Kitabı oku: «Psychotherapie - wozu und wie?», sayfa 2
Psychische Flexibilität
Bereits dieser kleine Streifzug durch gesellschaftliche Unterbereiche deutet die hohe Flexibilität an, die heute gefordert ist. Dies ist in erster Linie und mit allen Konsequenzen eine psychische Flexibilität. Es gibt keine Gruppenidentität mehr, die man übernehmen und an der man sich festhalten kann.
Die individuellen Möglichkeiten scheinen unendlich. Beispielsweise kann man im Bereich der Liebesbeziehungen sehr verschieden auftreten. Etwa als ‚Ich der treue Ehepartner’ im traditionellen Sinn, oder als ‚Ich der offene Fremdgeher’, oder als ‚Ich der heimliche Fremdgeher’, oder als ‚Ich der Polyamore’, der zwei oder mehr Partner liebt, oder als ‚Ich der Single mit gelegentlichen Affären’ oder als jemand, der in Abständen den Partner wechselt, also als ‚Ich der Serielle’oder als sonst jemand. Ebenso im Erziehungsbereich. Dort kann man seinen Kindern gegenüber als ‚Strenger’ oder ‚Antiautoritärer’, als ‚Partner’ oder in einer der unzähligen Schattierungen dieser Möglichkeiten auftreten. Gleiches gilt für alle übrigen Lebensbereiche – die möglichen Identitäten sind in ihrer Zahl kaum begrenzt.
Zweifellos ist der heutige Mensch an diese Lebensumstände angepasst und in der Lage, seine Identität an die unterschiedlichen Lebensbereiche, in denen er sich bewegt und an die unterschiedlichen Lebenslagen, in die er gerät, anzupassen. Aber eines kann er nicht mehr: an einer bestimmten Identität, an einem bestimmten Ich, über einen längeren Zeitraum oder über verschiedene Bereiche hinweg festzuhalten. In dem Fall bekommt er nämlich unweigerlich Probleme.
Beispielsweise kann man im kirchlichen Bereich als „Ich der Wohltätige“ auftreten und eine kleine oder große Spende machen. Wechselt man aber in den Finanzbereich um eine Investition zu tätigen, kann man unmöglich „Ich der Wohltätige“ bleiben, sonst ist das Vermögen schnell weg. Im Finanzbereich ist man „Ich der Investor“, also ein egoistischer und kein wohltätiger Mensch. Als Investor wiederum geht man in der Liebe unter, dort ist man „Ich der Liebende“, also jemand der nicht mit Gewinn und Verlust spekuliert, sondern der schenkt und beschenkt wird. Sobald das Kalkül ins Liebesspiel gerät, verliert man zuerst das Gefühl, zu lieben und dann auch das Gefühl, geliebt zu werden. Die einzige Chance um in den jeweiligen Lebensbereichen zu bestehen besteht unter diesen Umständen darin, seine Identität an die dortigen Anforderungen anzupassen.
Die moderne Gesellschaft erfordert eine enorme psychische Flexibilität. Um sich in ihr zu bewegen muss man eine Art Identitäts-Chamäleon sein.
Aus den genannten Gründen verfügt jeder Einzelne über einen ganzen Schrank voller Identitäts-Mäntel, und je nach Lage der Dinge schlüpft er in diesen oder jenen Mantel, in diese oder jene Haut, zeigt einmal dieses und dann jenes Gesicht. Der Einzelne trägt unterschiedlichste ‚Personen’ oder ‚Charaktere’ in sich.
Besonders merkwürdig erscheint, dass diese ‚Ich’ nicht viel miteinander zu tun haben. Jedes Ich lebt gewissermaßen in einer eigenen Welt, einer Welt mit ganz eigenen Logiken und Verhaltensmöglichkeiten, und es ist wahrlich faszinierend, wie spielerisch es der Psyche im Normalfall gelingt, den jeweils notwendigen Identitätswechsel zu bewältigen.
Probleme mit der jeweiligen Identität
Allerdings kann man mit der psychischen Flexibilitätsanforderung auch gehörig ins Schleudern geraten. Das passiert immer dann, wenn man noch in einem Ich feststeckt, während aufgrund veränderter äußerer und innerer Umstände bereits ein anderes Ich gefordert wäre. In solchen Fällen verfestigter Identität stellt man alsbald fest, ein Problem zu bekommen. Dazu ein kleines Beispiel.
Herr Konrad hat in seiner Ursprungsfamilie gelernt, eine ‚Ich stehe im Mittelpunkt-Mentalität’ zu entwickeln, er zeigt sich als ‚Ichbezogener’. Das stellt lange Zeit kein Problem dar, er findet sogar einen Ehepartner, der sich auf diese Dominanz einstellt. Auch an der Universität kommt er als ‚Ichbezogener’ weiter als andere, er macht den Doktor mit Auszeichnung. Dann landet er in einem Forschungsinstitut, wo er im Team forschender Wissenschaftler arbeiten muss. Jetzt fangen die Probleme mit dem mitgebrachten Mantel an. Die Kollegen reagieren nämlich mit Widerstand und Ablehnung auf den ‚Ichbezogenen’, aber Herr Konrad will und kann nicht aus seiner Haut raus. Nach zwei Jahren ist der Mann ausgegrenzt, keiner will mit ihm zusammenarbeiten, seine wissenschaftlichen Projekte bleiben im Sand stecken, er steht nervlich am Abgrund.
Der Mann hat psychische Probleme, weil er in unterschiedlichen Umständen ‚derselbe’ ist, statt ein ‚anderer’ zu sein. Vielleicht ist es ihm problemfrei möglich, zu Hause weiterhin der 'Ichbezogene' zu sein, in der Arbeit aber beißt er auf Granit. Wer sollte und könnte ihm bei dem nötigen Identitätswechsel helfen? Das könnten Psychotherapeuten tun. Sie sind Spezialisten für komplexe und undurchsichtige psychische Vorgänge, und daher fände der ichbezogene Wissenschaftler hier am ehesten Hilfe.
Wir sind multiple Persönlichkeiten
Das Geschilderte macht deutlich: Psyche und Gesellschaft hängen untrennbar zusammen.
Die moderne Psyche bildet die gesellschaftliche Komplexität in sich ab. Sie ist daher ebenso fragmentiert wie die Gesellschaft.
Es ist unmöglich auf Dauer verlässlich zu wissen, wer Ich bin und zu wissen, als wer Ich wann wem gegenüber, auch mir selbst gegenüber, wie auftreten soll. Die Vielgesichtigkeit der Psyche macht es schwer, von sich als einer festen Person zu sprechen oder sich einen verlässlichen Charakter zuzurechnen – mit anderen Worten, sich auf sich selbst (und andere) verlassen zu können.
Auf der Suche nach dem Charakter des Herrn Beek
Welche Persönlichkeit oder welchen Charakter hat beispielsweise ein Mann namens Herr Beek? Machen wir uns auf die Suche nach der Person ‚Beek’ und begleiten wir den Mann durch einen beliebigen Tag.
Herr Beek ist auf dem Weg zur Arbeit. Vor dem Firmengebäude gerät er mit einem Autofahrer aneinander, dem er in letzter Sekunde einen Parkplatz wegschnappt. Dem Autofahrer gegenüber zeigt er einen rücksichtslosen Egoisten. Im Aufzug trifft Herr Beek den Geschäftsführer, der nur kurz nickt. Herr Beek grüßt überaus freundlich, er tritt fast unterwürfig auf. Könnte Herr Beek Gedanken lesen wüsste er, dass der Firmenleiter ihn als antriebslosen und angepassten Durschnittssachbearbeiter kennt. An seinem Arbeitsplatz angekommen grüßt er die Kollegen, denen er sich als besonnener und verlässlicher Mitarbeiter zeigt. Der attraktiven Servicekraft in der Kantine gibt sich Herrn Beek als charmanter, zuvorkommender und humorvoller Mann. Ganz im Gegenteil zum Hausmeister, der Herrn Beek bittet, kurz an einem Schrank anzufassen und eine schroffe Abfuhr erhält. Dem Hausmeister gegenüber zeigt sich Herrn Beek als arroganten Angestellter. Bei den Lieferanten seiner Firma gilt Herr Beek als kompromissloser Verhandler. Der Bettler, an dem Herr Beek auf dem Weg nach Hause seit Wochen vorbeil äuft ohne jemals einen Cent in dessen Mütze zu werfen, kennt ihn als hartherzigen Mann. Im Bus schaut Herr Beek betreten weg, als zwei ausländerfeindlich Typen eine Türkin beschimpfen. Die Türkin begegnet in Herrn Beek einem Feigling. Kurz vor seiner Haustür weist Herr Beek ziemlich scharf ein Kind zurecht, das eine Bananenschale auf den Boden wirft. Das Kind lernt ihn als autoritären und bedrohlichen Menschen kennen. Ganz anders sieht Herr Beeks eigene, achtjährige Tochter das. Herr Beek bricht nämlich zum wiederholten Mal sein Versprechen, mit ihr eine Fahrradtour zu unternehmen und schaltet statt dessen den Fernseher ein, um das Fußballspiel zu sehen. Seine Tochter kennt ihn im großen Ganzen als gleichgültigen und an ihr wenig interessierten Vater. Herr Beeks Frau wiederum sagt, sie wäre mit einem warmherzigen Mann zusammen, der Gott sei Dank mehr Wert auf Innigkeit als auf Sexualität lege. Sie weiß nichts von den kleinen Pornofilmchen, die Herr Beek scheinheilig in seinem Bastelkeller versteckt hat und die ihn als einen Mann ausweisen, der an ungewöhnlichen Sexualpraktiken Gefallen findet. Herr Beek erhält gegen Abend einen Anruf von seinem Bruder, mit dem er in eine Erbstreitigkeit verwickelt ist. Dieser Bruder kennt ihn als gnadenlosen Abzocker. Während er seinem Bruder mit dem Anwalt droht, hält Herr Beek den Hörer zu und bittet seine Frau freundlich, ihm ein Bier aufzumachen. In diesem Moment ist er fast gleichzeitig zwei Herr Beek, ein harter in die eine Richtung und ein freundlicher in die andere.
Wer nun ist Herr Beek? Welche Person stellt er da? Welchen Charakter weist er auf? Ist er ein besonnener, ein verlässlicher, ein egoistischer, ein freundlicher, ein antriebsloser, ein angepasster, ein arroganter, ein kompromissloser, ein hartherziger, ein feiger, ein autoritärer und bedrohlicher, ein gleichgültiger, ein warmherziger, ein scheinheiliger, ein harter oder ein freundlicher Mann? Herr Beek ist das alles und nichts davon. Herr Beek ist ein ganz normaler Mensch, dessen zahllose Verhaltensmöglichkeiten, von denen hier nur wenige angedeutet sind, sich unmöglich unter den Hut eines Charakters oder den Mantel einer Person bringen lassen. Wer wird Herr Beek unter extremen Bedinungen sein? Beispielsweise in einem plötzlich ausbrechenden Bürgerkrieg? Das weiß niemand, zuletzt er selbst.
Vorerst genügt es festzustellen: Es gibt in der modernen Welt keinen Charakter und keinen Sinn- und Verhaltensmodus mehr, an dem sich durch mehrere Lebensbereiche festhalten lässt.
Die Persönlichkeit ist multipel.
Die Psyche entspricht einem lebenden Puzzle, das sich ständig im Umbruch befindet. Daher wundert es nicht, wenn der Einzelne mitunter psychische Probleme bekommt, die er selbst nicht lösen kann.
Psychische Probleme sind (heute) völlig normal
Psychische Probleme markieren Verwirrungen im Karussell ständiger Identitätswechsel, sie stellen keinesfalls per se Erkrankungen dar. Vielmehr gehören sie zum Leben in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft. Sie gehören zu einer Welt, in der ein Einzelner wiederholt mit der Notwendigkeit konfrontiert ist, sich neu zu orientieren, ja sogar, sich neu zu bestimmen und zu erklären, wer er ‚momentan’ oder ‚unter diesen Umständen’ ist und wer er zukünftig zu sein gedenkt. Psychische Probleme gehören zu einer Welt, die kaum mehr richtig und falsch vorgibt, die unterschiedlichste Lebensformen akzeptiert, die nicht eine, sondern zahlreiche Beziehungsformen toleriert, die den Einzelnen nicht mit verlässlichen Vorgaben versorgt und statt dessen unzählige Lösungen zulässt. Dies sind individuelle Lösungen, die teils unter großen psychischen Spannungen gefunden werden wollen und die nicht für immer gelten, weil sich die inneren und die äußeren Umstände beständig im Umbruch befinden.
Psychische Probleme gehören zum Alltag, sie stellen Aufforderungen zu einem Identitätswechsel dar.
Psychische Spannungen werden durch heute alltägliche Veränderungen der Lebensumstände ausgelöst. Eine Frau verliert ihre Arbeit, ein Mann bekommt Krebs oder sonst eine schwere Krankheit, ein Kind erleidet einen folgenreichen Unfall, ein Gekündigter entwickelt Lebens- oder Zukunftsängste, ein Ehepartner wird verlassen, ein Angehöriger stirbt und der Rest der Familie verliert den Boden unter den Füßen, ein erfolgreicher Spekulant erleidet geschäftlich oder beruflich Schiffbruch. Auch innere Umstände können sich verändern. Ein Karrierist kommt selbst in die Quere, beispielsweise leidet er unter seinem Ehrgeiz oder seinem Phlegma, jemand anderes isoliert sich sozial, ein Angepasster verausgabt sich völlig, um Anerkennung zu erreichen, zwei Partner streiten sich derart, dass sie ihre Beziehung oder die Familie gefährden, der Familienvater hat Schulden gemacht und vergräbt sich oder wird aggressiv, eine Frau gerät ständig mit Kolleginnen aneinander oder wird gemobbt, ein Liebessuchender findet keinen Partner oder etwas anderes geschieht. Ein Glückssucher entwickelt eine Besessenheit, sei es vom Sport oder von Gegenständen, oder ein Überanstrengter verliert den Sinn seines Tuns oder … die Möglichkeiten, sich in seinen Identitäten zu verheddern scheinen in den heutigen individualisierten Verhältnissen unendlich vielfältig zu sein.
Hinzu kommt, dass der Einzelne sich selbst überlassen ist und mit vielen psychischen Probleme allein dasteht. Nicht etwa deshalb, weil ihm niemand aus seinem Umfeld helfen wollte, sondern vor allem deshalb, weil die Lösung eines Problems ebenso individuell zugeschnitten sein muss, wie es die Lebensumständen sind, aus denen das Problem entsteht. Hilfe ist daher nicht von jedermann zu erwarten und auch der Partner oder die besten Freunde können oft nur gut zwar gemeinte, aber meist nutzlose Ratschläge geben.
Allein die Psychotherapie hat sich auf die vielfältigen psychischen Probleme spezialisiert, auf Probleme mit der Identität des Menschen, auf den Umgang mit den vagen Dingen und auf die Suche nach verlorenem Sinn.
1 Der Begriff „Verwalter der vagen Dinge“ stammt vom Philosophen Paul Valéry, der damit Magier, Priester und Dichter bezeichnete.
Was eine moderne Psychotherapie bieten sollte
Welche Merkmale sollte eine Psychotherapie aufweisen, die mit den psychischen, den vagen Dingen umgehen kann? Als wesentliche Punkte sind hier Offenheit, Bezogenheit und Flexibilität im Umgang mit den Menschen zu nennen. Alle drei Merkmale stellen - im Unterschied zur Medizin - das Individuum ins Zentrum der Betrachtung.
Offenheit
Offenheit in der Psychotherapie bedeutet in erster Linie, sich nicht auf naturwissenschaftliches Denken einzuengen, also nicht in den Kategorien von Ursache und Wirkung zu denken, so wie Ärzte es tun. Ein Mediziner muss so denken. Er sucht danach, welcher Virus oder welche Substanz, welche chemische, biologische oder mechanische Einwirkung einen Leidenszustand bewirkt, um dann gezielt behandeln zu können. Der Mediziner geht detektiv vor, er fasst verschiedene Möglichkeiten ins Auge und schließt einzelne davon solange aus, bis er bei einer möglichst eindeutigen Ursache angelangt. Er bewegt sich von der Weite zahlreicher Möglichkeiten in die Enge einer Diagnose, auf die er sich schließlich festlegt und aus der er seinen Behandlungsplan ableitet.
Der Psychotherapeut geht genau umgekehrt vor. Er sucht nicht nach Ursachen, sondern nach Zusammenhängen.
Er bewegt sich von der Enge eines Symptoms in der Weite vieler Möglichkeiten. Er legt sich nicht fest, sondern bleibt ganz bewusst vage. Um das tun zu können, ist er auf Offenheit angewiesen. Offenheit bedeutet, nicht zu wissen. Offenheit bedeutet, bestenfalls Vermutungen anzustellen und erfordert die Bereitschaft, diese jederzeit zu prüfen und gegebenenfalls über Bord zu werfen.
Ich möchte den großen Unterschied im Umgang mit Menschen, der zwischen Festlegung und Offenheit, zwischen Ursache und Zusammenhang, zwischen Wissen und Vagheit besteht, anhand eines kleinen Beispiels erläutern.
Ein Mann befindet sich in einem schlechten Zustand. Er sagt, er sei völlig verwirrt, weil seine Partnerin fremdgehe. Er könne nicht schlafen, wache nachts schweißgebadet auf, könne sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren und verliere allmählich die Lebenslust. Gleichzeitig nehme er an sich aggressive Impulse wahr, die er manchmal nur schwer kontrollieren könne. Er fantasiere, sich oder jemand anderen umzubringen. Er sei seit Monaten in einer schweren Krise und wisse nicht, wie er mit seinen emotionalen Zuständen umgehen solle und wie er sich gegenüber der Partner verhalten solle. Soll er sich trennen oder um sie kämpfen?
Was könnte ein naturwissenschaftlicher denkender Helfer, beispielsweise ein Arzt oder ein Psychiater, für diesen Menschen tun? Der Arzt würde den Puls untersuchen, die Blutwerte testen und Schlafmittel verschreiben, der Psychiater würde Psychopharmaka zur Beruhigung verabreichen. Diese Interventionen würden zwar den akuten körperlichen und psychischen Zustand des Patienten beeinflussen, aber sein Problem wäre nicht gelöst. Denn wie er mit der Situation und seinen heftigen Gefühlen umgehen und darüber hinaus, ob er sich trennen oder um die Beziehung kämpfen soll, das wüsste er längst nicht.
Ein Psychotherapeut würde die Sache anders angehen. Er würde sich mit den Ängsten, Erwartungen und Sehnsüchten dieses Menschen befassen. Er würde erkunden, welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung stehen, mit den starken Gefühlen umzugehen. Er würde ihn durch Affekte, durch emotionale Ausbrüche begleiten. Er würde sich mit seiner persönlichen und daher einzigartigen Geschichte befassen. Er würde der Frage nachgehen, wie es zu der geschilderten Entwicklung in der Beziehung kam. Und schließlich und endlich ginge es darum, eine Entscheidung zwischen den beiden Möglichkeiten ‚Kampf um den Partner’ oder ‚Trennung’ zu finden oder sogar eine andere, vielleicht bessere Umgangsweise damit zu entdecken.
Arzt und Psychiater gehen schematisch vor. Das macht für den Psychotherapeuten keinen Sinn. Er kann seinem Klienten kein Rezept verschreiben, ja nicht einmal Ratschläge aussprechen, weil damit die Besonderheiten des Falls und der Person, also die Beziehungsgeschichte, der persönliche (emotionale, körperliche) Zustand, die Arbeitssituation, die Lebensvorstellungen, die individuellen Fähigkeiten und anderes Wichtige unberücksichtigt blieben.
Fragt man einen Psychotherapeuten nun nach dem richtigen Umgang mit Eifersucht und Angst oder anderen Problemzuständen, kann dieser lediglich sagen: „Es kommt darauf an“. Worauf? Auf den Fall, auf die Umstände, auf die persönliche Verfassung, auf die jeweiligen Erwartungen, auf die momentane psychische Stabilität, auf die individuellen Ressourcen, auf die Reaktion der Umgebung und auf anderes mehr.
Der Unterschied zwischen Festlegung und Offenheit könnte größer kaum sein. Durch die Augen des Arztes oder Psychiaters erscheint eine Depression als ‚Stoffwechselstörung des Gehirns’, die medikamentös zu behandeln ist. So sah sie zumindest der Psychiater und Direktor des Max-Plank-Instituts für Psychiatrie in Müchen, Florian Holsboer:
“Ein Depression ist eine Stoffwechselstörung im Gehirn, die sich auf unser Befinden und Verhalten auswirkt. Damit ist sie für mich eine organische Krankheit wie Rheuma oder Diabetes oder Parkinson.”1
Durch die Augen des Psychotherapeuten erscheint die Depression als Erleben eines Menschen, der seine Lage als aussichtslos einschätzt und (konsequenter Weise) seine bisherige Lebenslust verliert. Der Arzt ist auf eine Vorgehensweise festgelegt. Der Psychotherapeut kann aus seiner offenen Perspektive heraus Zusammenhänge entdecken und den Kurs nach Belieben verändern. Für den Arzt gibt es Ursachen, für den Psychotherapeuten gibt es nur vage Zusammenhänge.
“In diesem Kontext der Unbestimmtheit, ja, wahrscheinlich sogar der prinzipiellen Unentscheidbarkeit ‚wahrer’ Ursachen, ist die Psychotherapie zu verorten.”2
Psychotherapie ist auf Offenheit angewiesen, weil sie nicht nach Ursachen, sondern nach Deutungen sucht. Alles psychisches Erleben – auch ein psychisches Problem – beruht ausschließlich auf Deutungen. Daher kommt es darauf an, welche Deutung jemand auf dem Hintergrund seiner persönlichen Geschichte und unter konkreten Umständen entwickelt. Diese Deutungen fallen je nach Individuum und Lage der Dinge sehr unterschiedlich aus. Was dem einen Angst macht, lässt einen anderen kalt. Was der eine verarbeiten kann, wirft einen anderen aus der Bahn. Wobei der eine emotionale oder gar körperliche Symptome entwickelt, zuckt ein anderer bloß mit der Achsel. Warum? Weil er die Lage anders deutet. Der Betroffene auf dem obigen Beispiel deutet das Fremdgehen seiner Partnerin als existentiell bedrohlich und reagiert entsprechend panisch. Natürlich ist sein Überleben nicht objektiv bedroht, sondern er fühlt sich bedroht und könnte sich oder anderen im Versuch, emotionale Sicherheit zu finden schaden, beispielsweise durch eine Eifersuchtshandlung.
Die Psyche ist ein weites und unüberschaubares Feld. Es gibt in ihr keinen Ort, von dem Störungen ausgehen, es gibt keinen Infektionsherd, keine gebrochenen Knochen. Ursachen sind in der Psyche nicht zu finden, man trifft lediglich unterschiedlichste Deutungen, auf einen individuell generierten Sinn. Die Kunst der Psychotherapie liegt nun darin, zu anderen Deutungen zu gelangen. Andere Deutungen erzeugen einen anderen Sinn und ermöglichen andere Gefühle, ein anderes Erleben und ein anderes Verhalten. Neue Deutungen aber schüttelt niemand aus dem Ärmel, sie entstehen auch nicht durch Einsicht oder Verständnis. Sie wollen im Kontakt mit Menschen entwickelt werden und müssen zahllose Umstände mit einbeziehen, etwa emotionale, rationale, körperliche, beziehungsmäßige und soziale Umstände.
Neu- oder Umdeutungen geschehen, indem man die psychischen Zusammenhänge erkundet und Deutungen erkennt und prüft. Oder indem man einen Sinn hinter einem problematischen Erleben vermutet. Der Sinn einer Eifersucht könnte beispielsweise darin liegen, sich zu behaupten, die Wut des Eifersüchtigen könnte genutzt werden, um eine größere Unabhängigkeit zu erlangen. Mit dieser Deutung (oder einer anderen) ginge es für den Betroffenen dann weiter. Der Sinn einer Depression könnte darin liegen, sich zu verweigern. Er würde sich offenbaren indem man beispielsweise herausfindet, was verweigert wird und wogegen sich die Verweigerung richtet. So gesehen würde aus der Verweigerung eine Auflehnung gegen die Ansprüche anderer oder gegen verinnerlichte Zwänge, die einem das Leben schwermachen.
Das Gesagte legt nahe, Psychotherapie weniger als Wissenschaft, sondern vielmehr als eine Kunst zu verstehen. Als die Kunst, zu anderen Deutungen zu gelangen, zu Deutungen, mit denen man weiterkommt.
Diese Aussage sollte man allerdings richtig verstehen. Deutungen und die damit verbundenen Identitäten (Wer deutet auf diese Weise?) sind robuste Strukturen, die sich nicht willkürlich und nach Lust und Laune, sondern nur mit einigem Aufwand verändern lassen. Mit einem Aufwand, zu dem die Psychotherapie beitragen kann, wenn sie genügend Offenheit aufbringt, um die Dinge lange genug vage sein zu lassen. Psychische Zusammenhänge können sich nämlich jeden Augenblick als etwas anderes herausstellen, als sie bisher erschienen. Eine Erinnerung, ein Gefühl, ein Zustand, ein Ziel kann sich im Laufe einer Psychotherapie verändern, es kann sich plötzlich ein neues Bild der Lage ergeben. Daher kann jede Festlegung dem Klienten im Wege stehen statt ihn auf seinem Weg zu einer neuen Orientierung zu begleiten.
Zu erforderlichen Offenheit der Psychotherapie gehört meines Erachtens auch eine große Umsicht im Umgang mit dem Begriff der Krankheit. Die Bewertung ‚psychisch krank’ erweckt allzu leicht den Eindruck, man könne die Ursache eines psychischen Problems eindeutig benennen. Über solche Gewissheiten verfügt die Psychotherapie jedoch nicht. Daher ist die harte Diagnose ‚psychisch krank’ oder die verschleiernde Diagnose ‚psychisch gestört’ meist unangemessen. Auch der Umstand, dass jemand leidet kann nicht als Rechtfertigung für eine Pathologisierung dienen. Sonst wäre jeder, der an einem Verlust, einer Enttäuschung, einem Schicksalsschlag leidet, zugleich psychisch krank. Natürlich kann es Klienten entlasten, wenn bei ihnen eine psychische Erkrankung diagnostiziert wird und sie endlich ‘wissen’ was sie ‘haben’. Aber es kann Betroffene auch belasten, wenn ihre Krise oder Desorientierung zur behandlungsbedürftigen Krankheit erklärt wird. Der für eine Psychotherapie nötigen Offenheit entsprechen die Begriffe ‘Krise’ und ‘Begleitung’ weitaus mehr als die Begriffe ‘Krankheit’ und ‘Behandlung’. Psychotherapeuten benutzen allerdings fast ausschließlich das zweite Begriffspaar.
