Kitabı oku: «Das Krähennest», sayfa 5

Yazı tipi:

Wer könnte Dir besser nachfühlen, was Zwischen-den-Lagern-Stehen bedeutet – als ich? Lang vor unserer Trennung hab’ ich’s durchgemacht: Weißt Du denn, wie wund, wie zerrissen ich mich gefühlt habe, von dem Tag an, als ich merkte, wohin es Dich zog, wo Du, nur mit einem Fuß gleichsam, zögernd, vorfühlend – aber dennoch bereits standest? Du freilich hast es anders gedeutet; da es Dir doch selbstverständlich schien, ich müßte Dir, wohin immer, Gefolgschaft leisten, hast Du mir meine Standhaftigkeit verargt – jene Standhaftigkeit, die mich zur Wanderhaften machte, während Du, der sich innerlich von mir, von allem, was uns Gesetz gewesen war, ja, von Dir selbst entferntest, äußerlich dort verbliebst, wo für mich nicht länger Heimat war.

Du hast mir meine Haltung übelgenommen, ja Du hast mir vorgeworfen, es wäre gar nicht meine Überzeugung, François habe in meiner Seele über Dich gesiegt, um meines Sohnes willen stünde ich im Begriffe, Dich im Stich zu lassen – da es sich doch umgekehrt verhielt, da François es war, der meine Haltung annahm und zur Tat machte! Ach, Ernest, es war, sprichst Du Dir auch alle diplomatische Eignung ab, immer Dein kühnster, Dein schlauester Schachzug, den anderen glauben zu machen, er tue, was Dir willkommen wäre, was Du ihm vielleicht wünschlich übertragen hattest, aus eigenem! Längst, ehe ich noch daran dachte, nahmst Du bereits mein Fortgehen für ausgemacht an, so zwar, daß Du mir’s als Fahnenflucht auslegen konntest.

Ich habe an dieser schweigenden Übereinkunft festgehalten, um Deine Empfindlichkeit zu schonen, nicht Du habest mir zu verstehen gegeben, mein Platz sei nicht länger an Deiner Seite – an mir liege es, wenn ich mich dort nicht mehr zurechtfand, ich sei’s, der es nicht mehr in unserer Gemeinschaft behagte: Du zeigtest Dich erbittert über meinen Entschluß fortzugehen! Aber wie sehr hätte ich Dich enttäuscht – wäre ich geblieben!

Ich sah ein, daß ich Dich nicht länger zur Verstellung, zur Verschleierung, zur Beschönigung zwingen durfte, ich mußte Dir den Weg freigeben, mußte es auf mich nehmen, daß es mein Eigensinn war, der eine Bindung zerstörte, die durch ihre Unverbindlichkeit stärker und dauerhafter gewesen war als jede gesetzliche. Nicht vergebens bin ich fünfzehn Jahre lang in Deine Schule gegangen, jetzt war’s an mir, zu zeigen, daß ich ausgelernt war und mein Gesellenstück zuwege bringen konnte.

Ich habe mir damit freilich den Lebensfaden abgeschnitten, bestehe nur mehr fort, wie ein Zahn, dem man den Nerv abgetötet hat: Eine Weile hält er, leblos, noch aus, dann wird er langsam abbröckeln oder plötzlich abbrechen.

Es könnte aber auch sein, daß mein Blick bloß an der Oberfläche haften blieb, daß ich nach dem Schein urteilte, daß es sich in Wirklichkeit doch anders verhielt: Denn wir waren doch, nicht wahr, ineinandergewachsen, zu einer Gemeinsamkeit, die sich nicht ohne Blut und Wunden trennen ließ, es muß doch auch in Dir ein Aufruhr stattgefunden haben, ein Ausbruch, eine Erschütterung, die Dich in einem Tumult, einer Ratlosigkeit, einem Chaos zurückließ, woraus sich nicht gleich am nächsten Morgen – dem Morgen meiner Abreise – etwas Neues gestalten konnte. Zuletzt ist es doch immer der Ausgleich zwischen dem chthonischen Element in uns und unserem Tag-Ich, was unser Wesen bestimmt. Gewiß, wir haben uns zu entscheiden, alle Sittlichkeit ist darin beschlossen, daß wir’s tun, aber nur ein Einfältig-Frommer könnte glauben, nur ein Heuchler vorgeben, es sei mit dieser einmaligen Entscheidung auch getan, wir seien nun mit einem Schritt über die Grenze hinweggesetzt und dürften uns nun mit allem unserem transzendenten Reisegepäck in dem neuen Seelenzustand häuslich niederlassen. O nein, so einfach ist es nicht! Immer gibt es Rückfälle, Remissionen; nicht einmal, zehnmal, hundertmal müssen wir unsere Entscheidung wiederholen, ehe sie gültig bleibt.

Du merkst wohl, daß ich aus Erfahrung spreche. Noch im Zuge – wie hatte ich mich zu beherrschen, um nicht an der nächsten Station hinauszuspringen –, auf der Schiffsbrücke noch, und ehe sie auf der anderen Seite niedergelassen wurde, immer gab es den gleichen verzweifelten Streit zwischen meinem bewußten – und meinem unbewußten Willen! Ach, Ernest, welches Fegefeuer könnte uns stärker versengen als solcher brennende Kampf? Oh, wie habe ich mit Dir gerungen, mit Dir, dem ich doch widerstandslos seine Freiheit zurückgegeben, den ich nicht mehr gerufen, von dem ich mich losgesagt hatte – mit welcher wilden Kraft habe ich mich in diesem Jenseits meiner früheren Existenz an Dich geklammert, wie habe ich Dich beschworen: Tu’s nicht! Bist Du meiner überdrüssig oder glaubst Du, Dein Neues ließe sich nicht mit Deinem Alten vereinbaren, dann geh von mir – aber geh doch nicht von Dir selbst fort! Verleugne Dich nicht, gib Dich nicht preis!

Dann erst, nach einer fürchterlichen Krise, wurde ich gewahr, daß Du nicht mehr zurückzuhalten, zurückzurufen seist, daß, während in mir noch alles Übergang und Widerruflichkeit war, Du bereits am anderen Ufer standest, unerreichbar für mich, verloren – ohne Wiederkehr.

Damit begann die zweite Phase meiner inneren Passion. Ich war nur mehr Verzweiflung, Haß, Vorwurf, Zerstörung, Untergang. Ich plünderte Dein Andenken von allem, was ich Dir zugeeignet – was Du selbst ihm schöpferisch gegeben hattest, nackt standest Du vor mir, ein Verunstalteter, ein Verkrüppelter, ein Aussätziger!

Dann, zögernd zuerst, lebhafter bald, entschiedener, wandelte Abscheu sich zum Mitleid, Verachtung in Trauer – und beides, Mitleid und Trauer, in den leidenschaftlichen Wunsch, stellvertretend die Buße auf mich zu nehmen, Dein Unrecht zu sühnen.

Ich begriff: Es konnte doch nicht mehrere ganz verschiedene Ernests geben, sind auch unserer viele zugleich in dem nämlichen Seelengehäus eingeschlossen, so lösen sie doch zeitlich einander nicht dergestalt ab, nicht so geht es zu, daß einer, der gestern edel, bedeutend, wichtig, beispielgebend war, heute ein wertloser Lump sein könnte! Nicht seine Substanz hat sich so verändert, wir nur erblicken, seinem gestrigen verglichen, heute in ihm ein anderes Phänomen …

Hier nun setzte meine Schwierigkeit, mein Versagen ein: Du, mit dem ich mich – wie kurz war es her! – eins gefühlt hatte, warst mir nun zum Rätsel geworden, alles, was ich begreifen konnte, war nur, daß ich zu urteilen, zu verurteilen kein Recht besaß, daß ich mich erst zu verstehen bemühen, daß ich abwarten mußte, wie sich diese unzusammenhängenden Bruchstücke Deines Wesens vor meinen Augen organisch verschmelzen und zusammenschließen würden. Und damit erkannte ich auch meine Aufgabe: Ein Akt der Zerstörung hatte stattgefunden, ein Meisterwerk war selbstvernichtet, untergegangen, ausgelöscht aus der Welt des Seienden, die Götter hatten ein Trugbild – wie jene Helena, die bald in Troja, bald in Ägypten auftauchte – an seine Stelle gerückt, die echte aber, die Urgestalt, die entrückte, mußte wiedergeboren werden, aus mir.

So, Ernest, hab’ ich nun jahrelang dahingelebt, ankämpfend gegen alles, was mir Deine Erscheinung entstellen und verzerren könnte, ringend um Dein echtes, Dein ewiges Antlitz. Dich, den Wiederzugebärenden, trug ich in mir, von einer Station meiner unaufhörlichen Wanderung zur nächsten.

Ermiß nun, welche Erschütterung, welche Verwundung, welche Gefahr ich unversehens, unschuldig auf mich lenkte, als ich mit einem Ruck der magischen Nadel Deine Stimme beschwor, und welche Verzweiflung mich daraus überstürzte! Was ich aus meinem Willen und aus Gnade gezeugt und ausgetragen, was ich mit meinem Blut genährt hatte, wurde nun abermals getötet, ging abermals unter, abermals triumphierte die Scheingestalt, und sie sprach mit Deiner echten Stimme – ach, wie überzeugend! – genau das, wovon ich mich nimmer überzeugen lassen darf!

Diese Begegnung brachte mir eine andere, neue Erkenntnis bei: daß es uns nämlich nicht verstattet ist, eigensinnig in der Welt der Ideen uns abzuschließen und daß jener Ernest Mathieu, der, unter der deutschen Herrschaft und ihr zustimmend, in Paris weiterlebt, vielleicht keine Scheingestalt – daß er wirklich sein möchte, viel wirklicher als mein platonisch erschaffener Ernest, der ihn ersetzte, und daß der Kampf zwischen beiden weitergehen muß, bis zum tragischen Ende: denn anders als tragisch darf es ja nicht ausgehen.

Ich frage mich nur, ob Du das denn fühlst, Ernest, ob, wie die hörbaren Wellen von Deinem Mund an mein Ohr – die unhörbaren Wellen aus meiner Seele an die Deine gelangen, ob Du ihre Wirkung verspürst, ob Du weißt, daß es zwischen uns niemals ganz zu Ende sein kann, solang eines von uns lebendig ist, und, wer weiß, noch darüber hinaus?

So kommt es, daß ich, die jahrelang jeder Nachricht über französische Tatsachen scheu ausgewichen ist, jetzt nach allem hungere, was Dich mir wieder sichtbar machen könnte. Nicht so, wie ich Dich in mir erweckt habe, nein, von mir abgelöst, dort, wo Du heute stehst, auf dem schmalsten Grat zwischen Mission und Selbstpreisgabe, Aufopferung – und Hinopferung anderer, zwischen Erfolg und Gefahr, gerechtfertigter Bewunderung – und erklärlichem Angriff.

Manches steht ja da und dort über Dich zu lesen, ist, ich weiß nicht wie, durch die atlantische Mauer gedrungen: unter anderem, daß Du mit einer Nachdichtung der ›Pandora‹ befaßt seist und im Athenée, mit den Spitzen der deutschen Behörden unter den Zuhörern, Bruchstücke daraus vorgelesen habest; daß im ›Odéon‹ eine Neuinszenierung Deines ›Roi Fou‹ – und im ›Théâtre Français‹ die Uraufführung Deiner Übertragung des ›Robert Guiscard’ zusammen mit jener des Demetrius-Fragments‹ vorbereitet werde.

Heißt das, Du stelltest Dich, bis zur Selbstverleugnung, vollständig in den Dienst der neuen Herren? Es gibt mir die Sorge ein, wie es denn um jene Deiner Pläne steht, die wir noch zusammen durchgesprochen haben, ob Du inzwischen etwas davon ausgeführt, ob Du alle fallengelassen hast? Drückt sich der Umschwung in Deiner äußeren Existenz vielleicht in einer Stilwandlung und in einem ganz neuen Inhalt aus? Es liegt mir viel daran, zu erfahren, wo nun Dein geistiger Mittelpunkt liegt, wohin neue Flutungen Dich getragen, fortgeschwemmt, mitgerissen haben, wie Dein dichterisches Ich auf solche Bewegung antwortet, wie Du Deine Aufgaben – selbstgestellte nämlich, nicht solche, welche die fremden Meister Dir setzen – bewältigst, und ob Du, der vor dem Exil zurückschauderte, in Dir selbst daheim geblieben bist?

Ach, Ernest, ich hätt’ es ja so gern beschwiegen, hätte mich gern weiter darüber hinweggetäuscht: Was hilft es mir, daß ich’s versuche, meine alte brennende irdische Liebe zu Dir ins kühlleuchtend Übersinnliche zu verklären? Immer wieder, bei Tag, bei Nacht hab’ ich Dich vor mir, wissend, es ist ja nur ein von mir erschaffener Schemen – und es ist doch Deine Wirklichkeit, nach der es mich verlangt, nach jedem Haar auf Deinem Haupt, jeder Wimper an Deinen Lidern, jeder Runzel unter Deinem Auge, nach jedem Lächeln und jeder Zornesfalte! Wie Du lebst, möcht’ ich wissen, irdisch lebst, schläfst, arbeitest, Dich kleidest, speist, Deinen Tag ausfüllst, Deine Nächte zubringst. Dich möchte ich sehen, wie Du jetzt bist, in Deiner augenblicklichen schwierigen Lage: denn, nicht wahr, sogar Dir, der doch immer meisterlich Haltung und Würde zu wahren wußte, muß es jetzt bisweilen hart ankommen, nicht die Fassung zu verlieren und zwischen überschwenglicher Huldigung, die doch vielleicht nicht so sehr Deiner Persönlichkeit, Deinem Genius, wie Deiner praktischen Verwendbarkeit gilt, und maßlosem Haß – der doch, wer weiß, enttäuschter, gekränkter Liebe entstammen mag, Dein Gleichgewicht zu behaupten.

Ernest, ich möchte mich, da doch äußerlich alles andere zwischen uns jetzt aufgehört hat, wie eine Mutter über Dich beugen, Deine Schläfen zwischen meine Hände nehmen, Deine Stirn streicheln und Dir ins Ohr sagen: ›Trotz allem: sorg’ Dich nicht um mich, ich halt’ mich schon aufrecht, es tut ja nicht so weh …‹

Weil aber zuletzt doch wenig Aussicht besteht, dieser Brief könnte Dir je unter die Augen geraten, weil ich keine Möglichkeit sehe, ihn Dir zukommen zu lassen, ohne daß es Dir schadete – darf ich Dir’s schließlich eingestehen: Ich hab’ nicht vorausgewußt, daß es so weh tun könnte.

Nicht nur Fehlgriffe und Verbrechen, auch edelmütige Handlungen werden aus Mangel an Vorstellungskraft begangen, der Handelnde ist immer blind. Heute begreif’ ich’s gar nicht mehr, wie ich denn meinen Entschluß ausführen – wie ich’s über mich gewinnen konnte, mich von allem, was mein Leben ausmachte, zu scheiden und wie Alceste zu den Göttern ewiger Nacht hinabzusteigen. Aber es ist vollbracht – und alle meine Sorge dreht sich nur darum, wie ich denn mein Opfer sinnvoll zu machen vermöchte.

Niemand könnte einsamer sein, als ich es bin, keiner der alten Freunde – soweit sie noch erreichbar wären – kennt meinen Aufenthalt, und wer hier mit mir umgeht, weiß nicht, wer ich war, wer ich bin: eine Sprachlehrerin, die ihr Fach leidlich versteht. Auch wer mir hier Freundliches erweist, nimmt mit einer Gebrauchsausgabe der Madeleine vorlieb, wie ich mit einem Dasein, das, gegen mein früheres gehalten, unvergleichlich dürftig und unbequem ist. Mir bereitet es eher eine kleine Genugtuung, unter mir ein hartes Lager zu spüren, meinen Gaumen zu kasteien, meine Zunge zu züchtigen, meinem Auge und Ohr Fasten und Karenz aufzuerlegen, beinah’ genieße ich meine Entbehrungen.

Denn wie geringfügig sind sie zuletzt, an der einen großen, qualvollen Entbehrung gemessen: Es ist ein Antlitz, das ich nie mehr sehen werde, ein Auge, in das ich nie mehr meines versenken darf, eine Hand, die ich nie mehr festhalten, Lippen, die ich nie mehr berühren werde, es ist der Klang einer Stimme, einer einzigen Stimme, wonach mich so sehnlich verlangt, und hörte ich sie wieder wie neulich – sie zerrisse mir das Herz.«

6

»Können Sie mir vielleicht verraten, Horaz, warum Arthur meine Stunden geflissentlich schwänzt? In drei Wochen hab’ ich ihn nur dreimal im Französischen Zimmer gesehen, jedesmal Donnerstag zum Diktat, das er mir schließlich nicht einmal abgibt. Ich höre, er kommt im Juli zur Prüfung, das rührt an meine Verantwortlichkeit: Was fang’ ich nun mit ihm an?«

»Kein Grund, sich über Arthur aufzuregen, Madeleine. Er schwänzt Ihre Stunden nicht geflissentlich, sondern nur gewohnheitsmäßig, zu mir kommt er auch nicht. Die Prüfung wird er hinausschieben – und zuletzt gewiß nicht in Sprachen ablegen. Interessiert er sich überhaupt für etwas, dann noch am ehesten für Biologie und Chemie, weit stärker aber für Landwirtschaft; seine Lieblingsbeschäftigung ist, die Kühe zu melken. Alles andere langweilt ihn. Dazu kommt, daß er in seinem Liebeshandel – Sie wissen natürlich, wer es ist« (Madeleine weiß es nicht) »recht unglücklich ist, also mag ich ihn nicht auch noch quälen. Ja? Was gibt es denn, Lalage?«

Horaz beantwortet eine häusliche Frage seiner Frau, dann fährt er fort: »Schade, daß ein so, gesunder, natürlicher Bursch wie Arthur sich just dieses hysterische Mädel ausgesucht hat. Ja, ich weiß schon, Lalage, man kann in solchen Dingen nicht gut von ›Aussuchen‹ reden. Du hast recht, es hat ihn eben erwischt, und er ist nicht imstande, sich von ihr loszureißen. Eine fatale Anhänglichkeit, denn es gibt hier doch noch andere kleine Schönheiten mit einem unvergleichlich liebenswürdigeren Gemüt. Imogen aber benimmt sich wie eine ausgepichte Kokette und tut dann wiederum so unschuldig, als wüßte sie nicht, wie die Kinder zur Welt kommen.«

»Wie die Kinder nicht auf die Welt kommen, sagtest du wohl besser, Horaz, um die andere veraltete Frage kümmern sich unsere Buben und Mädel längst nicht mehr. Ich weiß nicht genau, wie weit hier so ein Gebändel zu gehen pflegt, gibt es hier aber einmal ein Malheur, dann gewiß nicht auf die übliche schlichte Art«, sagt Lalage im Verschwinden. Horaz der Jüngere hat nämlich eben sein Erwachen durch kräftiges Gebrüll angekündigt.

Madeleine ist ein für allemal nach Tisch zum Tee im Horazwagen eingeladen, der ist keine Karawane, sondern einer der ehemaligen Eisenbahnwaggons, die, erinnern wir uns, von Tristan bald nach seiner Ankunft innen und außen farbig angestrichen wurden und die später wohnungsmäßig eingerichtet worden sind.

Mit wie wenigem sich diese jungen Leute begnügen, wie bescheiden sie mit allem vorlieb nehmen, denkt Madeleine. Wie selbstverständlich besorgt Lalage jede Arbeit, die ihr durch die augenblicklichen Verhältnisse zugemutet wird! Auch Horaz läßt sich nämlich, wie Tristan, von seinen Schülern mit Haut und Haar verspeisen, auch er hat in seinem vorläufigen Daheim Abend für Abend die Mitbewohner der Wagen zu Gast, und Lalage, die doch tagsüber mit den Ansprüchen ihres lebhaften Söhnchens, seiner Fütterung, seinem Bad, seinen Säckchen, Spielhöschen und Jäckchen, weidlich beschäftigt ist, steht, sobald es acht Uhr geschlagen hat, in ihrer winzigen Küche, mit der Zubereitung belegter Brote und dem Aufgießen des Tees für ein hungriges Dutzend befaßt. Wann eigentlich findet sie Zeit für sich selbst, für Horaz?

Erstaunlich genug ist es, denkt Madeleine, daß diese jungen Menschen, die sich doch alle »agnostisch« nennen, Männer und Frauen, mit wortkarger, selbstverständlicher Mitmenschlichkeit in einer wahrhaft urchristlichen Gemeinschaft aufgehen, ohne sich auch nur den bescheidensten Rest persönlicher Abgeschlossenheit zu sichern.

Noch über etwas anderes wundert sich Madeleine: Wie kommt es denn, daß es mitten im Kriege in der Télème-Abtei eine solche Fülle junger, gutaussehender, hochgewachsener, anscheinend gesunder Lehrer gibt? Wie kommt’s, daß Horaz, sechs Fuß hoch, breitschultrig, brillenlos, wenn auch ungewöhnlich bleich von Antlitz, im »Krähennest« Latein, die Landessprache und Literaturgeschichte unterrichtet, statt in Italien oder Burma in Malariasümpfen zu kampieren? Gewiß aber ist diese Möglichkeit ihm jederzeit gegenwärtig und die Ursache, warum er einen ausgedienten Eisenbahnwagen als ihm gemäße Unterkunft ansieht. Sie ist der Grund, warum Lalage sich vor keiner Arbeit scheut und jede Unbequemlichkeit klaglos auf sich nimmt.

Wie nun ist er, wie sind die anderen – ›Tamino, der Flötenspieler und Griechischlehrer, Newton, der Physik und Chemie, Euklid, der Mathematik unterrichtet, Lysander, der, statt Archäologie zu treiben, kleinen Buben und Mädchen Holzschnitzen und Wachsfigurenkneten beibringt – wie sind sie alle, wie ist Tristan, dem Würgengel entgangen? Wahrscheinlich ist es ein gemeinsames Schicksal, ein gemeinsamer Glücksfall, der die Herzen hier so aufgelockert hat, daß in der Télème-Abtei jeder jedem gehört.

Da sie einander viermal täglich in den Speisesälen und unzählbar oft in den Höfen und auf den Gründen des Lavendelhofs begegnen, sollte man meinen, sie hätten bereits genug voneinander gesehen –» aber nein: Immer ist, wenn es halb neun schlägt, irgendwer bei irgendjemandem zu Gast. Einladungen können gar nicht früh genug festgesetzt werden, man müßte sich darauf vormerken, wie auf einen Theatersitz.

Vielleicht hängt diese ausgedehnte Geselligkeit damit zusammen, daß sie Vorwand ist, um einen Einzigen oder eine Einzige bei sich zu sehen, solange man nämlich einander noch nicht nah genug gekommen ist, um der anderen entraten zu können; eine Weile später wird jeder Vierte und Fünfte, der Dritte zumal, als Störung empfunden werden – und noch später wiederum sind die anderen nicht mehr bloßer Vorwand noch Störung, sie sind willkommen, man ist nun einander sicher, ist heimlich, zu ungesellschaftlicher Zeit, einander beigesellt, und nimmt zwischendurch wieder Interesse an anderem.

Madeleine kommt nach einiger Zeit darauf, daß es im »Krähennest« lauter Krähenpaare gibt, nicht nur unter den Schülern haben Florizel und Olivia, Fenton und Rosalind, Malcolm und die hüftenschwingende Jessica –, haben Bassanio und die liebliche Juliet, Benedikt und Beatrice, Arthur und Imogen zueinander gefunden, auch im Stab der Lehrer und Pflegerinnen, der Haus- und Landarbeiter, Köchinnen und Küchenmädchen ist man mehr und minder ernsthafte Bindungen eingegangen, wovon die meisten wohl binnen kurzem von anderen gleich ernsthaften abgelöst werden dürften, während einige sogar zur tragischen Folgerung der Ehe führen mögen.

Die Frage, die vor nicht ganz vier Jahren an der nämlichen Stelle von Jacques und Antonius auf etwas zynische Weise erwogen und erörtert wurde, hat jetzt die selbstverständlichste, die natürlichste Lösung gefunden. Auch jetzt gibt es im »Krähennest« einen ehrgeizigen jungen Lehrer, der schlechterdings mit nichts Geringerem als einer jungen Löwin zufriedenzustellen wäre – so hört es sich wenigstens an –, und doch leibt er bereits seit geraumer Zeit mit der leisesten, zurückhaltendsten, kühlsten und förmlichsten unter allen Krähennestlingen, mit Isabella, der Oberschwester, in stillschweigendem Einverständnis.

Die Befassung mit ihren heiteren, beglückenden und nur sehr selten, wie in Arthurs Fall, trübseligen und beunruhigenden Herzenssachen bindet die jungen Krähen an ihr Nest, sie wissen gut genug, nirgends ließe man ihnen ähnliche Freiheit, nirgendwo anders brächte man ihren Wünschen so viel Verständnis entgegen: Sie halten nämlich für Güte und Nachsicht, was bloß schlaue Berechnung ist!

»Solltest du nicht«, fragt Tristan mit verdächtiger Sanftmut seine Freundin Hermione, »in den neuen Prospekt die Ankündigung einfließen lassen: ›Für passende Liebschaften kann die Leitung zwar keine Gewähr übernehmen, doch leistet sie solchen, die sich in ihrem Wirkungskreis anspinnen, weitestgehenden Vorschub …‹?«

Hermione funkelt Tristan an: »Freilich paßt es dir nicht, daß Bassanio sich neuerdings so viel mit Juliet abgibt und daß Malcolm ganz überraschend der hüftenschwingenden Jessica nachläuft. Du möchtest eben deine Buben lieber für dich allein behalten, einzig«, fügt sie augenzwinkernd hinzu, »um sie in jener Askese zu bewahren, die allein der hohen Kunst gemäß ist.«

Tristan zuckt gleichmütig die Achseln, er ist an solche Eifersuchtsanwandlungen und Temperamentsausbrüche bei Hermione gewöhnt. Am besten ist es, sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Madeleine hätte in diesem nebelig-düsteren Land der triefenden Winter und der wässerig zerfließenden Sommersonne – im Lande der gotischen Kathedralen, der grauen Steinhecken und grauen Steindörfer mit den tief herabhängenden, pagodenartig geschwungenen Strohdächern, der schwelenden Laubscheiterhaufen und überhohen Schornsteine, deren Rauch von den tief niederwehenden Wolkenfederbüschen kaum mehr zu unterscheiden ist –, sie hätte in diesem Bereich der schweigsam-schwerfälligen Erwachsenen bei der Jugend nicht so viel unverbindliche Leichtherzigkeit erwartet, nicht solch ein Schmetterlingswesen in Liebesdingen.

In dem verwahrlosten Park, zwischen verfallenen Gutshäusern und eilig zusammengestoppelten Notstandsbaracken, längs der roh zusammengefügten Steinmauer, die da und dort von Efeu und gelb blühendem Winterjasmin freundlich übergrünt ist, kommen sie herabgeschritten, paarweis:

Die Jünglinge und Knaben grobbeschuht, in langen und weiten Hosen aus geripptem Samt, in allen Schattierungen des Laubes: von zartem Birkengrün zu dem schwärzlichen der Stechpalme, in allen Farben der Baumrinde, von Ahornsilber und Haselbraun zum Olivengrün der Eibe. Über dem farbigen Hemd, dessen zurückgeschlagener Kragen – einen zarten oder sehnigen Hals freigibt, tragen sie eine Holzfällerbluse aus Leder oder eine bunte Wolljacke, sie gehen barhaupt, die blonde oder braune Locke rechts oder links übers Auge fallend.

Die Mädchen sind alle nacktbeinig, viele auch bloßfüßig in luftigen Sandalen, manche tragen grobe Wollsocken zu derben, holzbesohlten Halbschuhen, ihre Röcke aus Baumwolle oder Cheviot sind kurz, die Wollschliefer oder Windjacken nachlässig übergeworfen, ihr lockiges oder straffes Haar fällt lang auf die Schultern hinab, bei wenigen nur ist es knabenhaft kurz gehalten; mehrere darunter sind lieblich, andere Teufelsschönheiten, einige jünglingshaft mager, andere vollbusig und wellenhüftig, jede aber ist mit einem bescheidenen Reiz ausgestattet, und zwar genau demjenigen, der Malcolm oder Lorenzo, Bassanio oder Laertes, Lancelot oder Hamlet, Florizel oder Benedikt – Herzklopfen verursacht.

Sie kommen über den lehmbraunen, überfluteten Weg, als gingen sie auf elysischen Gefilden, als berührten ihre Füße in dem groben Schuhwerk den schlammigen Boden kaum, und als wanderten sie jetzt nicht in ein abgenütztes, vernachlässigtes Haus mit ausgetretenen Holzstiegen, abbröckelndem Verputz, gesprungenen Wänden und rostigen Türschnallen hinüber, sondern als träten sie unter die hochgeschwungenen Schwibbogen ihres Luftschlosses ein, wo Puck und Ariel sie mit zarter Elfenkost bewirten.

Madeleine blickt ihnen nach, mit Rührung und heimlicher Trauer: bei solchem Anblick ist sie wieder siebzehnjährig – und zugleich durchtränkt, durchtränt von aller Erfahrung solcher, die immer mit ihrem Herzen gelebt haben. – Ihr beginnt zu früh – sagt sie sich –, Ihr verdammt euch dazu, vorzeitig, ehe Ihr euer Wesen kennt und für Bindungen reif seid, im engen Haushalt mit kleinlichem Pflichtenkreis eingefangen zu bleiben – oder Ihr kommt, gleichfalls vorzeitig, darauf, daß es nicht dauern kann, daß nichts dauern kann, gar nichts, und auch das ist schlimm, ist schlimmer, denn, wenn es beginnt, sollte man immer glauben, es könne nicht enden! Dann aber wird es für euch zum Gesellschaftsspiel, der Partner zu Tango und Foxtrott wird Liebespartner; er küßt, sobald die Musik abreißt, seiner Tänzerin die Innenfläche der linken Hand und fordert dann eine andere auf, wie auch sie sich einem anderen in die Arme gleiten läßt. Von einem zum anderen Mal wird es dünner, gewöhnlicher, reizloser, fadenscheiniger, man sollte nicht daran denken müssen, denn, trotz allem: Welch lieblicher Anblick! –

Nachzügler kommen, zwei, die nicht darnach aussehen, als schritten sie ihrem Luftschloß entgegen. Auf den ersten Blick dünken sie Madeleine ganz fremd, da sie näherkommen, erkennt sie in dem Burschen den jungen Arthur. So verwandelt sieht er aus, daß ihn zu verkennen begreiflich wird. Sonst blickt er gelangweilt, hochmütig und abwesend über jeden, der ihn anspricht, hinweg – oder durch ihn hindurch, jetzt sieht er zerknirscht und unglücklich drein, verbittert und gekränkt. Leise, unhörbar sogar auf die geringste Entfernung hin, sagt er etwas zu seiner Begleiterin, faßt mit seiner herabhängnden rechten Hand nach ihrer schlaff niederhängenden Linken, sie zuckt zurück, runzelt über ihren gewitterblauen Augen die braunen Brauen, ihr reizendes Gesicht ist verkniffen und verzerrt, noch leiser und zugleich zischend gibt sie ihm etwas Ununterscheidbares zur Antwort, da erblickt sie just Madeleine – und hat im Nu ihre Gesichtszüge geordnet und besänftigt, es ist jetzt ein außerordentlich hübsches, glattes Jungmädchenantlitz, das nämliche, welches Madeleine viermal wöchentlich im Französischen Zimmer vor sich hat.

Den Lehrern in der Télème-Abtei wird nicht das anderwärts übliche Klassenbuch mit Namensregister zur Verfügung gestellt, dadurch verlangsamt sich das Kennenlernen der Schüler, ohne solche sichtbare Beihilfe kann man in wenigen Wochen nicht gut hundertachtzig Namen auswendig behalten und mit den dazugehörigen Physiognomien bekleiden. Madeleine ist beinahe stolz darauf, daß sie Bassanio nicht länger mit seinem Doppelgänger Benedikt, Laertes nicht mehr mit Malcolm, und Romeo nicht mehr mit Florizel verwechselt, der Madeleines Gedächtnis übrigens durch sein Stottern freundlich unterstützt. Es wäre indessen solcher Irrtum verzeihlich, denn jedes Gesicht, jede Gestalt scheint im »Krähennest« zwiefach aufzutauchen: Nur die Kleine mit den schönen dunkelblauen Augen unter gewitternden Brauen – an deren Namen Madeleine sich nicht zu erinnern vermag – und Arthur mit dem aufrechtstehenden flammenden Schopf halten sich einsam abseits, einzig in ihrer Eigenart und unverwechselbar.

₺943,34