Kitabı oku: «Das Krähennest», sayfa 7

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Das Herannahen der Trimestermitte bringt viel Bewegung, Unruhe und Aufregung in die Télème-Abtei. Es wird, überliefertem Brauch folgend, von mehreren Lehrern und den musikalischen unter den älteren Zöglingen unter Basilios Leitung eine Operette im Konzertstil aufgeführt, ohne Kostüme und Bühnenbilder. Außerdem werden die Mittelschüler aus eigenem ein Theaterstück in Szene setzen, ausstatten und spielen. Dekorationen, Kostüme, Kulissen, alles hausgemacht, auch die kleine Komödie selbst, es bleibt alles in der »Enklave Dorrit« beschlossen. Frau Dorrits Drama ist ein wenig heiteres, wenig kindliches Stück, es läßt sowohl vom künstlerischen wie vom erziehlichen Standpunkt aus einigen Zweifel zu, ob es für Darsteller und Zuschauer richtig gewählt ist.

In Lysanders Werkstatt, die gleichfalls in den Stallungen untergebracht ist, geht es hämmernd, sägend, klopfend, bosselnd lebhaft und geräuschvoll zu, Schwaden vielsträhniger, verknäuelter Gerüche dringen von dorther in Madeleines Stube, am nächsten und anhaltendsten der Schweißgeruch des Leims, welcher in schwarzen Eisentöpfen auf dem kleinen Gasherd in der benachbarten Küche siedet. Auf dem großen Tisch liegen Papiermachémasken und die Gipsmodelle dazu von Löwe und Jaguar, Puma, Schakal, Tiger, Panther und Hyäne, so naturgetreu, daß die kleinen Künstler, welche sie bei einer Aufführung der Juniorenschule tragen sollen, angesichts ihrer eigenen Werke von einem Gruseln erfaßt werden. Daneben gibt’s noch Kulissenteile, Entwürfe für einen Urwaldhintergrund, alles riecht nach Farbe, Firnis, Kleister, Lack und Stoffen, nach Holz und heißem Eisen, hauptsächlich aber nach Leim.

Empfindlicher noch als ihr Geruchsinn wird Madeleines Gehör von den Festvorbereitungen in Mitleidenschaft gezogen. Der Theatersaal ist nur durch einen querlaufenden Gang von der Küche getrennt, er liegt genau unterhalb des Französischen Zimmers, die Stallungen sind nicht sehr solid gebaut. Madeleine kann sowohl in ihrer Stube wie während der Unterrichtsstunden unsichtbar den Proben beiwohnen, lange vor der Aufführung bereits weiß sie alle eingänglichen Nummern auswendig, denn die Mitwirkenden singen, pfeifen, trällern, grölen Fragmente daraus, wo immer sie sich gerade aufhalten, am liebsten und ausdauerndsten in Madeleines Küche.

»Ich habe die Bücher, die Sie mir zu leihen so gütig waren, gnädige Frau«, sagt Werther, ein Berliner Flüchtling, jetzt Lehrstudent im ›Krähennest‹, »in Ihre Küche gelegt.«

»In meine Küche, Werther? Welche Übertreibung! Es ist Lysanders und Hermias Küche, Arthurs Küche, Taminos, Diegos und Benedikts Küche, vor allem aber Paulinens Küche, die vormittags gleich ihren ganzen Kindergarten herüberbringt, das gibt für den Tag aus, nachts aber kommen Taminos Gäste über den Hof herüber, Tristans Gäste die Treppe herunter, um sich die Hände zu waschen, Kaffee zu kochen, Brot zu rösten, Liedchen zu pfeifen und Dialoge zu sprechen, heut’ zum Beispiel hat es bis drei Uhr morgens hier rumort …«

»Welche Schule!«, ruft Werther, in einem Seufzer seine Teilnahme für Madeleine ausdrückend. »Was für eine Hexensuppe brodelt denn dort? Wahrlich, ein giftiger Geruch.«

»Das ist eine von Imogens Blusen, die, zu ihrer Augenfarbe abgestimmt, auf Blau umgefärbt wird, für die Theateraufführung, versteht sich.«

»Und wem gehört der Leimtopf, der entschieden noch besser riecht? Lysandern, läßt sich vermuten?«

»Ausnahmsweise ist es nicht der seinige, der hier wurde von Arthur aufgestellt, den die drohenden Festlichkeiten aus seiner Gleichgültigkeit aufgerüttelt haben, er hilft bei den Dekorationen mit.«

»Da sie Imogen zu hintergründen bestimmt sind, ist das erklärlich.«

Imogen, das schöne blauäugige Mädchen, das Arthur ein so schweres Leben bereitet, hat in Frau Dorrits kleinem Stück die Hauptrolle übernommen. Liegt darin vielleicht besondere Absicht? Wollte Frau Dorrit der holdselig dreinschauenden Imogen Gelegenheit geben, ihr zänkisches, boshaftes, an anderer Menschen Qual sich weidendes Wesen auf der Szene rückhaltslos zu offenbaren, um dergestalt den Sohn ihrer Dienstgeber von seiner Verblendung zu heilen? Oder hat die Autorin die Rolle, ohne auch nur an Arthur zu denken, jener unter ihren Schülerinnen zugeteilt, die dafür die passendsten natürlichen Gaben mitbringt? Vielleicht auch hatte sie, während sie an dem Stück schrieb, Imogen unbewußt vor Augen gehabt –, wie immer, Frau Dorrit möchte niemanden anderen in diesem Part sehen.

Auch wäre es, sollte man glauben, vom erziehlichen Standpunkt aus geraten, Imogen zu beschäftigen, abzulenken, in Atem zu halten, sie braucht es. Wären jene, in deren Obhut sie gegeben ist, bessere Seelenkenner, sie hätten längst heraus, daß Imogens Sprunghaftigkeit, ihre Reizbarkeit, ihre Launen recht bedenkliche Ursachen haben mögen; darüber indessen scheint sich im »Krähennest« niemand Sorgen zu machen. Hermione zum Beispiel, die doch aus naheliegenden Gründen an Imogen ein gewisses Interesse gefaßt haben müßte, zerbricht sich nicht den Kopf über die Herzenssachen ihrer Zöglinge. Das paarte sich lächelnd, das trennte sich tränenlos, selten nur überdauerte eine solche Vorfrühlingsneigung die Jahreszeit, in welcher sie emporgekeimt war, man konnte recht gut von Lorenzos Weihnachtsliebe, Bassanios Osterbegeisterung, von Beatricens Pfingstleidenschaft sprechen. Arthur aber, dieser Sonderling, hat seinen Geschmack seit zwei Jahren nicht geändert, er scheint sein Gefühl dauerhaft an diese blauäugige künftige Xanthippe gewendet zu haben.

Was ist nun dagegen zu tun? Sollte man Imogen loszuwerden trachten? Das wäre unklug, weil man sich mit der mächtigen Persönlichkeit, die gegenwärtig bei ihrer Mutter Gattenstelle vertritt, gut verhalten muß, auch gibt Imogen eigentlich keinen Anlaß zu solcher Maßregel, sie beträgt sich Lehrern und Pflegerinnen gegenüber durchaus manierlich; was an Groll, Ärger, Unduldsamkeit in ihr quälgeistert, läßt sie einzig an Kameraden und Kameradinnen aus, mit größter Vorliebe namentlich an Arthur. Es geschieht ihm ganz recht: Warum ist er töricht genug, es sich gefallen zu lassen? Seine Kälte würde Imogen sehr schnell umgewandelt haben. Arthur aber, gleichgültig gegenüber den meisten Lebensfragen, seinen Eltern, seiner Schwester, seinen Kollegen, vor allem aber seinem Schulfortgang, seinen Noten, seiner »Beschreibung«, seinen Prüfungsaussichten gegenüber, dehnt diese Teilnahmslosigkeit nicht auf Imogen aus. Alles, was sie betrifft, ist ihm äußerst wichtig. Imogen ist reizend, sie kann bisweilen witzig und schlagfertig sein, sie hat Ideen und Einfälle – und sie ist unglücklich. Sie ist ein losgelöstes Blatt im Wind, kein Zweig, an dem sie haftete, keine Erde, worin sie wurzelte, nirgends ist sie daheim, niemanden hat sie, der ihr wahrhaft anhinge, den es bekümmerte, wenn lmogen blaß ist – hat sie vielleicht schlecht geschlafen? – oder wenn ihre Wangen sich allzusehr röten, weil sie leicht fiebert; keinen, der in ihren Gaben Fingerzeige für einen künftigen Beruf sähe, und in ihrer Unausgeglichenheit einen Anlaß, der Ursache nachzuforschen. Imogen wird in ein paar Wochen fünfzehn: Hängt ihre Reizbarkeit nur mit ihrem schwierigen Lebensalter zusammen, ihre Bitterkeit mit ihrer Ausgesetztheit?

Arthur findet, man zeige im »Krähennest« recht wenig Mitmenschlichkeit – bränge wenig Teilnahme für Imogen auf. Die beiden Dorrits, unstreitig am nächsten befugt und verpflichtet, sich ihrer anzunehmen, sind tüchtige, rührige Lehrer, allzu tüchtig, allzu rührig, findet Arthur sogar, doch es steckt wenig Gemüt dahinter. Sie haben, auf Sozialistenart, für ihre Schüler ein Schema aufgestellt, haben sie in Schubladen verteilt und jede mit Nummer, Namen und Datum versehen, sie sind noch nicht daraufgekommen, daß Imogen in keine Schublade paßt, in keiner Rubrik, samt Querstrich, Zahlen und Buchstaben, unterzubringen ist: ein Geschöpf für sich, getrieben, weglos, führerlos – und unwillig, sich führen, sich helfen zu lassen.

Die einzige Person im »Krähennest« außer Arthur –, die sich über Imogen ein bißchen aufregt, gerade soviel nämlich, als ihr Temperament zuläßt, ist Isabella, die Oberschwester. Imogens perlmutterzarte Haut, ihr blasses Zahnfleisch, die farblose Innenseite ihrer Augenlider weisen auf Blutarmut hin. Imogen bekommt Blaudsche Pillen und Lebertran mit Orangensaft verabreicht. Die Wrrkung dieser weitverbreiteten Heilmittel auf Imogen ist ungewöhnlich und beunruhigend: Zum erstenmal seit ihrer Ankunft in der Télème-Abtei gibt Imogen ihre gesittete Haltung gegen eine Respektsperson auf, wird unhöflich, ja ausfallend, ihr seidiges blondes Haar sträubt sich knisternd, ihre Augen in feurigem Blau funkeln: fauchend, ein Katzenraubtier mit gekrümmtem Rücken, duckt sie sich, zum Ansprung bereit, vor der stillen, nun ganz fassungslosen Isabella.

Die Gewissenhafte ist ernstlich bekümmert. Ihre Verstimmtheit fällt bei einer abendlichen Zusammenkunft ihrem Freunde Tamino, dem verhinderten Löwinnenjäger, auf; befragt, gibt sie Imogen als Gegenstand ihrer Sorge an.

»Dieses Mädchen Imogen«, sagt Tamino, »interessiert mich. Es heißt, sie ist musikalisch. Ich möchte sie gern im Flötenspiel unterrichten. Was meinst du, wird ihr Vater diese Extraleistung bewilligen?«

»Das ist es doch eben: Das arme Ding hat keinen Vater …«

»Ausgerückt – oder eingerückt? Gefallen, von einer Bombe zerrissen, kriegsgefangen oder vermißt?«

»Etwas von allen diesen Möglichkeiten. Er stand als Major bei der Feldartillerie und ist seit dem Sturm auf den Monte Cassino verschollen. Jedenfalls ist er aus dem Spiel. Übrigens war er schon lang von der Mutter geschieden und hat sich, seit sie hier ist, nicht um Imogen gekümmert, wofür er Gründe zu haben scheint.«

»Und die Mutter?«

»Kleine Schauspielerin. Sie gibt in Serlios Truppe die zweite Hofdame, die dritte Schäferin, das muntere Stubenmädchen, lebt aber, nach Silberfuchscape und Perlenschnüren zu schließen, nicht von ihrer Gage und hat, wenn man auf Tratsch hört, einen einflußreichen Gönner. Also könnte sie vielleicht auch einen Zuschuß für Imogens musikalische Ausbildung erübrigen und bewilligen. Soll ich Imogen fragen, ob sie Flöte blasen mag?«

»Das werd’ ich schon selbst besorgen. Mit ein bißchen Musik wird sie leichter zu kurieren sein als mit Pillen und Lebertran.«

Wenn Tamino etwas erreichen will, vermag er sehr liebenswürdig zu sein. Imogen nimmt Unterricht im Flötenspiel, und ihre Laune bessert sich zuhörends.

»Warum gerade Flöte, ein etwas abseitiges Instrument?«, fragt Arthur mißtrauisch. »Vielleicht weil Tamino den Musikmeister macht?«

»Wahrscheinlich«, sagt Imogen, den Kopf zurückwerfend, das Kinn vorstoßend, angriffs- und abwehrbereit in schnippischem Ton, »deshalb!«

Arthur kann nun alles, was er gegen Imogen auf dem Herzen hat, sammeln, verdichten, zusammengepreßt als Zündstoff anhäufen: Er weiß auch, wen er damit in die Luft sprengen möchte.

Tamino kommt gewohnheitsmäßig verspätet zum Mittagessen, wenn alle Plätze bereits besetzt sind und niemand anderer das kleinste Fleckchen ausfindig machen könnte. Für Tamino aber hat eine seiner erwachsenen Schülerinnen immer eines in der Halle gesichert, indem sie, nach der im »Krähennest« herrschenden Sitte, Messer und Gabel gekreuzt, und den Platz gegen anstürmende Spätlinge heldisch verteidigt hat. Seit kurzem aber biegt Tamino, ohne erst die Halle zu betreten, vom Eingang aus seitlich in den großen Speisesaal ab, der, wie wir wissen, hauptsächlich der »Enklave Dorrit«, den Mittelschülern, vorbehalten ist. Er findet neuerdings den weiten lichten Raum mit seinen heiteren Wandmalereien im Geschmack des venezianischen achtzehnten Jahrhunderts erfreulicher als die düstere und zugige Halle, und er kann sich darauf verlassen, daß Imogen Messer und Gabel für ihn gekreuzt hat. Er wendet witzige Bemerkungen an den Quacksalber, die Masken und Stelzengänger auf dem Bilde rechter Hand, genau über Imogens Scheitel, und findet, es wäre eine passende Dekoration, um darin Pergoleses »Serva Padrona« aufzuführen.

Arthur, der schon seit langem die Enklave Dorrit jedem anderen Speisesaal vorzieht, erzürnt sich, da er beobachten muß, wie Imogen ihrem Lehrer im Flötenspiel Äuglein macht. Tamino, von so dankbarem Publikum angefeuert, läßt eine Spruchrakete nach der anderen aufsteigen, von allen Seiten wenden sich neugierige oder neidische Blicke dieser angeregten Tischecke zu.

– Was findet man eigentlich an Tamino? – fragt sich Arthur. Er ist von eher kleinem Wuchs, behend und zierlich, das schon, aber mit vorzeitigen Falten auf der hohen Stirn unter dem langen, dunklen, zurückgebürsteten Haar; auch auf seinen eingefallenen Wangen, zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln, zeigen sich scharfe Linien. Es ist ein äußerst bewegliches, ein ausdrucksvolles Gesicht, man könnte sagen, es sei nur Vorwand für ein lebhaft wechselndes Mienenspiel, das Taminos klangvolle Tenorstimme begleitet, untermalt, fugiert. Solche Übereinstimmung scheint die jungen Mädchen zu bezaubern, sie sind, insoweit sie nicht zu Tristans Bereich gehören, völlig für Tamino eingenommen, ja, um es ganz deutlich zu sagen: Sie sind ihm allesamt verfallen. Und das, obschon es hier, wo der Begriff des Privatlebens unbekannt ist und jede erotische Beziehung schnell zur allgemeinen Kenntnis gelangt, kein Geheimnis ist, wie Tamino und Isabella zueinander stehen. Indessen rechnet jede mit der Wandelbarkeit des menschlichen Herzens, und der Kurzfristigkeit, welche den meisten Liebesbeziehungen im »Krähennest« anhaftet. Tamino wird sich gewiß, denkt Arthur, aus einer kleinen Untreue mehr kein Gewissen machen, zumal Isabellens bescheidener Reiz angesichts von Imogens gefährlich strahlender Lieblichkeit zu verblassen beginnt. Die Flöte an den Lippen und Imogen im Arm, durch Feuer und Wasser eng umschlungen mit ihr schreitend – so sieht Arthur die beiden unausgesetzt vor sich, diese Vision bedrängt, bedrückt, bestürzt ihn, er kann sie nicht los-, kann ihrer nicht Herr werden, ist von ihr besessen. Man darf voraussetzen, daß Arthur den Raum, den Imogen in Taminos Existenz einnimmt, bei weitem überschätzt, nicht zu überschätzen hingegen ist der Raum, den die beiden in Arthurs Dasein einnehmen. Er beginnt den vermeintlich Begünstigten leidenschaftlich zu hassen, ebenso glühend, wie er ihn beneidet. Böse Regungen, die er niemals in sich vermutet hatte, werden in Arthur lebendig; da fällt ihm ein, daß es für ihn eine Möglichkeit gibt, Tamino von hier fortzubringen.

Er weiß recht gut, warum dieser, der seinen akademischen Grad mit Auszeichnung an der berühmtesten und ältesten Universität des Landes sich geholt hat, an einer keineswegs berühmten Schule unter bescheidenen Bedingungen und recht einfachen Verhältnissen dankbar untergeschlüpft ist, das unterrichtet, was man gerade von ihm braucht, Griechisch, sobald sich jemand findet, der’s lernen will (die meisten begnügen sich mit den Lateinstunden bei Horaz), Französisch für Anfänger, Geographie, Nachhilfe fürs Klavier, über das ein anderer ausgezeichneter Doktor rechtmäßig gebietet, Flöte schließlich, einen »abseitigen« Gegenstand, der aber um Taminos willen im »Krähennest« beliebt zu werden anfängt.

»Die Télème-Abtei?«, scherzt der rechtmäßige Musikmeister Basilio, dessen erotische Bedürfnisse außerhalb der Schule im Nachbarstädtchen gesichert sind, »kleine Nachtmusik mit obligater Flöte.«

Arthur täuscht sich folglich nicht darüber, daß ein Versuch, seine Mutter zu Taminos Entlassung zu überreden, erfolglos wäre. Tamino ist, wie Tristan, eine Anziehungskraft, genau das, was Leontes und Hermione in ihrem Stab zu besitzen und festzuhalten wünschen. Überdies gehört Miranda zu Taminos engerem Kreis, sie hat sich zwar, als Isabella aus ihrer Unscheinbarkeit in den Taminoschen Strahlenkranz geriet, enttäuscht und gekränkt von ihm abgewendet, aber er brauchte ihr nur den kleinen Finger hinzuhalten – und Miranda möchte ihm schnell ihre ganze Hand reichen, mit der Anwartschaft auf die Télème-Abtei.

Arthur muß sich also anderer, stärkerer, bösartigerer Mittel bedienen. Er weiß gut genug, daß Tamino – genau so wie Horaz, Dorrit, Lysander, Euklid und Newton; Cajus, der Polier, Pistol und Bardolph, die landwirtschaftlichen Arbeiter, Cade, der Anstreicher, und Anselmo, der Gärtner – dem Kriegsdienst nur durch den Einwand der Gewissensbedenken entgangen ist. Nun steht aber hinter Tamino weder eine mächtige politische Partei noch eine einflußreiche Religionsgenossenschaft, die ihn schützte. Ließe man das Kriegsministerium wissen, ein kerngesunder Anarchist, ein Agnostiker, der niemals in die Kirche geht, ein Mädchenheld, der seine hübsche Fratze nicht dem Feuer aussetzen – ein Musiker, der sein Ohr vor Kanonendonner und Maschinengewehrknattern schützen möchte, verberge sich in der Télème-Abtei – ah, was könnte daraus entstehen!

4

»Darf ich hinein, Madame?« Brangäne, Tristans Lieblingsschülerin, von der das bisterfarbene Nachtcafé herrührt, steckt ihren hübschen Tituskopf durch den Türspalt, gleich darauf steht sie als ein Ganzes auf den roten Fliesen, nacktbeinig, in Sandalen, kurzem, gefälteltem Schottenrock, mit grünlederner Holzfällerbluse, ein Paket Zeitungen, Zeitschriften, Briefe im Arm.

»Wär’ ich Malerin und wollt’ ich«, sagt Madeleine, »die Jugend darstellen, ich nähme Sie zum Modell, Brangäne. Schade, daß Sie den Sprachen abgesagt haben. Meine Lektionen sind oft genug recht eintönig, Ihr Anblick böte mir wenigstens eine Stimulans.«

»Wie lieb Sie das sagen, Madame! Dafür bringe ich Ihnen heute auch eine Menge Post, hier, Ihre Zeitung, da, noch ein Kreuzband, und etwas aus Algier, ah, eine ganz neue Marke ›La France libre‹, kann ich die haben? Und etwas aus der Schweiz, Flugpost, gehört die auch mir? Danke schön für die Marken, jetzt muß ich weiter.«

Madeleine streckt, als sich die Türe hinter Brangäne geschlossen hat, ihre Hand zögernd aus, welchen zuerst? Den nordafrikanischen von François oder jenen vom Genfer See, der vielleicht – vielleicht eine Nachricht über Ernest enthält? Ihre Hand zuckt nach dem Schweizer Umschlag – da wird die Entscheidung von der Schulglocke gebracht: vorläufig keinen von beiden!

Zwei Stunden später reißt sie, auf den gewohnten Vormittagstee mit Tristan verzichtend, ihres Sohnes Brief zuerst auf. François gönnt ihr einen vorsichtig verschleierten Einblick in seine Obliegenheiten als Privatsekretär des Generals, dann heißt es: »Mein Bein ist vorgestern aus dem zweiten Gipsverband, den ich nun bald sechs Monate getragen habe, erlöst worden, die Verkürzung ist leider nicht ganz behoben. Gräme Dich aber nicht zu sehr darüber, mich kränkt es bloß, daß ich nun endgültig in den Invalidenstand einrücken muß –, nach einer wahrlich nicht sehr glänzenden, dafür aber sehr kurzen Offizierslaufbahn. Allerdings hoffe ich, auch in meinem jetzigen Stande etwas Nützliches leisten zu können, vielleicht sogar mehr, als ein Unterleutnant zuwege bringt.«

– Der arme Bub! –, denkt Madeleine und im gleichen Atem: – Gott sei Dank, daß er unter gar keinen Umständen mehr hinaus muß! – Dann wendet sie sich dem Schweizer Brief zu.

Maison Courbet, La Tour de Peilz,

Vevey, d. 4. Januar 1944

Meine liebe Freundin! Ein Brief von Ihnen, nach so langer Zeit, aus fremdem Lande, voll erstaunlicher Mitteilungen, den ausgesprochenen sowohl wie den beschwiegenen – welche Überraschung! Er ist hübsch lange gereist, vorgestern erst hab’ ich ihn in unserer Genfer Redaktion gefunden, mußte ihn dringender Geschäfte halber uneröffnet in die Tasche stecken, durfte ihn, heimfahrend, erst auf dem Dampfer öffnen, zu Hause habe ich ihn wiedergelesen, in einer schlaflosen Nacht überdacht – und nun widme ich Ihnen eine andere, die voraussichtlich gleichfalls schlaflos wäre. Ahnen Sie denn, was es für mich bedeutet, daß Sie nach allem Vorgefallenen noch auf unserer Seite stehn – oder, ich kenne Ihre Bewegungen in der Zwischenzeit ja nicht –, doch dahin zurückgekehrt sind? Daß Sie Exil, Entbehrungen aller Art, ungewohnte Arbeit, Unfreiheit und Abhängigkeit auf sich genommen haben, um einer höheren Freiheit, einer edleren Unabhängigkeit, eines beruhigten Gewissens willen! Ihre wortkarge Tapferkeit verbietet mir, in meiner Anerkennung ausführlicher zu werden, ich begreife vollkommen, daß Sie Ihre Handlungsweise jedem Kommentar, einem anerkennenden so gut wie einem absprechenden, entzogen wissen wollen.

Auch täusche ich mich wohl kaum über den unmittelbaren Anlaß zu Ihrem Brief. Wenn Sie – das ist ohne jede Empfindlichkeit gesagt – plötzlich ein jahrelanges Schweigen brechen, muß das doch wohl seine besondere Ursache haben, nicht wahr? Ich vermute also, Sie hätten irgendwo gelesen oder gehört, daß die »Weißen Hefte« Ernests »Apologie« gebracht haben, und möchten nun wohl Genaueres darüber wissen. Ja: Ich wollte, im vollen Bewußtsein, was ich damit auf mich zöge, einem sehr geliebten Abtrünnigen Gelegenheit geben, solchen, von denen er sich fortgewendet hat, und die sich nun von ihm abkehren, seinen Standpunkt klarzulegen. Denn es ist, das versteht sich wohl, für mich keineswegs dasselbe, wenn ein M., ein S., ein G. »Mitarbeiter« geworden sind, oder ob ein Le Sieutre es ist.

Über jene braucht man sich nicht den Kopf zu zerbrechen, nichts von Ehre, von Gewissen, nichts von Loyalität, sie laufen ihrem moralischen oder praktischen Vorteil nach, wo sie ihn finden, mit einer zynischen Freude an sich selbst und ihrer Schläue. Ernest Mathieu aber … Es ist da nicht nur ein Unterschied des Grades und Ranges der Gaben und der Persönlichkeit, es ist ein Unterschied in der Substanz. Von den Anwürfen, die ihm ununterscheidend entgegengeschleudert wurden, fühlte ich mich persönlich getroffen, es war mir ein Gebot geistigen Anstands, ihm die Möglichkeit einer Auseinandersetzung dort zu geben, wo er von den wertvollsten seiner ehemaligen Kameraden, seiner heutigen Feinde, am ehesten gehört werden könnte. Ich habe Ihnen nun jene Nummer der »Weißen Hefte« und überdies einen Separatdruck der »Apologie« zugehen lassen und hoffe, beides werde, wenn vielleicht auch spät, doch zuverlässig an Sie gelangen. Folglich enthalte ich mich auch, um Ihren ersten Eindruck nicht vorwegzunehmen oder zu beeinflussen, vorläufig jeder sachlichen Kritik an Ernests Selbstverteidigung, nur eine knappe Bemerkung über Formales kann ich mir nicht versagen.

Es scheint mir nämlich, auch ein Meister der Sprache, wie unser Freund, büße einiges von seiner Vollkommenheit ein, wenn sein Gegenstand ihn nicht länger trägt und mit sich fortreißt. Zwar hat Ernest wohlweislich vermieden, indem er sich entschuldigte, sich anzuklagen, es ist eine schmerzliche Gefaßtheit in dieser kleinen Schrift, die mir, als ich Korrektur las – unter besonders merkwürdigen und einprägsamen Umständen allerdings – die Tränen ins Auge trieb. Aber ich brauche nur an Früheres, an den Gedächtnisaufsatz zum zwanzigsten Todestag Léon Bloys –, an jenen zum dreihundertsten Geburtstag Racines, an Ernests Inaugurationsrede in der Akademie zu denken – und der Unterschied springt mir ins Auge, schlägt mir ans Herz. Nichts mehr von dem stillen Glanz, der geheimen Magie, der verinnerlichten Leidenschaft, dem hinreißenden Rhythmus, von jenem Allerpersönlichsten, das vordem seinen Stil so unverkennbar aus der gesamten zeitgenössischen Produktion heraushob und mit einem unsichtbaren Monogramm kennzeichnete. Jetzt aber? Es ist eine Selbstentäußerung in diesen Seiten zu finden, die mich erkältet. Mit wahrhaft klassischem Unbeteiligtsein hält Le Sieutre, der Apologet, Abstand von Le Sieutre, dem Mitarbeiter, so zwar, daß diese Haltung einer neuen Meisterlichkeit gleichkommt. Durch eine ungewöhnliche Wortstellung, ein eigenwilliges Satzgefüge, einen einzelnen altertümlichen oder selten gebrauchten Ausdruck entrückt er, was ihm doch wohl die Haut versengt, in die kühle Sternenregion des Geistigen und Geisthaften, indem er uns zugleich die bange Frage eingibt: Wie willst du aus diesem dünnen Firnhauch je wieder in die schwere, dicke Erdenluft herabsteigen?

Die »Apologie« – der Titel rührt nicht von Ernest her, ist, was man einen »Übergriff der Redaktion« nennen könnte – die »Apologie« hat mich in den sonderbarsten Zwiespalt versetzt: Es steht kein Wort darin, da ich nicht sachlich zu widerlegen genötigt, fähig und bereit wäre, dennoch flößt jedes mir Achtung vor einer Geisteshaltung – Bewunderung für eine Ausdruckskraft ein, die ihre Zweideutigkeit als einfältige Überzeugung wirken zu lassen vermag und ihr Fragwürdiges ins Gültige hebt. Auch hier noch, wo Ernest auf alles Zierwerk, auf jedes der ihm wie keinem zweiten zu Gebote stehenden Kunstmittel asketisch verzichtet, wo er sich an einen imaginären Pranger stellt, ungeschützt und offenen Auges allen Pfeilen ausgesetzt –, auch hier noch ist seine menschliche Blöße mit einer unzerstörbaren geistigen Würde bekleidet.

Waren André und ich die einzigen, die das verspürten? Die Wirkung der »Apologie« war bestürzend. Wer zur Antwort berechtigt und berufen war, schwieg. Die Unberufenen aber, wer immer unter unserer Jugend je einen Vers hatte drucken lassen dürfen, und es gab unter ihnen auch einen, der mir menschlich nahe steht, Andrés Sohn Philippe – sie alle stürzten sich, eine lechzende, lefzende Meute, auf jeden einzelnen Satz, da war keiner, der nicht verbogen, verrenkt, aus dem Zusammenhang gerissen, seines eigentlichen Sinns beraubt, entstellt und mißdeutet worden wäre. Zuletzt haben wir, André und ich, einander gefragt: War es nun ein Dienst, den wir Ernest erwiesen haben, oder nicht vielmehr ein Anlaß, ihm – aber auch uns – neue Feinde zu schaffen?

Und, um so schlimmer für mich, ich kann diesen Wutausbruch sogar recht gut verstehen: Es gbt einen Grad der Ausgesetztheit, des geistigen Von-der-Hand-in-den-Mund-Lebens, gibt eine Bettgenossenschaft mit der Not, ein stündliches Aug-in-Aug mit der Gefahr, die Entrücktheit, Abgeklärtheit, platonischen Abstand von allem Aufruhr schlechterdings nicht vertragen noch dulden. Dieses Geschlecht von Untergrundkämpfern hat seine Gedanken, seine Bewegungen, seine Sprache in Kurzschrift, in Sigel zusammengefaßt; das Wort – als Selbstzweck, als Ausdruck der Persönlichkeit – nicht bloß zur Mitteilung nackter Tatsachen – ist für sie Ausschweifung, wie für den Puritaner unfruchtbare Lust. Alles, was wir an Ernest so sehr bewundern und lieben, wofür wir ihm den höchsten Kredit geben und so viele Zugeständnisse machten, ist für jene gar nicht vorhanden.

Der junge Philippe aber, der in allem Geistigen viel mehr Ernests Geschöpf war als das seines Vaters, kehrt sich nun in einem Vokabular, das er von Ernest borgt, in Wendungen, die ihm aus Ernests Werk im Gedächtnis geblieben sind, gegen sein einstmals vergöttertes Vorbild und macht sich mit Burschen gemein, die Zug um Zug jenen Braun- und Schwarzhemden gleichen, die sie so blutrünstig bekämpfen, und in welchen Ernest ein ursprüngliches Heldentum entdeckt – denen er Gedanken und Empfindungen zuschreibt, die ihnen naturgemäß gar nicht eignen können.

Hierin, Freundin, nicht in den Angriffen der Literaten, Journalisten, Politiker und Jugendführer der Gegenpartei, liegt Ernests eigentliche Tragik. Noch merkt er seine Gefahr nicht – und Gefahr ist für einen Le Sieutre nicht tätliche Bedrohung, sondern die tödliche Erkenntnis, er habe keinen Boden mehr unter den Füßen, dieser sei ihm von seinem neuen Bundesgenossen, einem geschickten Taschenspieler, ohne daß er’s merkte, unter den Sohlen fortgezogen worden. Noch ist das nicht in sein Bewußtsein vorgedrungen, noch glaubt er an seine Mission, wenn ich auch aus einigen Stellen der »Apologie« eine Brüchigkeit seiner Stimme, ein zögerndes Atemanhalten, eine bewegte Frage an sich selbst herauszuhören vermeinte.

So sicher, in sich und auf sich beruhend, wie er sich noch vor kurzem wähnte, ist er heute nicht mehr, das ist ein kritischer Augenblick, nun ist sein Gewissen ihm nicht länger einziger Kompaß und Leitstern: nun bedarf er einer Beglaubigung von außen.

So wenigstens habe ich eine Nachricht aufgefaßt, die zwar amtlich abgeleugnet und widerlegt, sich doch als Gerücht hartnäckig erhält: daß Ernest Mathieu Le Sieutre nämlich vor kurzem bei einer Zusammenkunft des Marschalls mit dem deutschen Führer, der außer diesen beiden nur noch der deutsche Höchstkommandierende in Frankreich zugezogen war, den Dolmetsch gemacht hat. In diesem Zusammenhang wird auch verbreitet, daß Ernests Stellung demnächst aus der eines geheimen Verbindungsoffiziers zwischen beiden Lagern in eine ministerielle Verantwortlichkeit umgewandelt werden soll. Das kann freilich auch zielbewußte Erfindung und Verleumdung sein; solche, die für sich nichts anderes als ihre Gesinnungstüchtigkeit anzuführen haben, halten sie begreiflicherweise für unvereinbar mit hohen Gaben, und ist einer nun einmal ein Genie, dann nennen wir ihn doch lieber gleich einen Schurken.

Sie haben teilnehmend nach meinen und Andrés Arbeiten gefragt, liebe Madeleine. Über meinen Freund gebe ich bereitwilliger Auskunft als über mich selbst. André ist im Begriff, eine großartige Verssatire, etwas im Stil der »Satire Menippé«, nur, da es ja von einem einzelnen herrührt, unvergleichlich organischer und geschlossener, zu veröffentlichen. Bruchstücke daraus sind pseudonym in den »Weißen Heften« erschienen, sie haben einiges Aufsehen hervorgerufen und die abenteuerlichsten Vermutungen über den Verfasser. Bernanos, Claudel wurden genannt, ja, ein ganz Gescheiter schrieb mir: »Stünde Le Sieutre nicht bei den anderen, ich riete auf ihn, aber ist das zuletzt ein Ausschließungsgrund? Er hat den näheren Gesichtspunkt, das weitere Blickfeld, die intimere Beobachtung und gewiß keinerlei Vorurteil: Ein Zyniker nimmt nicht einmal seinen Verrat ernst.« So denken sie. So sprechen sie … Für mich, dem Andrés eigenwilliger Stil so ganz unverwechselbar erscheint, ist dieses Rätselraten schwer verständlich, es kommt wohl daher, daß André noch lange nicht nach Verdienst gekannt und gewürdigt ist; es kann auch sein (mir fehlt der notwendige Abstand, denn ich habe dieses merkwürdige, barocke Werk ja Zeile um Zeile miterlebend entstehen sehen), daß André erst jetzt leidend über sich hinausgewachsen ist, in die ihm erreichbare Vollendung hinein.

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