Kitabı oku: «Die Verunglückten», sayfa 4
V.
Der Weg seines Schreibens in den 1970er Jahre enthüllt nach den essayistischen Erfolgen auch, wie sehr das frühe Trauma, nicht als Schriftsteller anerkannt worden zu sein, in Améry weiterwirkte. So gestand er Anfang 1973 dem Wiener Jugendfreund Ernst Mayer, dass er literarische Pläne habe: »Der Schritt in das im engeren Sinne ›Dichterische‹ ist immerhin für mich ein Sprung ins kaum noch Bekannte: seit vier Jahrzehnten (›Die Schiffbrüchigen‹) habe ich ja keine erzählende Prosa mehr geschrieben.« Helmut Heißenbüttel bat er, das erste Kapitel seiner werdenden erzählerischen Prosa Lefeu oder Der Abbruch gegenzulesen. Schon der Untertitel Roman-Essay lässt erkennen, wie unsicher sich Améry bis zum Druck fühlte, ob er wirklich ein Erzähler sei: »Ich bin mehr als begierig zu hören, wie Sie diesen Versuch, der für mich eine Art Rückkehr zu meinen erzählerischen Ursprüngen ist, einschätzen.« Dass sich der Büchner-Preisträger Heißenbüttel »im Wesentlichen einverstanden« zeigte, konnte ihn kaum beruhigen. Amérys sehnlichster Wunsch war es, den frühen Misserfolg hinter sich zu lassen. Ernst Mayer gestand er: »Warum ich gar so grossen Wert lege auf gerade dieses Buch? Wahrscheinlich weil ich darin zum erstenmal nach vielen, so vielen Jahren wieder so etwas wie ›Dichtung‹ wagte. Erinnerst Du Dich, wie wir in unserer Jugend einander stets im Scherz ›Dichter‹ nannten? Ganz offensichtlich hing ich doch mehr an dieser Selbstvorstellung als ich in den vergangenen Jahrzehnten, da ich mir als ›Publizist‹ einen kleinen Namen machte, eingestehen wollte.«
Vielleicht ahnte Améry die kommende Enttäuschung, als er nach Erscheinen des Buches Rudolf Hartung mitteilte: »Beunruhigend ist Reich-Ranicki, von dem ich nur hoffen will, dass er sich nicht beckmessernd über meine Arbeit hermacht«. Kaum zwei Wochen später sollte der Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem polemischen Titel »Schrecklich ist die Verführung zum Roman« den Finger in die offene Wunde legen. Dessen Kritik postulierte geradezu höhnisch, dass für Amérys »späte Anerkennung« ein »zentrales Erlebnis« entscheidend sei: »[U]m es anzudeuten, genügt es, die Ortsbezeichnungen Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen zu nennen«. Und angesichts des biographischen Faktums, dass er nach der Flucht aus dem Warschauer Ghetto in einem Versteck mit seiner Frau überlebt hatte, konnte Reich-Ranicki es sich leisten, den Moralismus des »vielgeprüften Mann[es]« mit dem »zerfurchten Gesicht« ironisch zu attackieren. Gleichsam im Horizont von Nietzsches Kritik an den Opfern, die mit ihrem Ressentiment eine geschichtliche Moral einklagen, schrieb der Kritiker: »So sah er sich plötzlich, ob er es wollte oder nicht, in der Rolle eines gesuchten und beliebten Spezialisten für die unbewältigte Vergangenheit, der auch deshalb besonders geschätzt wurde, weil er keine Hemmungen kannte, seine eigenen Schwierigkeiten und Komplexe vor den Lesern oder Zuhörern nicht nur mit schonungsloser Aufrichtigkeit auszubreiten, sondern auch mit geschmeidiger Eloquenz.« Intuitiv erfasste Marcel Reich-Ranicki nicht zuletzt auch die tieferen Sehnsüchte Amérys, als er provozierend folgerte, der erfolgreiche Essayist habe sich »ermuntert und ermutigt« gefühlt, sich den Jugendtraum als Romanautor zu erfüllen.
Die Worte saßen. Seinem Lektor Hubert Arbogast berichtete Améry: »Der törichte Reich-Ranicki war natürlich ein arger Schock.« Ähnlich hieß es gegenüber dem Freund Hans Paeschke: »Zum Thema Reich-Ranicki ist nicht viel zu sagen. Es wäre unaufrichtig, wollte ich nicht gestehen, dass mir dieses Bravourstück einen gewissen Schock verursachte.« Dass auch der hochverehrte Günter Kunert im privaten Brief seine Reserve gegenüber den literarischen Qualitäten von Lefeu geäußert hatte, gab Améry allerdings sehr zu denken. Resigniert antwortete er: »In meinem Falle haben Sie allein schon deshalb recht, weil die Mehrzahl der Kompetenten ungefähr urteilte wie Sie; die Wenigen, die mir tröstend kommende Jahrzehnte versprechen, kommen dagegen nicht auf und dürfen von mir nicht in Betracht gezogen werden.«
Im Januar 1975 berichtete Jean Améry noch voller Gram Ernst Mayer: »Ich stecke, um die Wahrheit zu sagen, in einer ziemlich morastartigen Depression […]. 1974 war ein elendes Jahr. Das Schlimmste, das es mir brachte, war der totale Misserfolg jenes Buches, das ich nicht nur für mein bestes hielt, sondern von dem ich mir einbildete, es sei eine Art von ›Lebenswerk‹ in Kleinformat (denn Grossformatiges habe ich mir ohnehin niemals zugetraut).« Im nächsten Monat schlug Améry auch dem Lektor vor, was er schon Mitte 1974 gegenüber Günter Kunert als Idee geäußert hatte: »Ich möchte ein Buch über den Freitod schreiben (›Hand an sich legen.‹ Meditationen über den Freitod) […]. Es soll ein Buch werden, das den Freitod ganz von innen her darstellt, dass der Autor ganz in die geschlossene Welt des Selbstmörders eintritt.«
VI.
Auf dem Weg zum Diskurs über den Freitod hatte Améry schon 1973 den Essay »Träger der Freiheit« verfasst. Darin bewunderte er vor allem historische Beispiele der Selbsttötung, die auf religiösen und politischen Motiven beruhten. So erschien ihm Thomas Müntzer als herausragendes Beispiel, weil dieser seine Bauern gegen die Übermacht der Fürstenheere in einen mutigen Todeskampf für ein kommendes Reich der irdischen Gerechtigkeit geführt habe. Auch würdigte Améry jene Menschen als »Träger der Freiheit«, die aus politischen Motiven den symbolträchtigen Tod gesucht hätten: »Desgleichen haben die Buddhistenmönche, die sich in Vietnam verbrannten oder hat Jan Palach, der das gleiche Selbstopfer in der ČSSR brachte, in ihren Selbstzerstörungsakten Signale der existentiellen Freiheit gegeben.« Während das kämpferische Martyrium eine »Dimension der Zukunft« entfalten könne, beschreite die demonstrative Selbsttötung den befreienden »Rückweg ins Nichts«. In beiden Fällen erkannte Améry suizidale Handlungen an, die er Jahre zuvor in Jenseits von Schuld und Sühne als Ausdruck ideologischen Denkens abgewertet hatte. Sein Essay gibt zuletzt einen Ausblick auf Menschen, die unabhängig von politischen und religiösen Motiven rein persönliche Gründe für den Suizid angeben. Auch sie sind »Träger der Freiheit«. Drei Jahre später wird Améry in Hand an sich legen ihre Entschiedenheit als moralisch herausragend in den Mittelpunkt seines Diskurses über den Freitod stellen.
Tatsächlich erscheinen in Hand an sich legen diejenigen, die sich aus rein persönlichen Motiven das Leben nehmen, als die eigentlichen Helden, verglichen mit jenen, die im politisch und religiös motivierten Kampf ihr Leben lassen: »[S]ie kennen alle den Moment vor dem Absprung nicht in seiner vollen Dichtigkeit, und die Freiwilligkeit ihres Todes ist stets nur eine halbe. […] Der Held muß nicht unbedingt von der feindlichen Kugel getroffen werden, wenn er im Angriff auf einen Panzer offensichtlich dem Tod in die Arme läuft. Der Märtyrer kann aufgespart werden […]. Der Suizidant aber stirbt aus eigenem Entschluß.« Angesichts der Essays, die Améry einige Jahre zuvor über die bewunderungswürdigen Ghetto- und Lageraufstände in Warschau und Treblinka verfasst hatte, ist sein Vergleich schon erstaunlich. Der Ursprung dieser Größen- oder Ausgleichsphantasie kann in der demütigenden Erfahrung liegen, die der Autor um des Überlebens willen in seiner angepassten Lagerwelt erfuhr. Eine narzisstische oder kompensatorische Überhöhung der suizidalen Phantasien angesichts der traumatischen Erfahrungen der Lagerzeit scheint auch vorzuliegen, wenn Améry die Selbsttötung moralisch über die religiöse Passion stellt, die vor allem im »Sterbe[n] des Propheten auf Golgatha« repräsentiert sei: »Wer Hand an sich legt, ist grundsätzlich ein anderer als der, welcher sich dem Willen der anderen preisgibt: mit diesem geschieht etwas, jener handelt von sich aus.«
Dass Améry die Verhinderung eines solch mutigen Tuns im Diskurs über den Freitod zum eigentlichen Skandal erhebt, ist dann nur konsequent. Die persönliche Erfahrung, nach einem Suizidversuch durch eine Intensivbehandlung ins Leben zurückgeholt worden zu sein, steht dafür Pate: »Eine tiefe Bitternis erfüllte mich gegen alle Gutmeinenden, die mir die Schmach angetan. Ich wurde aggressiv. Ich haßte. Und wußte, ich, der ich vordem intimen Umgang gehabt hatte mit dem Tod und dessen Sonderform, dem Freitod, besser als je zuvor, daß ich dem Tode zugeneigt war und daß die Rettung, deren der Arzt sich rühmte, zum Schlimmsten gehörte, das man mir je zugefügt – und das war nicht wenig.«
Es ist überraschend, dass Améry den Vernichtungswillen der Schergen von damals mit dem lebensrettenden Tun der Helfer von heute im traumatisierenden Resultat gleichsetzt. Während einstmals die mächtigen Widersacher den fremdbestimmten Tod brachten, werden Jahrzehnte später jene moralisch angeklagt, die das selbstbestimmte Sterben nicht zulassen. Die Kritik an der Psychiatrie als staatlich autorisierter Ordnungsmacht fällt entsprechend scharf aus: »Wir sind über das, wie mir scheint, inhumane geistige Entwicklungsstadium, das den Suizid mit dem Bannfluch belegte, noch immer nicht hinausgelangt. Nur daß, wo einst religiöse Gebote und Verbote so verbindlich waren […], heute Soziologie, Psychiatrie und Psychologie, bestallte Träger der öffentlichen Ordnung, den Freitod behandeln, wie man eine Krankheit behandelt.«
Während die Auschwitz-Prozesse den fruchtbaren Boden für Jenseits von Schuld und Sühne bereitet hatten, ist es zehn Jahre später der antipsychiatrische Diskurs, der Améry die berechtigte Hoffnung hegen ließ, mit Hand an sich legen eine zeitgemäße Resonanz zu finden. Besonders der traditionelle Krankheitsbegriff war bei den Vertretern der Antipsychiatrie als gesellschaftlich fragwürdiges Konstrukt umstritten. Améry schloss sich dieser Sicht in weiten Zügen an: »Mir scheint nur, nach allem, was ich gelesen und selber erfahren habe, daß die Grenzen von psychischer (und, beiläufig, körperlicher) Gesundheit gegen den Bereich der Krankheit stets willkürlich und nach dem jeweils in Geltung stehenden Bezugssystem der Gesellschaft gezogen werden.« Er stellt insofern die rhetorische Frage: »Wie krank ist der Melancholiker? Wie krank ist der Depressive?« Seine Antwort ist eindeutig: »Der Depressive oder der Melancholiker, für welchen ›die Vergangenheit unwürdig, die Gegenwart schmerzhaft, die Zukunft nichtexistent‹ sind, […] ist so wenig krank wie der Homoerotiker. Er ist nur anders.« So betrachtet er abgesehen von den Schizophrenen, die er anders als die Antipsychiater als regelrechte Kranke mit schlimmen Wahnerscheinungen ansieht, die große Gruppe der melancholisch veranlagten Menschen als solche, die einer von Staat und Kapital gelenkten Psychiatrie ausgeliefert seien: »Wer als Melancholiker seiner Berufstätigkeit nur mit Widerwillen und darum unzulänglich, schließlich gar nicht mehr nachgeht, nur am Bette kauert und die Dinge an sich herankommen läßt, ist für die Gesellschaft nicht brauchbar, funktioniert nicht. Die Sozietät muß also danach sehen, daß man ihn ›heile‹, durch psychotherapeutisches Herumgerede, durch Elektroschocks, durch chemotherapeutische Behandlung, und wenn all dies nicht hilft, ihn aus- und einsperre.«
Grundsätzlich wendet sich sein Diskurs über den Freitod gegen den wissenschaftlichen Anspruch, die suizidale Dynamik objektivieren zu können: »Dieser Text ist jenseits von Psychologie und Soziologie situiert. Er beginnt dort, wo die wissenschaftliche Suizidologie endigt. Ich habe versucht, den Freitod nicht von außen zu sehen, aus der Welt der Lebenden oder der Überlebenden, sondern aus dem Inneren derer, die ich die Suizidäre oder Suizidanten nenne.« Améry schließt seinen Zirkel des suizidalen Verstehens hermetisch im Zeichen der notwendigen Selbsterfahrung und schirmt die Entscheidung des Einzelnen rigoros gegenüber allen Einsprachen Dritter ab: »Mitreden darf nur, wer da eingetreten ist in die Finsternis. Er wird nichts herausfördern, was im Lichte draußen als nützlich erscheint.« Die Wissenschaften seien überfordert, die entscheidende »Situation vor dem Absprung« zu verstehen, in der die rationale Lebenslogik nicht mehr gelte: »Der Akt des Absprungs aber, wiewohl er noch psychologischer Impulse voll ist, kann nicht mehr psychologischer Einsicht offen stehen«. Allein dichterische »Ahndungskraft« sei fähig, die »Anti-Logik des Todes« zu erkennen, während die pragmatisch-rationale »Lebenslogik« rasch an die Grenze ihres Verstehens komme.
Diese Position entsprach in weiten Teilen jener, die der von Améry seit den Wiener Jugendjahren geschätzte Robert Musil vertreten hatte. Dessen »Skizze der Erkenntnis des Dichters« spricht der rationalen Psychologie die Fähigkeit ab, Fragen des »inneren Menschen«, etwa die »Versuchung des Todes«, beurteilen oder gar klären zu können: »Was unberechenbar mannigfaltig ist, sind nur die seelischen Motive und mit ihnen hat die Psychologie nichts zu tun.« So ging auch Améry auf Distanz zu psychologisch geläufigen Theoremen über den Selbstmord. Vor allem ist es Freuds Gedanke des »Todestriebes«, dem sein Diskurs über den Freitod mit einer existenzphilosophisch getränkten Lehre des Scheiterns begegnet. Améry formuliert einen grausamen Teufelskreis des sich steigernden Lebensekels: Der besondere »échec des Lebens«, die einzelne Erfahrung des Scheiterns, bestätigt demnach deren allgemeine Wahrheit, den »échec im Leben«. »Der Freitod […] ist ein langer Prozeß des Sich-Hinneigens, der Annäherung an die Erde, ein Aufsummieren vieler Ziffern von Demütigungen, […] eine Art von Fortschreiten auf einem Wege, der geebnet ist, wer weiß, vom Anbeginn her.«
Die lebensgeschichtlich grundierte Einsicht in die »Absurdität des Lebens« kleidet Améry in Begriffe Martin Heideggers, die den nachdenklichen Einzelnen scharf vom gesellschaftlichen »Gerede«, dem prekären »Man« abheben würden: »Der Mensch lebt also jenseits des Herumredens, das er um seiner Selbstverteidigung willen veranstaltet, im ständig sich verdichtenden Wissen um den Tod hin.« Aber anders als der Existenzphilosoph, der in Sein und Zeit vor dem folgerichtigen Gedanken des Freitods zurückschreckte, verstärkt Amérys Diskurs über den Freitod den gedanklichen Sog der suizidalen Reflexionen: »Unsere Todesneigung, sofern wir den spekulativen Begriff anwenden dürfen […], geht nach der Unsituierbarkeit des nichtigen Nichts.« In dieser Lage sich nicht dem allgemeinen »Geschwätz« anzuschließen, sondern der besonderen Einsicht in die »Abscheulichkeit« des Lebens zu folgen, hebt nach Améry den konsequenten Menschen aus der Masse der Mitläufer heraus: »Er schlägt sich auf die Seite jener winzigen Minorität derer, die nicht mehr mitmachen wollen und die jeder Tropf feige nennt, als ob es höheren Mut geben könne, als es der ist, der dem Ursprung jeglicher Angst, der Todesangst, die Stirn bietet.«
Entscheidend für Hand an sich legen ist demnach der Blick auf die »Situation vor dem Absprung«. Améry kommt es auf den moralischen Mut an, der »Todesneigung« gegen den stärkeren »Lebenstrieb« zu folgen. Die heroische Entschlusskraft fungiert als Zünglein an der Waage. So besitzt das kasuistische Panorama von Situationen des Scheiterns, in denen der »Freitod zum Versprechen« wird, keine wirkliche Bedeutung. Denn zuletzt gilt die Aufmerksamkeit allein dem moralischen Moment des suizidalen Entschlusses. Alle Betroffenen, egal welches Unglück sie jeweils getroffen haben mag, sind gleichermaßen für ihren Mut, den Sprung zu wagen, zu bewundern: »[W]er den Freitod wählt, erkürt etwas, das dem Lebenstrieb gegenüber das Schwächere ist. Er sagt gleichsam: Dem Starken Trutz! – indem er gegen den Lebenstrieb der Todesneigung nachgibt.« Im Absprung entstehe ein grandioses Gefühl, ein »Freiheitsrausch«, der im finalen Aufbäumen gegen die Geschichte zum Ereignis wird, ohne selbst ihrer Absurdität entrinnen zu können.
Trotz der polemischen Kritiken, die Hand an sich legen im psychiatrischen Raum erntete, erhält Amérys leidenschaftlicher Diskurs nach dem Erscheinen 1976 auch einigen Zuspruch von reformorientierten Medizinern. Angesichts der traditionell paternalistischen Einstellung und des stark kustodialen Verhaltens in der Psychiatrie schätzte man sein provokatives Plädoyer für die Autonomie des suizidalen Menschen. Nach den teilweise wohlwollenden Resonanzen aus der Medizin schlug Améry durchaus auch versöhnliche Töne an. Als er gebeten wurde, für Meyers Enzyklopädisches Lexikon den Artikel »Selbstmord oder Freitod?« zu verfassen, schrieb er vergleichsweise abgewogen: »Prekär bleibt mein Begriff Freitod sowieso. Denn hier redet sogleich die Psychologie und namentlich ihr Zweig Suizidpsychologie drein, um mir zu versichern, es sei der Suizid allenfalls in einer verschwindend geringen Anzahl von Fällen, dort nämlich, wo es sich um den so benannten ›Bilanzselbstmord‹ handelt, ein Akt authentischer Freiheit; die überwältigende Mehrheit der suizidären Handlungen werde unter unerträglichen Zwangsumständen vollzogen; der Suizid sei geradezu […] das Zeugnis allerengster Freiheitsbeschränkungen. Muß ich nun betreten schweigen? Keineswegs. […] Kein [Wort] gegen die Suizidologie, die seit dem großen Werk Emile Durkheims uns soziologisch und psychologisch unschätzbare Dokumente übergab.« Aber Améry beharrte dennoch auf dem menschlich einfühlenden Zugang, der versucht, das Innere des suizidalen Menschen frei von Theoremen zu erschließen: »Dieses ist aufspürbar in seiner spezifischen Befindlichkeit vielleicht durch intimste Gespräche mit suizidären Menschen, am besten aber wohl vermittels der ganz und gar unwissenschaftlichen Empathie, die schließlich am Anfang einer jeden phänomenologischen Reflexion steht.«
VII.
Die Offenheit für das phänomenologische Denken rührt her von der Freundschaft, die Améry mit dem Heidelberger Psychosomatiker Herbert Plügge pflegte. Die dortige Universität war seit der Jahrhundertwende ein Ort, an dem das geisteswissenschaftliche Verstehen auch in der Medizin Spuren hinterlassen hatte. Die eindrücklichsten stammen von Karl Jaspers, der den phänomenologischen Zugang zum Patienten methodisch in die akademische Psychiatrie eingeführt hatte. Er suchte als Autor der Allgemeinen Psychopathologie eine Alternative, die er dem theoretischen Anspruch der Psychoanalyse wie auch der empirischen Ambition der Naturwissenschaften entgegensetzen konnte. Die sich gegenseitig meist ausschließenden Zugänge zum Menschen beanspruchten seines Erachtens, jeweils in einseitigen Psycho- und Hirnmythologien das seelische Leiden zu klären. Jaspers bahnte mit dem »einfühlenden Verstehen« einen dritten Weg, um dem inneren Leben des Patienten und später auch den ungewöhnlichen Denkwegen künstlerischer Menschen gerecht zu werden.
Als Jaspers nach den klinischen Anfängen als Psychologe in die Philosophie wechselte, entwickelte er ein eigenes Verständnis des Suizides, das den gemäßigten Überlegungen von Jean Améry nahekommt. Die dreibändige Philosophie enthält 1932 entsprechend ein Kapitel »Über den Selbstmord«, das vehement die Anerkennung der Autonomie des Betroffenen einfordert. So schreibt Jaspers gegen die herrschende Meinung der damaligen Kliniker: »Der Selbstmord ist das inkommunikable Geheimnis des Einzelnen.« Dabeiging es ihm nicht darum, die psychiatrische Sicht zu diskreditieren. Vielmehr sah Jaspers wohl, dass die »Kausalität der Natur« in biologischer, psychologischer, soziologischer und biographischer Perspektive wissenschaftlich zu umreißen ist. Aber zugleich nahm er mit Kant eine »Kausalität der Freiheit« an, die zuletzt jedem Menschen im Bedingungsgefüge seines Fühlens, Denkens und Handelns einen wie immer begrenzten Freiraum belässt. Dieser kann unter Umständen sehr groß sein, zumal wenn Wertmotive eine Rolle spielen, die nicht wissenschaftlich determiniert sind.
Es lohnt sich, entlang des von Jaspers entwickelten kulturwissenschaftlich orientierten Ansatzes das suizidale Bedingungsgefüge zu erhellen, das zum Freitod von Jean Améry führte. Schon die »Situation vor dem Absprung« ist eine besondere. Sein Suizid stand bereits lange als Möglichkeit im Raum. Seit dem Erscheinen von Hand an sich legen antwortete Améry während seiner Lesungen auf die immer wieder gestellte Frage nach der persönlichen Konsequenz vielsagend: »Nur Geduld.« Im Spätsommer 1978, zwei Jahre nach Erscheinen des Buches, trat eine Situation ein, in der für Améry der Gedanke an den möglichen »Absprung« zum Versprechen wurde. Sein neuer »Roman-Essay« Charles Bovary, Landarzt war erschienen; und der Autor erwartete mit höchster Spannung die öffentliche Resonanz auf diesen »letzten Testfall«. Exemplarisch spiegelt ein Brief an Hubert Arbogast die dramatische Stimmung: »Jetzt kommen aufregende Tage auf mich zu. Warten auf den Klang des Echos: Dumpf? Hell? Man wird hören. […] Zweimal nun, zuerst mit ›Lefeu‹ und nun mit dem Charles B., habe ich versucht, mich vor den Deutschen als ein ›Dichter‹ auszuweisen, einst glaubte ich ja, daß ich ganz gewiß einer sei. Versuch ›Lefeu‹ mißriet zu rund drei Vierteln. Wenn es mit Ch. B. nicht besser geht, würde ich nun wohl sagen müssen, ich erlag von frühauf einem Irrtum.« Das Urteil lag für Améry allein in den Händen der Öffentlichkeit. Schon in Über das Altern finden sich entsprechende Reflexionen über den »Richtspruch der Gesellschaft«: »Wir glauben, als Dichter zu sprechen – so sei es angenommen –, und fordern die Gesellschaft heraus durch unser dichterisches Wort. Ob wir wirklich, weil wirkend, Dichter waren, wird davon abhängen, ob die Gesellschaft unsere Herausforderung annimmt.«
Améry hegte eine grandiose Vorstellung vom Dichter, den er als einen »mit Sonderrechten ausgestatteten schöpferischen Menschen« über die restliche Gesellschaft erhob: »Nur eine Spur von Wahrheit mag es doch enthalten, wenn ich sage, es kann nicht jemand den ›Lefeu‹ […] schreiben und dann im Leben den gleichen Maßstäben unterworfen werden wie Hinz und Kunz.« Angesichts dieser Größenphantasie ist es nachvollziehbar, wie bitter es wirken musste, dass Améry die dichterische Anerkennung versagt blieb: »Eine kleine Welle hatte mich für eine Weltsekunde hochgeschwebt. Sie ist abgeebbt. So war es also doch ein verpfuschtes Leben, und so ganz unrecht hatte schließlich meine Mutter nicht, die mir so oft prophezeite: ›Aus dir wird nichts!‹« Daher bilanzierte Améry vier Jahre später ob der neuerlich drohenden Enttäuschung in suizidaler Hinsicht: »Wenn der Bovary schief geht, weiß ich, was ich zu tun habe.«
Im Jahr 1974 hatte Améry die tiefgreifende Verletzung seines Selbstwertgefühles wieder ausgleichen können, indem er zur erfolgreichen Essayistik zurückkehrte. 1978 schien dieser Weg kaum mehr möglich, da genau zu dieser Zeit Hans Paeschke, einer der beiden Garanten seines essayistischen Wirkens, in den Ruhestand trat. Améry fühlte sich »recht melancholisch«, zumal dessen Nachfolger keine Anstalten machte, ihm die privilegierte Stellung als Autor zu erhalten: »Ein wenig nachdenklich stimmt mich alles, was meine hinkünftige Mitarbeit beim ›Merkur‹ ohne Paeschke oder mit nur einem halben oder sogar ein Viertel Paeschke angeht. […] Der ›Merkur‹ war und ist meine wichtigste Tribüne, denn wenn er auch nicht Riesenauflagen hat, so wird er doch von jenen gelesen, auf die es ankommt.« Améry resümierte: »Der Verlust wäre bitter.«
In somatischer Hinsicht gab es ebenso guten Grund, tief besorgt zu sein. Jenseits normaler Alterungsprozesse lagen bei Jean Améry massive Herzbeschwerden vor, die den Kettenraucher in Form von zwei Infarkten ereilt hatten und nur unter starker Medikation ein anstrengendes Leben erlaubten. Helmut Heißenbüttel erinnert einen schweren Kreislaufkollaps, den sein Autor 1977 auf der Buchmesse erlitten hatte. Mitte 1978 meldete Améry dem Jugendfreund Ernst Mayer: »Daß der Cardiologe mir ein stärkeres Nitroglycerin-Präparat gab (das meine störenden Schmerzen auch nicht besonders lindert), ist wohl nicht weiter erwähnenswert.«
Aus psychodynamischer Hinsicht ergaben sich bei einer chronisch melancholischen Anlage in kritischen Situationen immer wieder suizidale Gestimmtheiten, von denen Améry gegenüber verschiedenen Briefpartnern andeutend sprach. So schilderte er gegenüber Ernst Mayer 1975 sein Verlangen nach einem »Winterschlaf«, aus dem er nicht mehr erwachen wolle; im Folgejahr stellte Améry Überlegungen zur zukünftigen finanziellen Sicherung seiner Frau an, »da ich demnächst oder später, freiwillig oder nicht, die Potscherln ausstrecke«. Auch seine Geliebte, die »letzte Leidenschaft eines alten, ja alten Mannes« war Anlass, mit dem Freund über Geldnöte zu sprechen, »wie immer alles dann ende«. Deshalb bat Améry seinen Lektor Ende 1977, der Geliebten künftige Honorare zu überweisen: »Damit würde ich freilich die bindende Verpflichtung eingehen, noch mindestens bis Ende 78 am Leben zu sein.«
Mit der Dreieckskonstellation berühren wir zudem eine aufreibende soziale Bedingung seines Lebens. Améry hatte seiner Frau Maria lange Zeit die Beziehung mit der zwölf Jahre jüngeren Literaturwissenschaftlerin Mary Cox-Kitaj zu verheimlichen gesucht, die zeitweise in den USA lebte und die er selten sehen konnte. Seine innere Zerrissenheit spiegelt sich in den Zeilen, in denen er schon 1973 angesichts der schwierigen Verhältnisse in der dritten Person über seine Frau an den Freund schreibt und einige Gedichtzeilen Hölderlins paraphrasiert: »Er hat sich auch den Falschen ausgesucht. Aber im Grunde sucht niemand sich nichts aus. Man wird herumgetrieben, zusammengeführt, auseinandergerissen, steigt, fällt. Vor allem: fällt. Wie Wasser, von Klippe zu Klippe geworfen, was für ein scheusslicher Zustand!«
Unbewusst schloss sich mit der Paraphrase von »Hyperions Schicksalslied« der Kreis. Schon 1949 hatte er die Verse im Wortlaut an seine spätere Frau gesandt. Damals hatte Améry zugleich voller Enthusiasmus an seinem wiedergefundenen Jugendroman Die Schiffbrüchigen gearbeitet und gehofft, »den Erfolg zu zwingen; schliesslich [werde ich] ja erst im Herbst 37 Jahre alt, und Marcel Proust begann mit vierzig«. Aber so wie sich damals nicht die Erwartung erfüllte, da kein Verleger sich finden ließ, bedrängte ihn im letzten Lebensjahr immer noch die Sorge, ob er in den »belles lettres« sich Verdienste erwerben könne oder allein als »Auschwitz-Clown« fungieren müsse, wie es in einer Sendung eine Woche vor dem Freitod hieß.
All die genannten Faktoren beeinträchtigten und ermüdeten die innere Spannkraft, die Améry im Moment des Erscheinens des zweiten »Roman-Essays« benötigt hätte. Der Abschiedsbrief an seine Frau verdichtete die resignative Stimmung, die ihn seit langen Jahren phasenweise heimgesucht hatte und angesichts der beruflichen, körperlichen und biographischen Malaisen sich weiter zugespitzt hatte: »[I]ch bin am Ende meiner Kräfte und kann meinem Niedergang, intellektuellen, physischen, psychischen, nicht zusehen.« Als die Frankfurter Buchmesse im Oktober 1978 nahte und Améry erste Urteile über den Charles Bovary erwartete, war es sehr fraglich, ob er noch die seelische Widerstandskraft aufbringen würde, der möglichen Niederlage gefasst zu begegnen.
Der Autor löste die kritische Situation, ohne die mögliche Wende abzuwarten, die sich zum Guten durch den erhofften Erfolg hätte vollziehen können oder die seine Lage durch negative Kritiken noch weiter verschlechtert hätte. Améry setzte sich nicht mehr dem gefährlichen Wagnis der Resonanzen auf der Buchmesse aus und änderte im letzten Augenblick, als er auf der Lesereise von Marburg aus nur noch den kurzen Weg nach Frankfurt vor sich hatte, seine Reiseroute. Er passierte die Messestadt lediglich und begab sich am 17. Oktober auf den Weg nach Salzburg, wo er ein Hotelzimmer bezog. In der moralisch herausfordernden »Situation vor dem Absprung«, der er mit der Einnahme einer Überdosis von Schlaftabletten sanft begegnete, sprach sich Améry nochmals Mut zu, wie der Abschiedsbrief an seine Frau bezeugt: »Denk auch an das schöne Gedicht von Christian Wagner, das Du einmal für mich ausschnittest.«
Das Gedicht »Freitod« des schwäbischen Dichters, der um 1900 als einfacher Bauer sein Geld verdiente und die Aufmerksamkeit Hermann Hesses erlangt hatte, preist im Geiste des späten Nietzsche die Fähigkeit, in aller Beengung des Lebens zuletzt – anders als die Masse der Menschen – die Entscheidung über dessen Ende selbst treffen zu können.
Was gibt dem Leben erst die rechte Weihe?
Das Sterben ist’s, das selbstgewählte, freie.
Der Vorsatz stolz, sich von dem Stoppelweiden-
Auftrieb der Herden einmal auszuscheiden.
Das Hürdetor der Freiheit mit dem bloßen
Und unbeschützten Fuße aufzustoßen.
Schlafmüt’ge Daseinslust in blödem Herzen
Durch frisches Handeln kräftig auszumerzen. –
Freitod! – Wer hat zuerstmals dich erfunden?
Ein Göttersohn, ins Sklavenjoch gebunden,
Der, als geholt durch des Tyrannen Boten,
Die Ketten schlug ins Antlitz dem Despoten.
Ohne Zweifel umgab Améry mit dem Hinweis auf Christian Wagners grandioses Gedicht seinen »Freitod« mit einem strahlenden Nimbus des widerständigen Lebens, seinen moralischen Mut in aller Einsamkeit feiernd. Aber angesichts der näheren Umstände, des »Schraubstocks der Zwänge«, in dem sich der um literarische Anerkennung kämpfende Améry befand, ist zugleich die große Verlassenheit ahnbar, die seine Tat umgibt und hinter der die Angst vor einer erneuten tiefen Verletzung steht. In allem Enthusiasmus für die Freiheit, die mit dem Tun verbunden sein soll, bleibt der resignative Unterton. Freiheit und Zwang bedingen sich gegenseitig und verschränken sich am Ende fast ununterscheidbar: »Ein Kopf, der, anrennend gegen vier aufeinander zurückende Wände, einen rasenden Wirbel schlägt? Das eine so gut wie das andere, die Metaphern schließen einander nur scheinbar aus: im Drüben, das es nicht gibt, werden auch sie nicht sein.«
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