbarkeit auch durch die ungünstige Konjunkturlage beeinträchtigt und für Arbeitsstellen, bei welchen sie mit einem sozialen Entgegenkommen von Seiten des Arbeitgebers rechnen können, nach wie vor gegeben ist (…)»[95]

Beiträge Behinderter in der ALVEs entspricht damit Sinn und Zweck der Vorschrift, dass die Vermittlungsfähigkeit von behinderten Personen in der ALV weit gefasst wird, um zu vermeiden, dass Personen, die zuvor Beiträge bezahlt haben, nun (mangels Vermittlungsfähigkeit) ohne Leistungen dastehen.[96] Die Rechtsprechung ging denn auch in der Arbeitslosenversicherung dazu über, den ausgeglichenen Arbeitsmarkt insofern weit zu fassen, als er auch «soziale Winkel» umfasst, d.h. Arbeits- und Stellenangebote, bei welchen behinderte Personen mit einem sozialen Entgegenkommen seitens des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin rechnen können.[97]

Verwertbarkeit der RestarbeitsfähigkeitDiese besondere Regelung in der Arbeitslosenversicherung zugunsten der behinderten Personen wirkt sich gegenteilig aus, wenn sie unbesehen auf die Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung übertragen wird, worauf Miriam Lendfers zu Recht hingewiesen hat:[98]

«Komplett aus dem Kontext gerissen tauchen nun diese Ausführungen zum Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarkts [in der Arbeitslosenversicherung] bei der Frage der Verwertbarkeit einer Restarbeitsfähigkeit bei der Invaliditätsbemessung wieder auf – hier wirken sie sich aber nicht etwa zugunsten der Versicherten aus, im Gegenteil. Wie überzeugend kann vor diesem Hintergrund die Behauptung sein, der ausgeglichene Arbeitsmarkt enthalte auch Nischenarbeitsplätze, bei denen die versicherte Person mit einem sozialen Entgegenkommen des Arbeitgebers rechnen könne?»

Von der Einführung des ATSG bis heute
Schaffung des ATSG

Vom IVG ins ATSGMit der Schaffung des ATSG wurde der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes vom IVG ins ATSG überführt (Art. 7 und 16 ATSG).[99] Im Bericht des Ständerates vom 27. September 1990 betreffend die parlamentarischen Initiative zur Schaffung eines Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts wurde – in Anknüpfung an die vorbestehende Rechtslage – vorgeschlagen, den ausgeglichenen Arbeitsmarkt bei der Frage des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen.[100]

Vorschlag des BundesratesDagegen gehörte das Merkmal des ausgeglichenen Arbeitsmarktes nach Auffassung des Bundesrates nicht in die Umschreibung der Erwerbsunfähigkeit. Der Bundesrat schlug deshalb vor, die Formulierung «auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt» durch «auf dem in Betracht kommenden Arbeitsmarkt» zu kürzen. Der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» sei eher ein Abgrenzungskriterium für die Zuständigkeit zwischen einzelnen Sozialversicherungen, also zwischen der Invalidenversicherung und der Arbeitslosenversicherung. Der Hinweis sei in der Definition der Bestimmung des Invaliditätsgrades am Platz, nicht aber in Bereichen, wo es um kurzfristige Geldleistungen gehe.[101]

KommissionDie nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit prüfte diesen Vorschlag, folgte letztlich aber dem ursprünglichen Entwurf des Ständerates. In der Subkommission ATSG wurde die Bedeutung der «Ausgeglichenheit» des Arbeitsmarktes einlässlich erörtert.[102] Von Expertenseite wurde dargelegt, dass sich der Begriff des Arbeitsmarktes durch zwei Kriterien auszeichne: Der Arbeitsmarkt müsse für den Versicherten in Betracht kommen und ausgeglichen sein. Während das erste Kriterium in der Person des Versicherten angelegt sei, setze die Ausgeglichenheit ein gewisses Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage (keine Vollbeschäftigung, aber auch keine Arbeitslosigkeit) voraus. Der konjunkturell bedingte Arbeitsausfall werde durch die Arbeitslosenversicherung abgedeckt. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit sei nicht von der aktuellen Arbeitsmarktlage abhängig.

ObjektivierungIm Bericht der nationalrätlichen Kommission wird weiter ausgeführt, dass der Verlust der Erwerbsmöglichkeiten über das Kriterium des ausgeglichenen Arbeitsmarktes «objektiviert» und «nicht von den Zufälligkeiten der Arbeitsmarktschwankungen abhängig» wird.[103] Es wäre stossend, wenn die Erwerbsunfähigkeit je nach Arbeitsmarktsituation unterschiedlich hoch angesetzt würde. Wer in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise auszuüben, aber keine Arbeit finde, sei nicht erwerbsunfähig, sondern arbeitslos. Das Arbeitsmarktrisiko sei nicht über die Invaliden- bzw. Unfallversicherung gedeckt. Die Definition des Ständerates entspreche der Gerichtspraxis. Eine Streichung des ausgeglichenen Arbeitsmarktes, wie es der Bundesrat beantragt hatte, würde den falschen Eindruck erwecken, dass bei der Feststellung der Erwerbsunfähigkeit auf den real existierenden Arbeitsmarkt abzustellen sei. Dies sei nicht der Fall, weil Art. 22 E-ATSG (= Art. 16 ATSG), der den Grad der Arbeitsunfähigkeit bestimme, wieder am ausgeglichenen Arbeitsmarkt anknüpfe. In Grenzfällen sei es weitgehend eine Ermessensfrage, zwischen Erwerbsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit zu unterscheiden. Dies sei indes kein Grund, das bisher geltende und bewährte Abgrenzungsprinzip aufzugeben. Die Formulierung des Ständerates diene der Klarheit.[104]

Verzicht auf DefinitionAuf eine gesetzliche Definition des ausgeglichenen Arbeitsmarkts wurde auch im ATSG verzichtet. Das EVG führte seine bisherige Rechtsprechung unter der Geltung des ATSG fort und hielt dazu fest: «(…) auch an den einzelnen Bemessungskriterien (Validen- und Invalideneinkommen, Berücksichtigung einer zumutbaren Tätigkeit sowie des ausgeglichenen Arbeitsmarktes etc.) ändert sich unter der Herrschaft des ATSG nichts»[105].

Neue Herausforderungen

MissbrauchsproblematikAb Mitte der 1990-er Jahre stieg die Zahl der IV-Rentenbeziehenden erneut stark an,[106] namentlich bei den psychischen Erkrankungen.[107] Anders als die Krisendiskussion in den 1970-er Jahren löste diejenige der 1990-er Jahre intensive gesetzgeberische Aktivitäten in der Invalidenversicherung aus und war in dieser Hinsicht politisch folgenreicher, wobei aus historischer Sicht eine «Medikalisierung der Krisendiskussion» auffällt.[108] Es entzündete sich erneut eine Missbrauchsdebatte, wobei vor allem Rentenbeziehende mit psychischen Problemen im Fokus standen.[109] Verwaltungs- und Gerichtspraxis gingen dazu über, die (problematischen) Abstrahierungen bei der Invaliditätsbemessung erwerbstätiger Versicherter in die gesundheitliche Komponente «vorzuverlagern».[110] Die Ausschälung psychosozialer und soziokultureller Faktoren[111] wie die inzwischen überwundene Überwindbarkeitspraxis[112] sind Ausdruck einer Verwaltungs- und Gerichtspraxis, die Defiziten in der (medizinischen) Abklärung und einer befürchteten Inflation «sozialer Leiden» entgegenwirken wollte. Vergleiche der Daten der 1990-er Jahre ergaben, dass in Jahren mit niedrigem wirtschaftlichem Wachstum die Ausgaben der Invalidenversicherung markant anstiegen.[113] Auswertungen konnten aber keinen institutionalisierten, routinemässigen Übertritt von Erwerbslosen zur Invalidenversicherung feststellen.[114]

Strengere PraxisDie strengere Beurteilung von Rentengesuchen durch die kantonalen IV-Stellen seit der Jahrtausendwende sowie eine restriktivere Gerichtspraxis in Bezug auf die Zusprache von IV-Renten wurden schliesslich im Rahmen einer grossangelegten Studie durch das BSV im Jahr 2007 bestätigt.[115] Bei knapp der Hälfte der Fälle war das Invalideneinkommen streitig, dessen Bemessung in direktem Zusammenhang mit dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt steht. Bei den untersuchten Urteilen ging es unter dem Titel des Invalideneinkommens viel stärker um dessen technische Ermittlung als um die Frage der Zumutbarkeit. Gemäss den Studienautoren entstand «aufgrund der Befunde zu den Gesundheitsschäden und zur Zumutbarkeit der Eindruck, dass das Gericht eine explizite Diskussion über die Zumutbarkeit bis zu einem gewissen Grad vermeidet»[116].

NischenarbeitsplätzeDie höchstrichterliche Rechtsprechung zum «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» blieb insofern konstant, als immer wieder auf BGE 110 V 273 verwiesen wurde.[117] Anders als zu den Anfangszeiten der IV ging die Gerichtspraxis in einer Vielzahl von Fällen gar nicht mehr vertieft auf die gesamten persönlichen Verhältnisse[118] der Versicherten ein, sondern verwies pauschal auf die Möglichkeit von Überwachungs- und Kontrollarbeiten als körperlich leichte Tätigkeiten.[119] Als Beispiele solcher körperlich leichter Tätigkeiten nennt die Rechtsprechung auch heute noch Concierge, Parkplatzwächter, Museumswärter oder Lagerist.[120] Solche Nischenarbeitsplätze sind aber bedingt durch den Strukturwandel im Schwinden begriffen. Dieser Strukturwandel wirkt sich nach den verfügbaren Studien besonders negativ auf die Beschäftigungschancen niedrig qualifizierter Arbeitnehmender aus,[121] denn der schweizerische Arbeitsmarkt hat sich über die Jahrzehnte tiefgreifend verändert: Während die Zahl der Erwerbstätigen im Industriesektor abnahm, gewann der Dienstleistungssektor zunehmend an Gewicht. Im Jahr 2003 arbeiteten bereits knapp 72 % der Erwerbstätigen in der Schweiz in diesem Sektor. Viele Arbeitsplätze gingen deshalb verloren. Die Anforderungen an die erwerbstätige Bevölkerung haben sich durch diese Verschiebung der Arbeitsplätze in den Dienstleistungssektor und durch den technischen Fortschritt im Industriesektor verändert. Betroffen sind – wie erwähnt – vor allem gering qualifizierte Erwerbstätige.[122]

Kaufmännischer BereichAber auch die Struktur der Arbeitsplätze im kaufmännischen Bereich hat sich erheblich verändert, wo – wie das EVG bereits im Jahr 2003 festhielt – «die Tendenz in Richtung Sachbearbeitung geht, die Beschränkung eines bestimmten Arbeitsplatzes auf reine Schreib- und Kommunikationsfunktionen zunehmend schwieriger wird und auch Arbeitsplätze mit einem einfachen Aufgabenbereich vielfältig ausgestaltet sind (…) Wenn es schon für Gesunde schwierig ist, eine sich auf einfach Büroarbeit beschränkende Stelle zu finden, so muss bei einem bestimmten, im Einzelfall zu würdigenden Mass an gesundheitlich bedingten Einschränkungen bei der Ausübung einer schon seltenen Tätigkeit davon ausgegangen werden, dass das Leistungsvermögen auch bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage nicht mehr Gegenstand von Angebot und Nachfrage bildet und die Restarbeitsfähigkeit in der betroffenen Tätigkeit nicht mehr wirtschaftlich verwertbar ist».[123] Der Bundesrat äusserte sich ähnlich (dazu unten Rz. 67).

5. IV-Revision

Überwindbar­keitMit der 5. IV-Revision wurde Art. 7 ATSG wie folgt ergänzt: «Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist».

Invaliditätsfremde FaktorenDazu führte der Bundesrat Folgendes aus:

«Der Ausschluss invaliditätsfremder Faktoren bei der Beurteilung des Vorliegens einer Invalidität wird nun ausdrücklich im Gesetz verankert. Eine relevante Erwerbsunfähigkeit liegt somit nur in dem Ausmass vor, in dem der Verlust der Erwerbsmöglichkeiten einer versicherten Person auf dem in Betracht fallenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt auf die gesundheitliche Beeinträchtigung selber zurückzuführen ist. Beeinträchtigen andere Gründe (sog. invaliditätsfremde Faktoren wie z.B. Alter, mangelnde schulische Ausbildung, sprachliche Probleme, sozio-kulturelle Faktoren, reines Suchtgeschehen, Aggravation usw.) die Erwerbsmöglichkeiten, so dürfen diese bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit (und damit der Invalidität) nicht berücksichtigt werden. In jedem Einzelfall ist eine klare Ausscheidung dieser Faktoren vorzunehmen.»[124]

«Die Erwerbsmöglichkeiten versicherter Personen werden durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Nach Artikel 7 ATSG ist ausschliesslich die durch gesundheitliche Beeinträchtigungen verursachte Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen. Eine Invalidität ist demnach nicht gegeben, wenn die Erwerbsunfähigkeit nicht durch einen Gesundheitsschaden, sondern durch andere Faktoren (sog. invaliditätsfremde Gründe wie z.B. Alter, mangelnde Ausbildung, Verständigungsschwierigkeiten, reines Suchtgeschehen, soziokulturelle Umstände, Aggravation, etc.) verursacht wurde. Die Rechtsprechung hat die Bestimmung von Artikel 7 ATSG vielfältig konkretisiert und dadurch zu einer Abgrenzung der invaliditätsbedingten Erwerbsunfähigkeiten von anderen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit beigetragen (vgl. BGE 127 V 294, 107 V 21 Erw. 2c; ZAK 1989, S. 313, AHI 1999, S. 238 Erw. 1 mit Hinweisen)».[125]

Urteil LeonardelliDer Bundesrat verwies dabei auf eine Rechtsprechung, die anknüpfend an den Entscheid Leonardelli eine durchaus differenzierte Betrachtung sog. «invaliditätsfremder» Faktoren vornahm: Im Urteil des EVG vom 28. Juli 1999 (= AHI 1999, S. 237 ff.) hielt das EVG fest, dass invaliditätsfremde Gründe wie Lebensalter, Dienstalter, mangelnde Ausbildung und Verständigungsschwierigkeiten bei der Beurteilung der einer versicherten Person noch zumutbaren Arbeit zu berücksichtigen sind. Wird jedoch gestützt auf alle Umstände eine Arbeit als zumutbar erachtet, sind diese Faktoren – weil invaliditätsfremd – bei der Invaliditätsbemessung ausser Acht zu lassen. Eine solche Herangehensweise entspricht der Unterscheidung von Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit. Weiter entspricht sie Art. 16 ATSG, der durch die 5. IV-Revision nicht geändert wurde. Die Rechtsprechung hat denn auch eine gesetzliche Verschärfung des Invaliditätsbegriffs durch die 5. IV-Revision zu Recht verneint.[126]

StrukturwandelDer Bundesrat hat in einer Stellungnahme zu einem parlamentarischen Vorstoss noch im Jahr 2013 und damit nach Inkrafttreten der 5. IV-Revision (2008) zum ausgeglichenen Arbeitsmarkt Folgendes festgehalten:[127]

«Bei der Berechnung des Invaliditätsgrades wird auf das Kriterium ‹ausgeglichene Arbeitsmarktlage› zurückgegriffen, um den strukturellen (und nicht den konjunkturellen) Veränderungen des Arbeitsmarktes Rechnung zu tragen, beispielsweise der Produktivitätssteigerung oder dem Rentabilitäts- und Kostendruck. Diese Faktoren könnten die Integration der versicherten Person in das Unternehmen erschweren oder gar verunmöglichen und haben deshalb auch einen Einfluss auf den Leistungsanspruch der versicherten Person.»

VerhältnismässigkeitJüngst hat der Gesetzgeber die IV-Stellen ausdrücklich darauf verpflichtet, «die sprachlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten der Versicherten» im Rahmen der Versicherungsleistungen zu berücksichtigen,[128] und die Rechtsprechung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in die Beurteilung der Zumutbarkeit zwingend auch Verhältnismässigkeitsüberlegungen einfliessen.[129]

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
505 s. 9 illüstrasyon
ISBN:
9783038054221
Yayıncı:
Telif hakkı:
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