Kitabı oku: «Die Verunglückten», sayfa 2
V.
Auch wenn Jean Améry, Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson den kollektiven Kampf um die gesellschaftliche Umwälzung der Verhältnisse aus wesentlich größerer Entfernung nicht ohne innere Leidenschaft und Teilnahme beobachteten, entwickelten sie nie solch »konkrete Utopien«. Ihre Nähe zu Ernst Bloch und seinem Prinzip Hoffnung bestand vielmehr darin, dass sie im Unglück der Zeit als Schriftsteller vor allem individuell-literarische Gestalten der Erlösung suchten. Jean Améry strebte mit seinen zeitkritischen Essays die Versöhnung zwischen jüdischen Opfern und deutschen Tätern an, selbst ahnend, dass sein prophetischer Versuch, der traumatischen Geschichte nachträglich Sinn zu verleihen, sich als vergeblich erweisen könnte. Ingeborg Bachmann zelebrierte, angeregt durch die Lektüre Robert Musils, literarisch schon früh den »anderen Zustand«, der jedoch als »mystisches« und »ekstatisches« Erlebnis keine unmittelbaren politischen Folgen hatte. Einzig in der Begegnung mit Paul Celan und seiner Dichtung schien ihr eine Form der persönlichen und gedanklichen Erlösung angesichts des Holocaust für Momente möglich zu sein. Später suchte Bachmann als Gegenpol zu ihrer Rationalität nicht nur im Projekt der Todesarten ästhetische Zuflucht. Immer öfter strebte sie jenseits der Worte ekstatische Zustände durch erotische Erlebnisse und lebenszerstörende Drogen an. Uwe Johnson war ein exzessiver Alkoholiker, der besorgte Stimmen mit der Auskunft beruhigte, er wisse zu viel. Gleichwohl blieb ihm die Literatur ein Medium, der politischen Sehnsucht nach einer gerechteren Welt Ausdruck zu geben. Nachdem der Prager Frühling, seine dezente Utopie, erstickt worden war, setzte Johnson dem »Manifest der Zweitausend Worte« im Epos der Jahrestage ein literarisches Denkmal und schloss mit den Worten: »Wenn ihr wissen wollt, was an Sozialismus möglich ist zu unseren Zeiten, lernt Tschechisch, Leute!«
Worin damals intellektuell der Unterschied zwischen diesen drei Schriftstellern und Hans Magnus Enzensberger lag, der wesentlich stärker das Anliegen von Ulrike Meinhof teilte, lässt sich gut an seiner Begegnung mit Hannah Arendt veranschaulichen. Sie hatte Enzensberger schätzen gelernt, als er seine fulminante Kritik an der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihrer Berichterstattung zum Eichmann-Prozess formuliert hatte. Er wiederum hatte als junger Mann begeistert Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gelesen, das ihn davor bewahrt habe, dem naiven Glauben an die östliche Sache zu verfallen. Aber nachdem sie sich 1965 in New York in Arendts Wohnung in der Upper West Side Manhattans persönlich begegnet waren, blieb es bei diesem einen höflichen Treffen. Arendt konnte sich später für eine Besprechung im Merkur »nicht Enzensberger oder einen der eingeschworenen Marxisten« vorstellen, wie sie deutlich an dessen Herausgeber schrieb. Dass sein Gespräch mit Hannah Arendt gescheitert war, rückte Enzensberger auf Nachfrage ihres Biographen Thomas Wild in ein mildes Licht; es komme nicht darauf an, »in Arendts Wohnung zu sitzen«: »Was Hannah Arendt mir zu sagen und zu geben hatte, stand in ihren Büchern.«
Dagegen war Hannah Arendt begeistert von Ingeborg Bachmann, die sie sich nach dem Treffen im New Yorker Goethe-Haus als deutsche Übersetzerin von Eichmann in Jerusalem wünschte: »Wir denken in vielen Dingen ähnlich und sie wird nicht so schockiert sein wie vielleicht mancher andere.« Auch Uwe Johnson folgte nicht dem Zeitgeist des emphatischen Theoretisierens, das die deutschen Intellektuellen zu Arendts Bestürzung so mochten. Im Mai 1965 schrieb sie ihrem Lehrer Karl Jaspers: »A propos deutsche Schriftsteller: Sind augenblicklich alle hier, Grass und Johnson habe ich kennengelernt, darüber mündlich. Und Enzensberger ist im Anzug. Der Mangel an gesundem Menschenverstand ist oft zum Verzweifeln.« Durch den Kreis der New York Intellectuals war Arendt einen angelsächsischen Liberalismus und Pragmatismus gewohnt, dem seit Stalins Moskauer Prozessen jedes Liebäugeln mit dem Marxismus als politischer Utopie naiv erschien.
Allerdings hatte Arendt 1968 einige Sympathie für die rauschhafte Begeisterung im Pariser Mai, die Daniel Cohn-Bendit, ein Sohn guter Freunde, mit ausgelöst hatte. Sie mochte die subversive Infragestellung erstarrter Strukturen im Geiste einer offenen Räterepublik. Selbst Elias Canetti schilderte die beeindruckende Bewegung, die ihm gerade an der Sorbonne begegnet war: »Die Fenster oben von jungen Menschen besetzt, ein rotes Halstuch um das steinerne Standbild Victor Hugos. Junge Anarchisten rufen ihre Zeitung aus. Atmosphäre von Freiheit, in der jeder zur Rede kommt, niemand mundtot gemacht wird, jede angehört wird.« In Über die Revolution hatte Hannah Arendt einige Jahre vor den revolutionären Aufbrüchen der Studenten die Leistungen der amerikanischen Gründerväter in Erinnerung gerufen. Diese hatten in ihrer demokratischen Verfassung um 1776 dezentrale Strukturen vorgesehen, um unabhängige Meinungsbildungen innerhalb eines pluralen Gemeinwesens zu ermöglichen und so die relative Ordnung des freiheitlichen Individualismus zu sichern. Zu Zeiten des Vietnam-Krieges demonstrierte gerade die studentische Protestbewegung für Arendt erneut die vitale Stärke des revolutionären Erbes der Väter. Im Mai 1966 schrieb sie Jaspers aus Chicago: »Die Studentenunruhen […] waren eigentlich sehr erfreulich. […] Man hat nicht die Polizei gerufen und den Studenten nicht gedroht. Nach drei Tagen sind sie freiwillig wieder abgezogen, haben die ganze Zeit hindurch diskutiert und sich streng an alle parlamentarischen Spielregeln gehalten. Jeder kam zu Wort, jeder wurde gehört, niemand wurde ausgepfiffen, alle Anträge wurden ordnungsgemäß gestellt – kurz, es war in keinem Augenblick ein Mob.«
Jean Améry gehörte mit Arendt zu den liberalen Autoren des Merkur, deren Essays kritische Einsprachen gegenüber der revolutionären Studentenschaft boten. Der österreichische Jude hatte am eigenen Leibe die Qualen erlebt, die eine ideologische Revolution ganz anderer Art in Deutschland über ihn gebracht hatte. Sein Votum entsprach dem, was Jürgen Habermas in der frühen Hochphase der Studentenbewegung als »Linksfaschismus« bezeichnet hatte. Enzensberger gibt in Tumult Einblick in die oft naive bis blindgläubige Parteigängerschaft, der er früher diplomatisch einigen Tribut gezollt hatte, etwa wenn er ein Gespräch mit seiner norwegischen Frau Dagrun erinnert: »Das Bedürfnis nach Religion kann aller Zweifel Herr werden. Mit steinernem Gesicht erklärte dieses zarte Geschöpf mir, die Moskauer Prozesse seien ein Muster der Volksjustiz gewesen, ganz zu schweigen von Trotzki – diesem Verräter sei ganz recht geschehen. Nur die bürgerliche Propaganda verleumde den Kameraden Stalin. Die russischen Kommunisten, die im Gulag zugrunde gegangen sind, seien Volksfeinde gewesen, Revisionisten, Spione. Gewiß hätten übereifrige Funktionäre einzelne Fehler gemacht, aber davon habe Stalin nichts gewußt. Der diabolus ex machina trug in dieser Version den Namen Chruschtschow. Erst mit ihm habe die Agonie der Oktoberrevolution begonnen.«
Dass Hans Magnus Enzensberger sich in jenen Jahren nicht entscheiden konnte, seine Sympathien für revolutionäre Formen der Beglückung gänzlich aufzugeben, ist ihm im Rückblick peinlich. Tatsächlich entwickelte er in seiner »zweideutigen Haltung«, dem »Doppelleben«, wie es in Tumult heißt, nie die persönliche Haftbarkeit des Denkens, die Hannah Arendt bei Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson schätzte und die auch Jean Améry mit ihnen verband. Aber Enzensbergers Kunst, sich dem existentiellen Ernst zu entziehen, sobald er zu tief ins eigene Leben einschnitt, bewahrte ihn auch davor, die Radikalisierung in der Tat mitzuvollziehen, die er im Wort so leidenschaftlich gepriesen hatte. Ein Dokument seiner schillernden Ambivalenz ist der Brief, den er Ulrike Meinhof schickte, bevor diese endgültig den Weg des gewaltsamen Kampfes wählte. Enzensberger gibt sich noch den opaken Anschein des Revolutionärs und deutet doch an, wie fern er inwendig dem Tumult schon gerückt war: »Heute, am dritten Adventstag 1969, ist es hier so: die Frankfurter Marxisten-Leninisten haben sich in ML-1, ML-2 und ML-3 aufgespalten. Das Geld wirbelt auf den Straßen herum, und in den Kaufhäusern brüllen die Leute, mit Weihnachtspaketen behangen. Die Befreiung der Menschheit macht große Fortschritte: Pornographie und Mao, alles auf eine Wand geklebt. Niemand weiß mehr, was wahr und was gelogen ist, es geht durcheinander wie ein Haschisch-Bild. […] Ich bin jetzt uralt, aber springe herum wie ein Heupferd. Jeden Tag kommen neue Bücher. Ich habe fast aufgehört, sie zu lesen. […] Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wir uns nicht umbringen lassen sollten. Meistens weigere ich mich sogar, mich zu ärgern.« Im milden Blick zurück gesteht der altersweise Enzensberger zu, dass schon damals sein revolutionäres Kostüm fadenscheinig geworden war: »Natürlich ahnten die intelligenteren Häuptlinge unter den politischen Köpfen, daß auf einen Schriftsteller, auch wenn er den Mund voll nimmt mit politischen Phrasen, im Grunde kein Verlaß ist.«
VI.
Die Figur des Harlekins, die Enzensberger für Jürgen Habermas im Schauspiel der Revolution dargeboten hatte, gilt ikonographisch als Gestalt einer hintergründigen Nachdenklichkeit. Im Maskenspiel spricht der Harlekin der Zeit das Urteil, scheinbar ohne letzten Ernst. Die Passionsfigur dagegen bedeutet kunstgeschichtlich eine altmeisterlich frühere und vertrautere Gestalt, deren Melancholie sich am eigenen und fremden Leid entzündet. Ikonographisch gründet sie in der religiösen Tradition; die Leidensgeschichte Christi wurde in der Neuzeit zunehmend sublimer mit der realistischen Anschauung von Landschaft und Leben der Menschen verknüpft, so dass später das Leiden in ferneren symbolischen und allegorischen Bildern seinen Ausdruck erlangte, bis hin zu gänzlich säkularen Gestalten. Gleichwohl blieb die ikonographische Strahlkraft der klassischen Passion bestehen, für die Moderne wohl am stärksten ersichtlich in der Wirkung, die Matthias Grünewalds Isenheimer Altar nach dem Ersten Weltkrieg auf Künstler aller Genres ausgeübt hatte. Exemplarisch schrieb Elias Canetti über seinen Besuch in Colmar: »Wovon man sich in der Wirklichkeit mit Grauen abgewandt hätte, das war im Bilde noch aufzufassen, eine Erinnerung an das Entsetzen, das die Menschen einander bereiten. […] Alles Entsetzliche, das bevorsteht, ist hier vorweggenommen.«
Um 1968 wurde Che Guevara in vielfacher Überblendung mit dem leidenden Christus, der ebenfalls für die Armen und Rechtlosen gestorben war, zur führenden Ikone der Revolution, die weltweit gleichsam als Monstranz der guten Sache diente. Der Kunsthistoriker David Kunzle hat jüngst entlang eines ganzen Kaleidoskops an vergleichenden Bildern diesen Chesucristo. Die Fusion von Che Guevara und Jesus Christus beschrieben. In Tumult finden sich solche Bilder des heroischen Guerilla-Führers öfter, die Che auch zum beliebten Idol der Sprayer in New York werden ließ. Die Geschichte eines jungen Bauern, der in Italien begeistert das Konterfei des Guerilla-Führers trägt und sich in Kuba das Leben nimmt, erzählt Enzensberger dazu en passant.
In Deutschland wurde Rudi Dutschke mit seiner großen Nähe zum politisch engagierten Protestantismus zu einer vergleichbaren Gestalt. Denn nach dem Attentat auf ihn zu Ostern 1968 betrachtete man auch ihn wie Che als leidensbereiten Kämpfer für die gute Sache. Auch der Freitod Ulrike Meinhofs im Mai 1976 im Gefängnis Stammheim lässt sich im Horizont dieser politischen Ikonographie deuten. Dabei hatte sich die Studentin – angeregt durch das Interesse an den Alten Meistern und der barocken Lyrik, die der Vater als traditionsbewusster Kunsthistoriker und frommer Christ früh in Meinhof geweckt hatte – schon in ihren kunst- und literaturhistorischen Studien lange mit der Passionsgeschichte beschäftigt.
In ganz anderer Deutlichkeit entfaltet der katholisch erzogene Jean Améry zwei Jahre nach Meinhofs Tod in dem Essay Mein Judentum säkularisierte Gedanken einer jüdisch-christlichen Passionsfigur: »Der Jude war das Opfertier. Er hatte den Kelch zu trinken – bis zum allerbittersten Ende. Ich trank. Und dies wurde mein Judesein. Das Judentum war eine andere Sache. Mit ihm hatte ich nichts zu tun.« Die Erfahrung des Holocaust wird ihn im Herbst 1978 einholen. Jean Améry nimmt sich in Salzburg das Leben und wird zur modernen Passionsfigur wider Willen.
Auch Uwe Johnson exponiert in seinen Jahrestagen das Passionsmotiv. Gesine Cresspahl leuchtet dessen religiöse Erklärung im protestantischen Konfirmationsunterricht nicht ein. Johnsons Heldin lehnt Tod und Sühne als dogmatisches Modell ab, das helfen soll, mit der Geschichte fertig zu werden. Dagegen hält Gesine es strikt mit der aufklärerischen Notwendigkeit, »mit Kenntnis zu leben«. Ihre übergewissenhafte Mutter dagegen, die schon zwei Selbstmordversuche hinter sich hat, wählt in der Nacht vom 9. November 1938 in einer Scheune den Verbrennungstod, nachdem ein jüdisches Mädchen erschlagen worden war. Johnson lässt es offen, ob ihr Tod Ausdruck eines irregeleiteten Gewissens oder vielmehr, wie der Pastor es will, als politisch bewegtes Selbstopfer zu sehen ist, das zugleich eine aktive Sühne im Sinne Jesu bedeute. Vor Abschluss der Jahrestage ließ Johnson in der autobiographischen Skizze eines Verunglückten sein Alter Ego den Selbstmord vergeblich suchen. Nur ein »Ableben« war dem Protagonisten möglich, das vor allem der quälenden Erinnerung an das persönliche Unglück geschuldet war, in das ihn das Eheleben nach Jahren vermeintlichen Glücks gestürzt hatte. Johnson selbst starb drei Jahre später, als das große Epos endlich beendet war, an den Folgen des jahrelangen Alkoholexzesses, dem er sich in der Einsamkeit der englischen Jahre hingegeben hatte. Das suizidale Denken, das im Werk in vielfachen Nuancierungen anklang, holte Johnson in dieser protrahierten Form der Selbstzerstörung endgültig ein.
Auch bei Ingeborg Bachmann ist im schriftstellerischen Bewusstsein der Holocaust präsent. In ihrem Hauptwerk Malina quälen das »Ich« schreckliche Träume vom Tod in den Gaskammern. Bachmann imaginiert das Schicksal des Verbrennungstods in dem Roman sowie in einer anderen Erzählung. Tatsächlich erlag die Dichterin im Oktober 1973 den Verbrennungen, die sie sich in einem narkotischen Zustand nach Tablettenmissbrauch zugezogen hatte. Seit einem frühen Essay über Simone Weil war die Figur des Heiligen, der dem Unglück der Wirklichkeit mit der Konsequenz seines tödlichen Martyriums begegnet, in ihrem Werk präsent, auch wenn Bachmann selbst das Lebensglück durchaus zu genießen wußte. Die Freundschaft zu Hans Magnus Enzensberger blieb bis zuletzt ungebrochen, gerade weil Bachmann unter anderem darauf verzichtete, von den »vielen Liebhaber[n]« zu berichten, »die sie ertrug«, so der Autor in seiner späten »Vignette«. Dabei habe sie »von ihren Fluchten, ihren Depressionen und von den langen Monaten, die sie in Kliniken und Sanatorien zugebracht hatte, […] hie und da etwas durchblicken« lassen.
VII.
Die folgenden Persönlichkeitsprofile geben in allen Fällen suizidale Züge zu erkennen, die erlauben, von säkularisierten Passionsgeschichten zu sprechen. Mit dem deutsch-jüdischen Literaturhistoriker Erich Auerbach, einem Freund Walter Benjamins, lässt sich der untergründige Zusammenhang zwischen der Religionshistorie und der modernen Literatur genauer verstehen. Nicht zufällig erinnerte sich der Romanist, den man 1936 von seinem Marburger Lehrstuhl vertrieben hatte, im türkischen Exil an die alttestamentlichen Wurzeln des Passionsgedankens, den er in seinem Buch Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur über dessen christliche Überformung bis in die moderne Gestalt bei Virginia Woolf verfolgt hatte. Dass diese Sicht sich dem Geist der Hegel-Zeit verdankt, in der die große Wende von der christlichen zur säkularen Deutung der Wirklichkeit statthatte, dessen ist sich Auerbach bewusst. Zugleich geht mit seiner Genealogie die Einsicht in die jüdischen Wurzeln des Rätsels des Lebensopfers einher: die Opferung des Isaak. Die menschliche Vernunft kann diesen Gedanken nicht fassen; jedem Opfer wohnt bei aller Konsequenz etwas Absurdes inne, als ob der Tod wirklich der Ursprung der Versöhnung sein könnte, wie es das Christentum propagiert.
Auerbach löst das Geheimnis keineswegs, aber seine Erinnerung an die jüdisch-christlichen Wurzeln der Passion in ihren vielfältigen Aporien erlaubt, die Schreibmotive der modernen Autoren in ihren suizidalen Gedanken und Handlungen besser nachzuvollziehen. Wo die Autorität der Religion schwindet, müssen menschliche Visionen versuchen, das Leiden als eine Kategorie des Lebens in dessen »Grenzsituationen« zu verstehen, um mit Karl Jaspers zu sprechen. Insofern kommen in den vier Fallstudien auch psychopathologische und kulturphilosophische Einsichten zum Tragen, um Werk und Leben der Autoren im biographischen und historischen Bedingungsgefüge genauer erhellen zu können.
Was jenseits aller Details sichtbar werden kann, sind jeweils eigentümliche Strukturen, in denen das eigene und allgemeine Unglück erlebt wird. In allen Fällen fehlt der befreiende Ausgang ins Leben, den Hans Magnus Enzensberger bis heute virtuos beherrscht. Mit einem Zitat aus Ingeborg Bachmanns Gedicht »Die gestundete Zeit« verteidigt er »Überlebenskünstler«, die mit Leichtigkeit und Wendigkeit begnadet sind: »Sind Anpassung, glückliche Zufälle, Kompromisse und mehrdeutige Entscheidungen von vorgestern? Kann man nichts von ihnen lernen? ›Es kommen härtere Tage‹«. Enzensberger ist eine solch glücklichere Natur, die sich aber auch ein feines Gespür für jene »Spätfolgen der Traumata« bewahrt hat, welche etwa Jean Améry, Paul Celan und Primo Levi in den Freitod getrieben haben. Die hier behandelten Werke und Lebensgeschichten zeugen auch von dem vergeblichen Bemühen Bachmanns, Johnsons und Meinhofs, der inneren Verzweiflung angesichts der historischen Katastrophe zu entkommen.
In allen Skizzen wird man, um an Franz Kafka zu erinnern, mit dem Unglück des Lebens vertraut, das zwar ästhetisch zu lindern, aber nicht zu überwinden ist. Gleichwohl bleibt auch die andere Seite des leidenschaftlichen Interesses an den Schriftstellern und ihren Lebensläufen wahr, die Uwe Johnson einmal wunderbar formulierte: »Er fand es regelmäßig lehrreich, eine Person anzusehen auf ihre Entstehung, hinter der Person ihr Leben zu finden. Es machte Spaß, einer bewußten Vergangenheit die tatsächliche zu finden, die Erinnerung einer Person mitzunehmen zurück ins Vergessene, auch sie überrascht zu sehen vor sich selbst.«
Das Leben eines Schiffbrüchigen Jean Améry
I.
»Der Essayist Jean Améry wurde […] in Salzburg tot aufgefunden. Aus den Phiolen seiner Medikamente fehlten etwa fünfzig Tabletten.« So eröffnete die Wiener Presse am 19. Oktober 1978 ihren Nachruf. Wolfgang Kraus, ein Améry wohlgesinnter Literaturkritiker, schließt erschüttert mit einer Passage aus Hand an sich legen: »Ich schlage, immer noch fassungslos, die letzte Seite seines Buches über den Freitod auf und lese: ›Es steht nicht gut um den Suizidär; stand nicht zum besten für den Suizidanten. Wir sollten ihnen Respekt vor ihrem Tun und Lassen, sollten ihnen Anteilnahme nicht versagen, zumal wir selber keine glänzende Figur machen. Beklagenswert nehmen wir uns aus, das kann ein jeder sehen. So wollen wir gedämpft und in ordentlicher Haltung, gesenkten Kopfes den beklagen, der uns in Freiheit verließ.‹«
Diese Haltung zeigte auch Primo Levi, der Améry aus der gemeinsamen Lagerzeit in Auschwitz kannte. Der italienische Schriftsteller und Chemiker, der sich selbst ein knappes Jahrzehnt später im Zuge einer Depression das Leben nehmen sollte, sprach vom »harten Kern der Unbegreiflichkeit«, der über jedem Selbstmord liege. Zugleich gestand Levi angesichts von Hand an sich legen zu, dass der »Freitod des streitbaren, einsamen Philosophen« eine erschütternde Folgerichtigkeit besitze: »Man liest diese Seiten mit einem nahezu physischen Schmerz, sie sind das Zeugnis eines Schiffbruchs, der sich über Jahrzehnte hinzieht, bis zu seinem stoischen Abschluß.«
Betreten hatte Jean Améry die intellektuelle Bühne in Deutschland im Jahr 1965, als er mit dem Essay »Die Tortur« für die Zeitschrift Merkur seine Qualen in der Gestapohaft schilderte. Der zugehörige, von ihm selbst verfasste Lebensabriss lässt das Unglück ahnen, das ihn anschließend erwarten sollte: »Jean Améry, geboren 1912 in Wien. Studium der Literatur und Philosophie in Wien. 1938 Emigration nach Belgien. 1941–1943 Widerstandsbewegung in Belgien. Verhaftung durch Gestapo. Deportation nach verschiedenen Konzentrationslagen. Lebt als freier Schriftsteller, Journalist und Rundfunkmitarbeiter in Brüssel.«
Ingeborg Bachmann war damals tief beeindruckt von den genauen Reflexionen. In der Erzählung »Drei Wege zum See« schreibt sie über deren Protagonistin: »Viel später las sie zufällig einen Essay ›Über die Tortur‹, von einem Mann mit einem französischen Namen, der aber ein Österreicher war und in Belgien lebte, und danach verstand sie, was Trotta gemeint hatte, denn darin war ausgedrückt, was sie und alle Journalisten nicht ausdrücken konnten, was auch die überlebenden Opfer, deren Aussagen man in rasch aufgezeichneten Dokumenten publizierte, nicht zu sagen vermochten.« Die Journalistin ist sprachlos angesichts eines Menschen, der es nach langen Jahres geschafft hatte, »durch die Oberfläche entsetzlicher Fakten zu dringen«. Ebenso überrascht zeigte sich Theodor W. Adorno von dem Essay, als er in seiner Frankfurter Vorlesung 1965 auf den ihm »übrigens völlig unbekannten Autor namens Jean Améry« hinwies, auch wenn er dem eigenen Denken »mit seiner philosophischen Armatur, nämlich der des Existenzialismus, keineswegs gemäß« sei. Aber Améry habe »die Veränderungen in den Gesteinsschichten der Erfahrung, die durch diese Dinge bewirkt worden sind, in einer geradezu bewundernswerten Weise« ausgedrückt.
Bis 1966 entstand der Band Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, dem Améry vier weitere autobiographische Essays beifügte, die seine Lagererfahrungen mit Titeln wie »An den Grenzen des Geistes« wiedergaben. Die öffentliche Resonanz auf die gesammelten Essays war immens und entzündete sich oft an Amérys Fähigkeit, das Erfahrene gedanklich zu durchdringen. So schrieb Horst Krüger in der Zeit: »Wenn wir einen Literaturpreis für große Essayistik haben – dieses Buch hätte ihn verdient. Denn es hat die Kraft und die Moral, Bewußtsein zu verändern. […] Nicht was diesem Menschen widerfuhr, ist das Besondere, sondern wie er es zwanzig Jahre später verarbeitete.«
Begonnen hatte Amérys später Weg in der deutschen literarischen Szenerie, nachdem Helmut Heißenbüttel auf ihn aufmerksam geworden war. Der Rundfunkredakteur erinnerte sich im Nachruf an die erste Begegnung: »Als ich ihn 1964 zufällig bei einer Einladung des Goethe-Instituts in Brüssel traf, hatte er eben versucht, die Position des Intellektuellen im Konzentrationslager, in Auschwitz, zu durchdenken und zu formulieren. Er hatte […] das alles […] zwanzig Jahre nicht anzurühren gewagt. Jetzt wollte er reden, Zeugnis geben.« Jean Améry akzentuierte ihre Begegnung an entscheidender Stelle anders. Seiner Erinnerung nach hatte der Redakteur selbst ihm den Vorschlag unterbreitet, über die Lagererfahrung zu schreiben: »1964 begegnete ich in Brüssel durch Zufall Helmut Heißenbüttel. […] Schon waren zwei Jahrzehnte hingegangen, seit das Schmachreich getilgt war, und so ging ich ein auf des mir mehr als nur sympathischen Mannes Vorschlag, für ihn und seinen Südfunk eine Sendereihe zu verfassen.« Er habe dessen Angebot, so sagt es Améry 1978 in der Antrittsrede vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung nur »zögernd und unbehaglich« erwidert; später sei es sein Anliegen gewesen, nicht als »Berufs-Nazi-Opfer« zu gelten, der das Erlebte sprachlich so bannen könne: »Man nannte mich einen ›Essayisten‹ und war beleidigt, als ich in Lefeu oder Der Abbruch die Grenze überschritt und mich an die belles lettres heranwagte, in denen ich schließlich meine literarischen Ursprünge hatte.« Dass sein erster Roman Die Schiffbrüchigen vor und nach 1945 keinen Verleger gefunden hatte, war für Améry eine Folge der Zeitumstände: »1934 machte ich mich an einen Roman. Robert Musil fand ihn begabt und ermutigte mich. Aber die herzhafte Tapferkeit kam nicht auf gegen den Lauf der Dinge. […] Bald nahm der Krieg mir alle Sorgen ab: Untergrund, Nazi-Gefängnisse und KZ-Lager sind keine rechten Arbeitsstätten für literarische Bemühungen.«
Ohne Zweifel schmerzte Améry trotz der großen Resonanz, die er als essayistischer Autobiograph erzielt hatte, die fehlende Anerkennung als Romanautor. Neben dem Trauma der Lagerzeit blieb diese Versagung für ihn eine tiefe, bleibende Wunde, die bis zuletzt schmerzte und nach Heilung verlangte. Deshalb versuchte Améry noch zur Zeit der Darmstädter Rede, dem Schicksal erneut mit einem »Roman-Essay« die Stirn zu bieten. Hans Paeschke, dem ihm seit 1965 vertrauten Herausgeber des Merkur, gestand er damals seine große Unruhe: »Im übrigen warte ich jetzt mit echter Autoren-Bangnis auf das Echo oder das Schweigen, das auf meinen Charles Bovary folgen wird. Es hängt für mich sehr viel davon ab, denn ich bin ein sich Wandelnder und will nicht ewiglich mir den Mund mit dem Etikett Essayist verkleben lassen.«
Noch bis in seine letzte Lebenswoche beklagte Améry, der früh einen Band über Karrieren und Köpfe verfasst hatte, den unglücklichen Verlauf seines Lebens. Im Brief an eine vertraute Rundfunkredakteurin schrieb er: »Nur habe ich mir die Frage gestellt, ob es nicht so etwas wie ein Schicksalsirrtum war, daß ich mich 1945, als ich noch relativ jung war, nicht entschloß, ein französischer Schriftsteller zu werden. Mir fiel dabei ein berühmtes Gedicht von H. M. Enzensberger ein (ich behalte Lyrik ja sehr gut im Gedächtnis …), in dem es heißt: ›Was habe ich verloren in diesem Lande?‹« Die letzten Zeilen des Gedichts lauten in suizidal verstehbarer Mehrdeutigkeit:
mördergrube, in die ich herzlich geworfen bin
bei halbwegs lebendigem leib,
da bleibe ich jetzt,
ich hadere aber ich weiche nicht,
da bleibe ich eine zeitlang,
bis ich von hinnen fahre zu den anderen leuten,
und ruhe aus, in einem ganz gewöhnlichen land,
hier nicht,
nicht hier.