Kitabı oku: «Das Krähennest», sayfa 6
II
1
Madeleine sitzt zu Häupten eines langen Tisches im kleinen Speisesaal vor drei großen Schüsseln aus Emailblech, woraus sie zehn Teller der Reihe nach zu füllen hat, und gewahrt erstaunten Seitenblicks, daß auf dem Platz zu ihrer Linken, der durch ein gekreuztes Besteck bislang freigehalten wurde, verspätet wie immer, Arthur sich niederläßt. Als sie endlich ihre übernommene Hausfrauenpflicht abgeleistet hat und sich ihrem mittlerweile ausgekühlten eigenen Teller zuwenden darf, spürt sie Arthurs Blick auf sich ruhen. Er sieht heute durchaus nicht unnahbar und abweisend aus, eher so, als wäre er einem kleinen Gespräch nicht abgeneigt; da es Samstag ist, will Madeleine gerade nach den Aussichten des Fußballwettkampfes fragen, der am Nachmittag auf den Gründen des Lavendelhofs zwischen den Krähennestlern und den Gymnasiasten des Nachbarstädtchens ausgetragen werden soll, da beginnt Arthur ganz ohne besondere Aufforderung und Anregung aus eigenem zu reden.
Dürfte er sich bei Madame Madrus vielleicht ein wenig nach der französischen Landwirtschaft erkundigen? Sie ist der unsrigen in allen Stücken doch enorm überlegen, nicht wahr?
Madeleine ist nun durchaus nicht sachverständig in Ackerbau und Viehzucht, hat aber immerhin auf dem Besitz ihrer Schwiegereltern, La Tour im Calvados, von dem sie den Namen trägt, ein bißchen zugeschaut.
»Haben Sie dort Kühe gehabt?«
»Freilich, die ›grüne Normandie‹ ist Meierei für ganz Frankreich.«
»Wie viele?«
»Es hat gewechselt. Als ich knapp nach Ende des vorigen Krieges zum erstenmal hinkam, waren kaum vier Dutzend übrig, ein großer Teil war requiriert worden, viele mußten geschlachtet werden, späterhin wurden die Stallungen wieder aufgefüllt auf mehr als das Doppelte; zuletzt, als wir nach dem Tode meines Schwiegervaters das Gut verkauften, waren sie abermals auf die Hälfte ungefähr geschwunden. Wir konnten nicht genug Schweizer und Stallmägde bekommen.‹‹
»Was für Rasse denn?«
»Die heimische Normannische Rasse, braun oder schwarzweiß gescheckt, kurzhörnig.«
»Sie werden besser ausgesehen haben als die unseren. Waren Sie schon einmal im Kuhstall, Madame? Nun, er ist wahrhaftig keine Sehenswürdigkeit. Die Kühe gleichen den sieben mageren Jahren, um eines vermehrt. Es heißt, ihre Magerkeit sei Rasseeigentümlichkeit, wie das blonde Fell, aber warum sind dann Io und Iris ganz gepolstert? Ich glaube eher, der Papa hat sich beim Ankauf übers Ohr hauen lassen, was versteht auch so ein Doktor der Nationalökonomie von Ökonomie! Also muß ich jetzt dazu schauen. Am liebsten möchte ich Landwirtschaft in Frankreich studieren, in einer Schule sowohl wie praktisch. Es gibt doch in Paris eine Hochschule für Bodenkultur, nicht wahr?«
»Nicht bloß in Paris, auch in einer Reihe von anderen Städten, Montpellier zum Beispiel.«
Madeleine klaubt, was ihr von diesem Gegenstand geläufig ist, zusammen, um Arthurs Wißbegierde zu stillen; während sie trockene Namen und Zahlen, Betriebseigenarten und Fachausdrücke für landwirtschaftliche Maschinen aneinanderreiht, sieht sie, wovon sie abgezogen redet, lebendig vor sich:
Die Normandie mit ihren tiefgrünen saftigen Weiden und bunten Rindern, ihren Obstwäldern im rosigen Blütenschaum, mit den tropfenblitzenden Netzen, welche über den schwarzen Kielen der umgestülpten Fischerbarken in der Sonne trocknen. Die Bretagne mit grauen Klippen, grauen Dünen, grauen Steindörfern; die Kiefernwälder der Vendée; die zackigen Weinberge an der Garonne, die im August von tausenden Stanniolblättchen, als Vogelschreck ausgelegt, glitzern und gleißen. Die blonde Beauce, wogenden Weizenhaars; die Provence in dichten Wolken silbergrauen Öllaubs, das sich, von der Stachelpeitsche des Mistrals gezüchtigt, schweratmend hebt und senkt, wo knorriger Stamm den Panfuß zeigt und die schwarzen Sterne der Dryaden aus den staubigen Blättern äugen. Die spiegelnde Loire, welche in gewundenen Treppen und Türmen, mit Terrassen und Zinnen, Belfried und Wallgraben, kräuselnd die untergegangene Feudalzeit hinabschwemmt; die dunklen Maulbeerbaumgänge an der Rhône, die lange nach ihrem Zusammenfluß mit der trägen grauen Saône deutlich unterscheidbar ihre glasgrüne Strömung eigensinnig weiterrollt, so daß die beiden Flüsse sich noch weithin verfolgen lassen, wie im Antlitz eines Kindes die Züge der Mutter, die Wesensart des Vaters deutlich zu erkennen sind, zwiespältig, niemals ganz vereinigt.
Burgund mit seinen Rebenhügeln, wo in der Kartause von Champmôle die Weinenden wie steinerne Trauerweiden sich über die marmorharten Häupter der furchtbaren Herzöge neigen; Flandern mit emsigen Webstühlen, rauchenden Schloten und den verzweifelt ausgestreckten Armen der schwarzen Windmühlen vor dem kalten nordischen Himmel – und Madeleines Heimat, die Insel Frankreichs, die ihr Königtum, ihre Sprache, ihr Gesetz, ihre Überlegenheit den anderen Provinzen mitgeteilt, aufgedrückt, aufgedrängt hat, sie, die kleinste, die unscheinbarste, die unfruchtbarste von allen: fruchtbar nur an Geist, an Mutterwitz, an Flinkheit des Worts, an durchdringendem Blick, an feinem Ohr, an aufbrausendem Temperament, an der Fähigkeit raschen Umschwungs, jener inneren Beweglichkeit, die vorgestern der weißen Schärpe der Armagnacs, gestern dem violetten burgundischen Hut mit dem Andreaskreuz – die heute der Bourbonischen Lilie – morgen der phrygischen Mütze – übermorgen dem Napoleonischen Adler folgte – die vor einem Augenblick die Trikolore gehißt hat – und im nächsten die schwarzweißrote Flagge mit dem Hakenkreuz.
– Man muß – denkt Madeleine – sein Vaterland verloren haben, um es zu lieben, wie ich es liebe, mit eines Kindes ehrfürchtigem Dank für alle Gaben, eines Kindes Demut unter züchtigenden Streichen – und mit der unauslöschlichen Zärtlichkeit einer Mutter, die sich über das Fiebernde beugt: Ach, was immer es angestellt, wie schwer es sich vergangen, wie bitter es sie enttäuscht hat, was macht es schon aus, vorausgesetzt, daß es sich erhole und lebe!
Ja, wüßte Madeleine genau, das Gesetz der Fremden wäre, wie Ernest es voraussetzt, ihrem Volke heilsam, es bedürfte des Zwangs, der starren Ordnung, der vorgekauten geistigen Speise, der festgefügten Gesellschaftsform, aufgebaut nicht nach einer geistigen und sittlichen Hierarchie, einem christlichen Ordo, sondern der vollkommensten Unterordnung, dem unverbrüchlichsten Gehorsam, der hingebungsvollsten Leistung für den vergotteten Begriff »Staat« gemäß – könnte sie glauben, es gereichte Frankreichs Kindern zum Segen, wenn sie nicht an der väterlichen Hand, nicht am Knie der Mutter aufwüchsen, sondern in einer riesigen, vielfach verschachtelten, zwanghaft gestaffelten, nur im Erotischen unbeaufsichtigten Gemeinschaft; dürfte sie annehmen, es gereichte den Jünglingen und Mädchen zum Vorteil, wenn sie nicht mehr die unvoreingenommene Lehre der Sorbonne und der anderen Universitäten, sondern die politisch bevormundete, beschnittene und zugestutzte Heilsbotschaft der nationalsozialistischen Hochschulen empfingen –, dächte sie, es förderte die Innigkeit des Ehelebens, wenn Gatte und Gattin nicht so sehr einander wie ihren Parteivorständen gehören; könnte sie zugestehen, daß ihre heimatliche Erde unter Kunstdünger und Traktor und den neuesten technischen Gewaltmitteln besser gediehe, daß der Bauer unter der neuen Ordnung bei größerer Schonung, geringerer Plage, geringeren Abgaben leichter atmen würde als in der aus Väterzeit überkommenen, langsam veränderten und verbesserten Arbeitsweise (aber nein, er ist ja einer neuen Fron und Robot, einer neuen Corvée untertan), müßte sie zugeben, daß ihr Vaterland, ausgesogen und herabgekommen, von Schädlingen geplündert, von eigensüchtig-eitlen Abgeordneten entsittlicht, von feigen Soldaten preisgegeben, von gekauften Generalen verraten und ausgeliefert – von seinen Besten beweint und verlassen – der harten Bestrafung, der strengsten Zucht, der unausgesetzten Aufsicht, der vollkommensten Freiheitsberaubung und Führung durch Fremde bedürfte – sie sagte sich, wie die Mutter vor dem Throne Salomos: Möge mein Kind der Fremden zugehören, an ihrer Brust ruhen, ihrer Stimme gehorchen, falls es nur lebt, atmet, wächst, gedeiht –, falls es nur dem Tode entrissen wird!
Gerne nähme Madeleine Verbannung, Armut, Abhängigkeit lebenslang auf sich, dürfte sie nur hoffen, daß die Jahre ihrer einsamen Ausgesetztheit ihrer Heimat Festigung, Eintracht, Erneuerung bescheren würden. Aber, unterbricht Madeleine sich schnell: wenn ich das bejahen dürfte, wäre ich dann hier? Hätte ich mich von allem abgetrennt, woran mein Herz hängt, wenn ich an so etwas glauben dürfte?
Madeleine, die Frage, welche sie längst durch die Tat beantwortet hat, noch hin und her erwägend, hat sich noch nicht völlig entschieden, da sagt, in einem Tonfall, der verrät, daß er noch nicht lange den Stimmwechsel überstanden hat, Arthur mitten in ihre Überlegung hinein:
»Ich halte überhaupt nichts von Politik, wie sie jetzt betrieben wird, hab’ mich auch nicht von unseren Pseudo-Parteien unserer Pseudo-Wahlbewegung als Pseudo-Kandidaten aufstellen lassen. Sie wissen doch, Madame, daß wir hier in der Schule einen Wahlkampf hatten? …«
Madeleine fährt auf. Sie hat den Knaben völlig vergessen, sollte sie indessen, während sie in ihre Heimat entrückt war, ihm Rede und Antwort gestanden haben? Sich zusammenraffend sagt sie: »Knapp vor meiner Ankunft, nicht wahr? Ich glaube noch die Überreste einiger Werbebilder und Schlagwörter an den Wänden gesehen zu haben, konnte aber den tieferen Sinn und die Absicht dieser Bemühung nicht recht herausfinden, da doch gleich nach dem Wahlgang alles fortgeblasen zu sein schien. Was also steckte dahinter?«
»Ein Experiment meines Vaters, der meint, man könnte nicht früh genug politisiert werden, und wenn man die Achtzehnjährigen ungefragt ins Heer, in die Bergwerke und Munitionsfabriken steckt, müßte man die Sechzehn- und Siebzehnjährigen darauf bringen, eine gefestigte politische Meinung zu bekommen. Er findet es gar nicht bedenklich, wenn man mit Schlagworten umgeht, ehe man weiß, wofür sie stehen, desto besser wird man, von keinerlei Sachkenntnis angekränkelt – wie Tristan sagt –, zur Abrichtung geeignet sein! Ich hatte mit dem Papa darüber eine etwas stürmische Auseinandersetzung, aber freilich versteh’ ich nichts davon (das ist just meine eigene Meinung, und deshalb hab’ ich nicht mitgetan) und sollte, wenn ich mich schon einmal weder von den Konservativen noch von den pazifistischen Sozialisten – von den Kommunisten nicht zu reden, die hab’ ich dem Golliwog überlassen – als Kandidaten aufstellen lassen wollte, mich doch wenigstens auf meine Universitätsprüfung vorbereiten. Für meine Eltern beginnt der Mensch nämlich erst bei einem akademischen Diplom. Wie denken Sie darüber, Madame?«
»Nicht ganz so wie Ihre Eltern, scheint mir; ich finde, es kommt in allem und jedem darauf an, was immer man tut, ordentlich und so gut wie möglich zu machen. lch ziehe gewiß einen tüchtigen Handwerker jemandem mit einer löcherigen Universitätsbildung vor, in Ihrem Fall aber, Arthur, liegt die Frage doch wohl so, daß Sie etwas Begonnenes auch zu Ende – oder zu einem Abschluß bringen sollten, was immer man angefangen hat, sollte man nicht als Stückwerk zurücklassen. Und da Sie die Reifeprüfung für fast jeden Beruf als Voraussetzung brauchen werden, möchte ich sie an Ihrer Stelle weder unnötig lang hinausschieben noch mit ungenügender Vorbereitung ablegen. Je früher Sie darüber hinwegkommen und je sicherer und beruhigter sie darangehen, desto angenehmer für Sie. Und wenn ich auf etwas Persönliches kommen darf: Ich sähe Sie gern öfter als bloß einmal wöchentlich im Französischen Zimmer. Haben Sie denn gar keine Zeit für mich? Geben Ihnen die Kühe wirklich so viel zu schaffen?«
»Die acht scheinen mir immerhin wichtiger als die vier Konjugationen, sie sind wenigstens etwas Lebendiges!«
»Auch eine Sprache ist, richtig begriffen, etwas Lebendiges, Arthur, doch darüber wollen wir uns jetzt nicht auseinandersetzen. Etwas anderes aber: Wollten Sie künftig wirklich nach Frankreich, um dort Landwirtschaft zu studieren, dann möchte ich Ihnen vorher einen Wink geben: Wir Franzosen sind in diesem Punkt sehr empfindlich. Kann einer mit uns in unserer Sprache umgehen, dann sehen wir das als eine uns persönlich erwiesene Aufmerksamkeit an, er hat von vornherein gewonnenes Spiel und darf unseres Entgegenkommens, unseres Beistandes gewiß, sein. Sie scheinen mir doch zu vernünftig, als daß Sie bloß aus Widerspruchsgeist und Eigensinn ihren eigenen Absichten und Wünschen im Wege stehen wollten. Also?«
»Ich will mir’s gesagt sein lassen, Madame.«
2
Madeleine fährt jäh aus dem Schlaf, geweckt durch ein ihr wohlbekanntes, eigentümliches und unverwechselbares Geräusch, das hervorgerufen wird durch hastiges Umwenden großer Zeitungsblätter. Wer raschelt denn da? Es muß noch sehr früh sein; ist es bereits eine heutige Zeitung, ist die Post schon gekommen? Schwerlich, noch fällt kein Lichtstrahl durch das brüchige Gewebe des schadhaften Rollvorhangs. Dann wendet sie den Blick der Richtung des Geräusches zu: dort, ihrem Bett gegenüber, vor dem Kamin, wo ein schüchternes Feuer vorsichtig zu flackern beginnt, steht ein mächtiger Lehnstuhl, mit Genueser Samt in einem verschossenen Erdbeerrot überzogen, darin, durch die hohe Lehne und die abstehenden Ohren des Sessels von der einen, durch ein großes Zeitungsblatt von der anderen Seite vor Madeleines Auge verborgen, bewegt sich jemand: leicht zu erraten, wer …
– Sonderbar – denkt sie –, daß ich diesen Kamin bis jetzt so völlig übersehen habe, er macht das kahle Zimmer gleich traulicher. Zwar heizen sie hierzulande auch offene Feuerstellen mit Kohle, aber jedes lebendige Feuer ist doch besser als das unsichtbare im Füllofen, der die Wärme durch tote Röhren weiterleitet. –
Im Lehnstuhl rührt es sich nun vernehmlicher, es kommt daraus zuerst ein Ellbogen, dann ein Arm im gesteppten schwarzen Seidenärmel eines Hausrocks, dann der klar umgrenzte Seitenriß eines Gesichts zum Vorschein – und nun kehrt Ernest ihr sein Antlitz voll zu, während er seine große Zeitung knisternd zusammenfaltet.
»Ernest«, bettelt Madeleine, »schau, ich bin noch so müde und möchte gerne weiterschlafen, kannst du denn das Rascheln nicht sein lassen? Du weißt doch, ich vertrag’s nicht. Aber …« Madeleine erschrickt, richtet sich, auf den rechten Arm gestützt, vollends in die Höhe, rufend: »Ernest, Ernest, wie kommst du denn her ins ›Krähennest‹? Raschle nur weiter, soviel du magst: daß du hier bist, ist wunderbar!«
»Das«, sagt Ernest Mathieu so spitzbübisch, daß alle Linien und Fältchen seines schönen gealterten Gesichts zu hüpfen und zu flackern beginnen, »wollte ich auch meinen.«
Madeleine will zu ihm hin, will aufspringen, findet sich aber durch den Gürtel ihres Pyjamas an die Bettstatt angeschlossen. »Hilf mir doch, Ernest!« ruft sie, ohne Antwort zu bekommen; mühsam (denn jetzt findet sie auch ihre Schultern festgebunden) wendet sie sich wieder dem Kamin zu: aber da ist keiner mehr, nur eine weißgestrichene Holzwand – kein samtener Lehnstuhl, nur ein grüner Rohrsessel, kein Ernest Mathieu –, nur gähnende, grinsende Einsamkeit und Ödnis.
Durch den grünen Wirbel eines tiefen Trichters wird sie von kreisenden weißen Schlingen ruckweis aufwärtsgerissen, an den ruhigen flachen Wasserspiegel wachen Bewußtseins. Wo ist sie gewesen? Welcher schrecklichen Gefangenschaft ist sie entronnen? War sie nicht angeschmiedet an einen feuchtkalten Nebelring des Purgatoriums, abgetrennt von Ernest …, ach, sie war ja augenlos in der Tretmühle mit den anderen Sklaven, pausenlos das unendliche Rad der vier Konjugationen drehend, pausenlos die Blätter des nämlichen Buches umwendend, pausenlos sagend: »Faites la liaison, mes enfants.« Wie ist es ihr denn gelungen, aus deren falschen Zirkel dieser Gefangenschaft auszubrechen, wer hat ihr dazu verholfen?
Gleichviel, sie ist zurück, ist daheim, sie geht mit Ernest durch die Straßen ihrer Vaterstadt. Zwar haben sie sich schauerlich verändert: Schmerzverkrümmt neigen sich die Gebäude mit vorspringenden gewölbten Fenstergittern, mit gewundenen Schornsteinen, die Füllhörnern gleichen (Pandorens Füllhorn mit dem gefährlichen Inhalt, dem fragwürdigen Bodensatz), taumelnden Dächern und aufspringenden Fenstern weit gegeneinander vor. Sie alle, Paläste wie Zinshäuser, haben Farbe gewechselt, aus dem überlieferten sanften heimischen Perlgrau sind sie in ein grelles, befehlshaberisches Lehmbraun umgeschlagen, das, an Juchtenstiefel, Lederüberschwung und Straßenkot erinnernd, dem Auge weh tut. Eine traurige Überraschung – aber was macht es schon aus? Ginge sie denn nicht durch Wasser und Feuer, Fegefeuer und Hölle, wenn sie Ernest an ihrer Seite weiß? Jetzt – sie sind im Begriff, die Straße zu überqueren – fühlt sie seine Hand stützend an ihrem Ellbogen: das ist Fürsorge, Geborgenheit, hier ist der Schweifenden Ziel, hier ihre Heimat, er ist ihre Erde, in ihm wurzelt sie, aus ihm saugt sie Saft und Kraft, für ihn gedeiht sie. Hinter ihr liegt – eine vage Erinnerung – der Trug der Trennung, die Marter des Exils, die Täuschung ewigen Abschieds. An seinem Arm, das Brückengeländer mit der Hand, mit den Füßen kaum den Boden streifend, schwerelos, schwebt sie über den Fluß, dort drüben sieht sie den Griechentempel, die Wohnstatt ihrer Schutzheiligen. Krümmen sich auch die Säulen, beugt sich der Triglyph, wellen sich die Treppen rauschend – es zieht sie hin: »Wir könnten«, sagt sie mit einem Aufblick zu Ernest, »noch schnell in die Madeleine, zum Segen …« Ernest aber schüttelt den Kopf, wortlos biegt er in eine breite Straße ein, wo sonst hinter breiten Spiegelscheiben das Köstlichste eines köstlichen Landes zur Schau gestellt war:
Die duftigsten Kleider, die gewagtesten Hüte, die flaumigsten Pelze, die strahlendsten Schmuckgegenstände, das Edelste an Hausrat, an Bildern, an Bronze- und Marmorstatuen, an Altertümern. Jetzt aber? Keine Zobelmäntel, keine auffallenden Hüte, keine blitzenden Armbänder und schimmernden Perlenketten, nicht Verdüren noch Vernis Martin, weder Sèvres noch Famille verte: Nichts anderes gibt es jetzt in diesen Schaufenstern als Modelle von Tanks, Torpedos, Schlachttürmen, Flugzeugen, Mörsern, Haubitzen, Kanonen, Maschinengewehren und Minenwerfern – ja, diese selbst in natürlich-unnatürlicher Größe. Nebenan, unter dem roten Hakenkreuz, sieht man die abschreckendsten Bilder von Wunden und Verstümmelungen – nein, es sind ja keine Bilder, es sind Wachsfiguren – oder sind es am Ende gar echte Verwundete, echte Krüppel? Fußlos, armlos, augenlos, einem ist die Wange abrasiert, dem anderen das Kinn fortgerissen, jenem der Schädel skalpiert.
– Ich muß trachten, Ernest von hier fortzubringen, alles Häßliche, Krankhafte, Ekelerregende muß von ihm ferngehalten werden, er verträgt solchen Anblick nicht. –
Sie berührt leicht seinen Ärmel. »Komm, Ernest, laß uns doch lieber zurückgehen, ins Luxembourg vielleicht, oder gleich nach Hause, in die Rue de Fleurus.« Da wird Ernest von einem deutschen Offizier festgehalten und angesprochen. Er trägt schwarze Uniform, an dem Husarentschako einen Totenkopf und gekreuzte Knochen; am goldenen Kragen silbernes Eichenlaub, eine Reihe Orden an der Brust, den »Pour le mérite« um den Hals, einen Reitstock in der behandschuhten Linken; der rechte Ärmel hängt schlaff herab; an seinen glänzenden schwarzen Stiefeln klirren, als er sie jetzt zusammenschlägt, die Sporen.
»Gestatten Sie, Herr Generaloberst«, sagt Ernest auf deutsch, »daß ich Sie mit meiner Frau bekanntmache. Madeleine, das ist Generaloberst von Totleben.«
»Sehr erfreut, gnädige Frau, habe schon so viel von Ihren berühmten Mittwochabenden gehört, ich machte Ihnen gerne meine Aufwartung, nur muß ich« – der Generaloberst weist mit seinem wehenden leeren Ärmel auf das rote Hakenkreuz – »zuerst dort hinein. Eben bin ich am Invalidenpalast vorbeigekommen, da knallt etwas, ein Luftzug fegt mir den Tschako vom Kopf, ich muß einen kleinen Schaden davongetragen haben, bitte, sehen Sie doch …« Der General nimmt seinen Tschako ab, einen kahlen Schädel entblößend, der wie eine Teekanne geformt ist, und wie von einer Teekanne den Deckel hebt er, seinen einzigen Arm aufreckend, die Schädelplatte ab; Dampf strömt heraus, Blutdampf kräuselt sich zum wehenden scharlachroten Federbusch, ganz bleich ist das Gesicht darunter, fleischlos, abgezehrt von Hyänen und Würmern, bleckende Zähne, mit kurzer aufgestülpter Nase: Wer – wer ist denn das?
»Ernest, Ernest, wie haben sie dich mir zugerichtet, Ernest, unkenntlich bist du – und dennoch hab’ ich dich erkannt, stirb mir nicht, Ernest, vergeh mir nicht, verwes’ mir nicht …«
Ernest nickt sehr feierlich mit seinem Totenkopf, der Federbusch auf seinem Elfenbeinschädel bäumt sich, bläht sich, weht auf, wolkig –, eine blutigrote Sonnenuntergangswolke, die Madeleine auf ihrem Rücken fortträgt und sie sanft hinabsenkt, tiefer, tiefer, ins Bodenlose …
Durch den schmalen grünen Trichter steigt sie abermals auf, von weißen Schlingen in die Höhe gerissen, diesmal ins Feurige. Blutiger Schein fällt, von den roten Ziegeln des Fußbodens zurückgeworfen, durch die Risse des Vorhanges. Traumbefangen steht Madeleine auf, mit schweren Gliedern, schweren Herzens, traumberauscht schiebt sie die Klappen, welche den Vorhang festhalten, zurück, rollt ihn auf: Feuchtkalte Luft weht ihr entgegen und weckt sie vollends. Eine lose Dornenranke peitscht mit dürrem Laub raschelnd und knisternd gegen die angelehnte Fensterscheibe; die Eschenreihe, welche den Besitz nach Nordosten abschließt, steht als Schattenriß schwarz und nackt gegen einen flammenden Vor-Sonnenaufgangs-Himmel; jenseits der Straßensenkung sticht die spitze Nadel des Kirchturms in das wunde Firmament. Das Feld dicht vor dem Fenster, gestern noch grüner Rasen, ist, zu einem Kartoffelacker bestimmt, am späten Nachmittag umgebrochen und umgepflügt worden, moderfeucht und bitterlich duften die Schollen; das Haus drüben liegt noch, abgeblendet, schwarz im Schlaf. Schwarz gleitet es über den Acker hin, in der höchsten Esche gibt es bereits aufgeregtes Krächzen und Kreischen und wildes Flügelschlagen:
Madeleine ist zurück im »Krähennest«.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.