Kitabı oku: «Buchstäblichkeit und symbolische Deutung», sayfa 46

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LITERATUR UND REZEPTIONSGESCHICHTE
Süßkind von Trimberg (1250/1300), Torberg Süßkind von Trimberg (1972)

„Der deutsche Spruchdichter jüdischer Herkunft des 13. Jahrhunderts Süsskind von Trimberg ist eine der reizvollsten Gestalten aus der Gruppe der mittelalterlichen ‚Minnesänger‘. Seine jüdische Abstammung macht ihn aus kulturhistorischen Gründen dem Betrachter noch interessanter, wenn man ihn nicht nur nach seinen dichterischen Schöpfungen beurteilt, sondern zugleich den Hintergrund der besonderen, auf die Juden seiner Zeit bezüglichen Gegebenheiten in Betracht zieht“1.

Mit diesen Worten eröffnet Ludwig Rosenthal seinen umfangreichen, 1969 erschienenen Aufsatz über Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg. Acht Jahre später, 1977, fand in Stuttgart die legendäre Stauferausstellung statt, die ein unvergleichlich breites öffentliches Interesse an der mittelalterlichen Geschichte mobilisierte. Und zwischen 1972 und 1977 wurde auch ein „Neueinsatz der Rezeption von Mittelalterlichem“2 im Bereich der Literatur konstatiert. Genannt wurden in diesem Zusammenhang Peter RühmkorfsRühmkorf, Peter Buch Walther von der Vogelweide, Klopstock und ichWalther von der Vogelweide, Klopstock und ich (1975), Eberhard HilschersHilscher, Eberhard Der Morgenstern oder die vier Verwandlungen eines Mannes, Walther von der Vogelweide genanntDer Morgenstern oder die vier Verwandlungen eines Mannes, Walther von der Vogelweide genannt (1976), Dieter KühnsKühn, Dieter Ich WolkensteinIch Wolkenstein (1977) und eben Friedrich TorbergsTorberg, Friedrich Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg (1972). Und spätestens seit Umberto EcosEco, Umberto Roman Der Name der RoseDer Name der Rose (1980) sind Mittelalterromane wieder en vogue. Das war nicht immer so. Historische Romane – und damit also nicht nur Mittelalterromane im engeren Sinne – galten lange Zeit wohl meist zu Recht als ein ideologisch befrachtetes Produkt der Literatur des 19. Jahrhunderts. Doch schon GoethesGoethe, Johann Wolfgang Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen (1773) fand viele Nachahmer. Es sei daran erinnert, dass zwischen 1775 und 1811 allein 38 Ritterdramen erschienen. Heinrich von KleistKleist, Heinrich von berichtete in einem Brief vom 14. September 1800 nach dem Besuch in einer Würzburger Lesebibliothek, dort hätten sich keine Werke von Wieland, Goethe oder Schiller gefunden, stattdessen „Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben“3. In der Folge der Rezeption historischer Romane von Walter Scott kam es in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer breiten Akzeptanz dieses Genres. Die meisten deutschsprachigen historischen Romane erschienen zwischen 1850 und 1875.4 Die Blüte des historischen Romans ist in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts festzustellen. Wilhelm HauffHauff, Wilhelm steht mit seinem LichtensteinLichtenstein-Roman (1826), nach dessen literarischer Vorlage immerhin die gleichnamige Burg als neuschwansteinische Miniatur erbaut wurde, als einer der Ersten in der deutschen ScottScott, Walter-Nachfolge. Neben den historisierenden Romanen sind die tatsächlich historischen Romane zu nennen, welche mit Sorgfalt auf die Strenge der geschichtlichen Quellen achten (z.B. bei den Autoren Hermann KurzKurz, Hermann und Willibald AlexisAlexis, Willibald). Joseph Viktor von ScheffelScheffel, Viktor von schrieb mit seinem Roman EkkehardEkkehard (1855) eine Art Mittelalter-Kultbuch des 19. Jahrhunderts. Immerhin gab es bis 1886, dem Todesjahr des Autors, 90 Auflagen davon.5 Bis heute ist wohl vor allem KellersKeller, Gottfried Novelle HadlaubHadlaub (1878) ein paradigmatischer Text für diese Mittelalterfiktion geblieben. Im 20. Jahrhundert sind unter anderem an die historischen Romane von Ricarda HuchHuch, Ricarda, Emil LudwigLudwig, Emil, Stefan ZweigZweig, Stefan, Alfred DöblinDöblin, Alfred und Lion FeuchtwangerFeuchtwanger, Lion zu erinnern. Und vielleicht könnte man auch Robert MusilsMusil, Robert Erzählung Die PortugiesinDie Portugiesin (1923) peripher in diese literaturgeschichtliche Reihe stellen.6 In der sogenannten inneren Emigration oder im Exil entstehen zahlreiche historische Romane. Es wurde auf diesen Zusammenhang zwischen dem literarisch-politischen Exil vieler Autoren und einer auffallenden Neigung zu historischen Stoffen aufmerksam gemacht. Die Darstellung historischer Personen diente „zur Überprüfung und Neudefinierung des durch das Exil in Frage gestellten eigenen Ichs“7.

Wie ist dies nun zu bewerten, wenn sich in den 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Autor anschickt, einen Mittelalterroman zu schreiben, dazu noch über einen Minnesänger, von dem recht wenig bekannt ist und dessen Lieder nur in einem spärlichen Zeugnis überliefert sind? Was ist das für ein Dichter, den der Autor Torberg zur Hauptgestalt seines Romans wählt? Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg gehört nicht mehr zu den gänzlich unbekannten Dichtern der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte, wenngleich es auch nicht so ist, wie unlängst festgestellt wurde, dass über diesen Dichter „Sekundärliteratur von einem nicht minder erstaunlichen Umfang“8 produziert worden sei. Vor einigen Jahren ist die bislang umfangreichste Monografie über Süßkind von Trimberg erschienen, nämlich Dietrich Gerhardts gleichnamige Untersuchung mit dem programmatischen Untertitel Berichtigungen zu einer Erinnerung.9 Die Aufnahme in die von Marcel Reich-Ranicki herausgegebene Frankfurter Anthologie hat Süßkind zwar gefunden.10 Doch gehört er keineswegs zu den berühmten Minnesängern, als den ihn der eine oder die andere gerne sähe.11 Einzig Peter Wapnewski hat sich von literaturwissenschaftlicher Seite vor Gerhardts Monografie öfters mit Süßkind beschäftigt. Gerhardt trägt jenes Faktenmaterial vollständig zusammen, dessen man im Sinne archivalischer Quellen entbehrt und das erst – so paradox dies klingt – durch die Forschungsliteratur geschaffen wurde. Gerhardt unterzieht dies einer kritischen Prüfung. Sein Anspruch besteht darin, Legende und Wirklichkeit zu trennen und insbesondere der Frage nachzuspüren, ob Süßkind von Trimberg tatsächlich ein jüdischer Minnesänger war. Und um dieses Thema gleich aufzugreifen, Gerhardt gelangt zu folgendem Schluss12: In der Handschrift C, der Großen Heidelberger LiederhandschriftGroße Heidelberger Liederhandschrift (1300–1330/40), ist Süßkind zunächst nichts anderes als ein Eigenname. Die Miniatur neben dem Text, welche den Dichter mit einem zeitgenössischen Judenhut zeigt, ist jünger und erlaubt keinen Rückschluss auf die Lebensdaten des Dichters.13 Das Bild entstammt der ikonografischen Tradition. Aus SüßkindsSüßkind von Trimberg Liedern ergibt sich „keinerlei Anhaltspunkt“14 auf die Datierung. Als sicher gilt, dass einzelne Schreibformen und Reime in den Liedern ins Mitteldeutsche verweisen, Süßkind selbst vielleicht aus dem Fränkischen stammt (der Ort Trimberg liegt zwischen Bad Kissingen und Schweinfurt), nicht aber aus Würzburg, wie noch von der Hagen angenommen hatte, und ebenso ist Schlüchtern als Herkunftsort unwahrscheinlich, zumindest nicht belegt.15 Wenn Süßkind tatsächlich ein migrierender Minnesänger16 war, dann ließe sich ohnehin kein fester Herkunfts-, geschweige denn Bleibeort ausmachen. Die Apposition ‚von Trimberg‘ kann genauso gut eine historische (Ver-)Fälschung sein. Vielleicht ist Süßkind von Trimberg auch eine jener fiktiven Dichterpersonen, die in der Manesse-Handschrift durchaus überliefert und auf diese Weise personalisiert sind. Ein wenig erinnert diese Überlegung an die HomerHomer-Diskussion in der Altphilologie des 19. Jahrhunderts, worin es – vereinfacht gesprochen – um die Frage ging, ist Homer ein Individuum oder ein Kollektivsingular. Doch ich möchte den vielen Hypothesen nicht eine weitere hinzufügen.

Um diesen nicht ganz einfachen Sachverhalt und die sehr komplexe, aber auch engagierte Debatte um Süßkinds Glaubenszugehörigkeit an einem Beispiel zu verdeutlichen: Im sogenannten ‚Schlüchterner Memorbuch‘ soll sich der Hinweis aus dem 13. Jahrhundert auf den Namen Süßkind von Trimberg finden.17 Belegt ist dies aber nur mit einer Quelle aus dem 19. Jahrhundert. Aus dem nicht ungefähren Hinweis eines Lesers auf diesen Sachverhalt wurde innerhalb kurzer Zeit die Legende, die 1991 in einer Publikation verbreitet wurde, Torberg habe die Fotografie eines verwitterten Grabsteins mit der Inschrift ‚Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg, der Minnesänger‘ erhalten. Der Grabstein sei in Süddeutschland auf einem alten jüdischen Friedhof entdeckt worden.18 Wie groß das Bedürfnis vieler Leser und Wissenschaftler nach einer positivistischen Unterfütterung, gar Beweissicherung ist, wonach Süßkind tatsächlich als ein jüdischer Dichter gelten kann, zeigt dieses groteske Beispiel. Winfried Frey bringt es klar auf den Punkt: „Beweisen läßt sich aus dem Werk sein Judentum nicht“19. Gerhardts Schlussfolgerung aus der Forschungsdiskussion ist ehrlich und einfach, man müsse sich für die eine oder andere Variante entscheiden, wonach Süßkind von Trimberg vielleicht ein Jude war, vielleicht aber auch nicht. Dass Gerhardt diese Varianten auch noch Wahrheit nennt, macht die Sache nicht gerade leichter.

Auch die lexikografische Aufarbeitung des Phänomens Süßkind von Trimberg ist sehr heterogen. Im Killy-Artikel, der von Christoph Huber verfasst wurde, wird Süßkind von Trimberg als Sangspruchdichter bezeichnet, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gelebt habe.20 Burkhart Wachinger schreibt den wohl bislang ausgewogensten Artikel über Süßkind von Trimberg.21 In sachlichem Ton fasst er 1995 die Diskussion zusammen: „An der Möglichkeit, daß ein Jude als Sangspruchmeister an Höfen auftrat, ist nicht zu zweifeln […]. Unwahrscheinlich ist jedoch, daß er da spezifisch jüdisches Gedankengut vortragen konnte. Was man bisher als jüdische Quellen von S.[üßkind]s Sprüchen benannt hat […], ist jedenfalls recht unspezifisch und ebensowohl aus christlicher Tradition erklärbar“22. Die Frage nach Süßkinds Glaubenszugehörigkeit, die Frage also, ob er tatsächlich mosaischen Glaubens und damit der einzige jüdische Dichter der mittelalterlichen deutschen Lyrik gewesen sei oder Christ, diese Frage zu beantworten trägt gar nichts dazu bei, die literarische Qualität der Texte zu beurteilen.

Wenn wir also von Fakten statt von Fiktionen sprechen wollen, dann kann man nur wenig festhalten. Lediglich eine einzige Handschrift überliefert SüßkindsSüßkind von Trimberg Lieder – neben den Liedern von 139 anderen Dichtern. Es sind sechs Töne mit zwölf Strophen, die den Blättern 355va bis 356rb der Heidelberger Liederhandschrift – auch die Manessische Liederhandschrift genannt – entsprechen, jeweils zwei Töne zu einer, zwei und drei Strophen. Formal sind sie ebenso traditionell, wie sie inhaltlich wenig innovativ sind, wenn dies überhaupt ein wie auch immer geartetes ästhetisches Kriterium zur Beurteilung mittelalterlicher Dichtung sein kann, lebt sie doch, wie Peter Wapnewski zu Recht betont hat, gerade von einem strengen Formen- und Themenbestand. Die heute maßgebliche Textausgabe ist die Liedersammlung von Carl von Kraus.23 Die Themen von Süßkinds Lyrik gehören zum „Grundstock der Gattung Spruchdichtung im hohen und späten Mittelalter“24. Die Einzelthemen der jeweiligen Strophen lassen sich nach deren Häufigkeit folgendermaßen ordnen:

1. Gruppe: Betrifft die Antinomien Tor – Weiser (I/2, II, IV/3, V/2), arm – reich (IV/3), gut – böse (IV/2, VI), adel – edel (I/1), hier – dort bzw. Diesseits – Jenseits (I/3).

2. Gruppe: Betrifft den Begriff der Ehre und dessen semantisches Feld, z.B. die Tugenden Treue, Zucht, Milde, Mannheit, Maße und Freundschaft (IV/1 u. IV/3), Bescheidenheit (IV/2). Expressis verbis erscheint das Wort Ehre in I/2 und II/1.

3. Gruppe: Dieser Themenbereich berührt den Begriff des Frauenlobs als zentrales Definiens der Minnelyrik. Ob hierzu allerdings Süßkinds Vers in Ton III, Strophe 2 zu rechnen ist, der mit den Worten beginnt: „Ir mannes krône ist daz vil reine kiusche wîp“25, ist zweifelhaft.

4. Gruppe: Zu diesem thematischen Bereich zählen die Vergänglichkeit des Lebens (I/3 u. IV/1), das Gotteslob und die Gottesanrede (I/3 u. III/1) sowie die explizit benannte Gedankenfreiheit (II).

Die reimschematische Strukturanalyse der Endreime26 der einzelnen Töne ergibt folgendes Bild:


Ton I/1: aab / ccb / dede / fffb
Ton I/2: aab / ccb / dede / fffb
Ton I/3: aab / ccb / dede / fffb
Ton II: abcd / abcd / efefgd
Ton III/1: aab / ccb / ddb
Ton III/2: aab / ccb / ddb
Ton IV/1: aab / ccb / dede / fffb
Ton IV/2: aab / ccb / dede / fffb
Ton IV/3: aab / ccb / dede / fffb
Ton V/1: abcd / abcd / efeef
Ton V/2: abcd / abcd / efeef
Ton VI: abcde / abcde / fgfge

Die formalen Auffälligkeiten können folgendermaßen zusammengefasst werden:

1.) Die häufigste Reimstruktur ist diejenige der Töne I/1–3 und IV/1–3, also aab / ccb / dede / fffb. Diese Struktur kennzeichnet die Hälfte der insgesamt zwölf überlieferten Strophen.

2.) Signifikant ist die häufige Verwendung von Dreier- und Vierereinheiten (in I/1–3, II, III/1–2, IV/1–3). Lediglich in den Strophen V/1, V/2 und VI verwendet Süßkind Fünfereinheiten, in Strophe VI sogar ausnahmslos.

3.) Mit Ausnahme der beiden Strophen von Ton V ist in allen anderen Strophen eine Übereinstimmung des Endreims des letzten Verses mit dem letzten Endreim der ersten (Dreier-, Vierer- oder Fünfer-)Einheit festzustellen.

4.) Auffallend häufig findet sich die Verwendung von Anaphern (z.B. in I/3, II, III/2, IV/1 u. V/2), ebenso von Klimax und Asyndeton (z.B. in IV/1).

5.) Formal auffällig sind schließlich die beiden Strophen des fünften Tons:


Strophe V/1 Strophe V/227
Vers Versfuß Endung Versmaß Kadenz Versfuß Endung Versmaß Kadenz
1 4 m Tr a 4 m Tr A
2 3 w J b 3 w J B
3 4 m J c 4 w J C
4 3 w J d 3 w J D
5 4 m J a 4 m J A
6 3 w J b 3 w J B
7 4 m J c 4 w J C
8 3 w J d 3 w J D
9 4 w J e 4 m J E
10 3 w J f 3 w J F
11 4 w J e 4 m J E
12 6 w J E 6 m J E
13 5 w J F 5 w J F

Ein Vergleich der Silbenanzahl pro Vers ergibt für Strophe V/1 das Schema 7/7/8/7 // 8/7/8/7 // 9/7/9/13/12, für Strophe V/2 das Schema 7/7/9/7 // 8/7/9/7 // 8/7/8/13/11. Darüber hinaus zeigen sich folgende Signifikanzen:

beide Strophen haben die gleiche Anzahl von Versfüßen, beide Strophen beginnen mit einem männlichen trochäischen Vers, dieser erste Vers ist in beiden Strophen der einzig trochäische, beide Strophen gliedern sich in dieselbe Anzahl von Reimeinheiten, bei beiden Strophen ist das Reimschema dieser Reimeinheiten gleich gegliedert, die Gesamtzahl aller Silben weicht lediglich um eine einzige Silbe voneinander ab, in Strophe V/1 sind es insgesamt 109 Silben, in Strophe V/2 insgesamt 108 Silben; auch die Silbenzahl pro Vers ist bei beiden Strophen mit nur geringfügigen Abweichungen gleich.

Ob aus diesen Beobachtungen nun berechtigterweise abzuleiten ist, dass diese beiden Strophen von Ton V nicht von Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg stammen, sondern einem anderen, im Dunkel der Geschichte anonym gebliebenen Dichter zugeschrieben werden müssen, ist freilich umstritten und lässt sich auf der Ebene der Formanalyse nicht beantworten.28

Der Roman Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg von Friedrich TorbergTorberg, Friedrich (1908–1979) erschien 1972. Torberg hat im engeren Sinn zwei Vorläufer. Josef KasteinKastein, Josef publizierte 1934 seine Erzählung Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg, und 1939 veröffentlichte Max GeilingerGeilinger, Max sein Drama Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg. Ein direkter Vergleich dieser drei Dichtungen wäre sicherlich reizvoll, doch soll dies in unserem Zusammenhang nicht Thema sein. Viktor von ScheffelScheffel, Viktor von eröffnete einst sein programmatisches Nachwort zum EkkehardEkkehard-Roman mit den Worten: „Dies Buch ward verfaßt in dem guten Glauben, daß es weder der Geschichtschreibung noch der Poesie etwas schaden kann, wenn sie innige Freundschaft miteinander schließen und sich zu gemeinsamer Arbeit vereinen.“29 Scheffels Sorge galt allerdings dem Gedanken, „die ganze altdeutsche Herrlichkeit“ könne eines Tages „wieder versunken sein in Schutt und Moder der Vergessenheit“,30 und sie galt der Frage, wie wissenschaftliche Erkenntnisse über das MittelalterMittelalter – „eine Literatur von Gelehrten für Gelehrte“31 – einem breiteren Publikum vermittelt werden könnten. Scheffel schreibt in seinem Nachwort weiter: „Auf der Grundlage historischer Studien das Schöne und Darstellbare einer Epoche umspannend, darf der Roman auch wohl verlangen, als ebenbürtiger Bruder der Geschichte anerkannt zu werden […]“32. Der Österreicher Friedrich Torberg, der vor allem durch seinen Schulroman Der Schüler Gerber hat absolviertDer Schüler Gerber hat absolviert von 1930 bekannt geworden ist, erhebt diesen Anspruch explizit nicht. Schon der Klappentext zum Roman weist dieses Ansinnen kategorisch zurück: „Das Leben des mittelalterlichen Poeten Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg, des ersten jüdischen Dichters deutscher Sprache, rekonstruiert Torberg mit den künstlerischen Mitteln des Romans, der keinen Anspruch auf wissenschaftliche Haltbarkeit erhebt“33.

Immer wieder wurde die Frage gestellt, ob TorbergsTorberg, Friedrich Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg als ein Entwicklungs- oder Künstlerroman gelten könne.34 Verglichen mit MörikesMörike, Eduard Maler NoltenMaler Nolten (1832) oder Wilhelm HeinsesHeinse, Wilhelm ArdinghelloArdinghello (1787) etwa beschreitet Torberg offenkundig einen ganz anderen Weg. Das Bedürfnis der Literaturkritik – immerhin hatte Marcel Reich-Ranicki, aber auch andere, ihn als „eine Art Künstlerroman“35 bezeichnet – nach normativer Kategorisierung muss man hier also enttäuschen, Süßkind von Trimberg ist kein Künstlerroman. Doch auch die Kategorie des Entwicklungs- oder Bildungsromans versagt, da Torberg zu unmissverständlich auf den einen Aspekt der wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Süßkind-Diskussion abhebt.

Süßkind von Trimberg ist ein jüdischer Minnesänger und erfährt als erster deutscher Dichter jenes Schicksal, das im 20. Jahrhundert in den Holocaust führt. Das ist Torbergs Autorintention, die Kontinuität der Verleumdung, der Verfolgung und des Untergangs aufzuzeigen, deutsche LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte als eine tragische Literaturgeschichte zu erkennen. Dietrich Gerhardt beurteilt die Diskussion um Torbergs Süßkind-Roman in der Form, dass die These vom jüdischen Minnesänger

„Ergebnis eines ästhetischen Bedürfnisses [sei]. Die eine überliefernde Handschrift hat uns die wenigen Texte und den Namen als schlecht zu vereinbarende Fakten hingeworfen, daß dieser Tatbestand aber so oft und gierig aufgegriffen wurde, ist wohl wirklich vor allem deswegen geschehen, weil die tragische Figur des resignierenden edlen Sängers, weil der Zwiespalt, den sie verkörpert, so schön auszumalen ist, weil sich mit ihrer Stimme viel sagen läßt, Ehrliches und Unehrliches, Echtes und Unechtes, Antisemitisches und Unchristliches, weil sich damit ebenso ein Beispiel alter Gleichberechtigung wie angemaßten Anspruches aufstellen und schließlich sogar noch eine Wiedergutmachungslyrik anstimmen läßt, und dies für Juden und Nichtjuden, für Wissenschaftler und Schriftsteller in gleicher Weise“36.

Doch was ist dies für ein Schönheitsbegriff, der dem Bedürfnis nach einer Ästhetisierung des Tragischen, wenn es dies überhaupt gibt, das Wort redet?

Natürlich hat TorbergTorberg, Friedrich selbst die konzeptuellen Schwächen des Romans gesehen. Er konstatiert beispielsweise ein Missverhältnis zwischen Dialog und Erzählung. Auch die Balance zwischen Modernität und „billig historisierenden Mätzchen“37 sei nicht gewahrt. Gelegentlich nennt er den Text auch einen pseudohistorischen Roman, der voller Fußangeln stecke, man könne doch heutigentags nicht mehr so schreiben wie Walter ScottScott, Walter oder Felix DahnDahn, Felix.38 Immerhin sprach Torberg schon am 28. März 1949 von sich selbst als „ich, des süskints von Trimberg selfappointed nachfahr und fictioneer presumptive“39. Mit dem Plan zu einem Mittelalterroman oder Süßkind-Roman hat sich Torberg nach eigener Aussage bereits als Schüler Ende der zwanziger Jahre befasst. Ab 1966 arbeitet Torberg am Roman, er legt sogar ein Arbeitsjournal zum Süßkind-RomanArbeitsjournal zum Süßkind-Roman an.40 In der zurzeit wohl maßgeblichen Literaturgeschichte der Gegenwart, herausgegeben von Wilfried Barner, die immerhin den anspruchsvollen Titel führt Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur GegenwartGeschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart (1994) taucht der Name Friedrich Torberg auf über 1100 Seiten allerdings kein einziges Mal auf. Im Kapitel ‚Nach der Studentenbewegung‘, ‚Austriakische Variationen‘, ist zwar die Rede von RothRoth, Gerhard, FrischmuthFrischmuth, Barbara, JonkeJonke, Gert, RoseiRosei, Peter und HofferHoffer, Klaus, nicht aber von Torberg.41

Was ist das also für ein Roman, der geschrieben wird, als sich politische und gesellschaftliche Verwerfungen manifestieren, der erscheint in einer Zeit, wo die deutschsprachige Literatur, die österreichische zumal, das gesamte Spektrum literarischer Ausdrucks- und Themenvielfalt abschreitet, dem klassischen Ton der Kampf angesagt ist und alles Erzählen im ideologiekritischen Impetus als bürgerlich verdächtigt wird? Was ist das für ein Roman, von dem Peter Wapnewski noch 1986 kurz und bündig sagt, er sei „als literarisches Ereignis belanglos“42, den ein anderer aber als „chef d’oeuvre Torbergs“43 betrachtet? Was ist das für ein Roman, über den Reich-Ranicki urteilt, er sei Torbergs „ehrgeizigstes, aber auch sein fragwürdigstes Werk“44? Dies bringt unverhohlen die Enttäuschung zum Ausdruck, mit der Vertreter der LiteraturkritikLiteraturkritik 1972 auf das Erscheinen dieses Romans reagiert haben. An anderer Stelle, aber auch aus dem Jahr 1972 stammend, nennt Reich-Ranicki den Roman „ein absolutes Mißverständnis“45. Weshalb? Ein Argument des Kritikers ist bestechend, er schreibt: „Aber ich bin ganz sicher, daß heute ein solcher historischer Roman indiskutabel werden oder jedenfalls mißlingen muß, wenn der Autor – wie Torberg – sämtliche Errungenschaften der modernen Literatur auf so großzügige wie entwaffnende Weise ignoriert und tut, als lebten wir immer noch im neunzehnten Jahrhundert“46. Nebenbei – und dies ist nicht minder dekuvrierend – beschrieb Reich-Ranicki damit sein eigenes Literaturverständnis, freilich ex negativo, wie er es über ein Jahrzehnt lang medienwirksam im ‚Literarischen Quartett‘ vertreten hat. Wendet man das Urteil des Kritikers, dann heißt das, Torberg schrieb 1972 die Art von Literatur, die dem Kritiker und der Kritik zwanzig Jahre später gefällt. Die Polemik Reich-Ranickis, man könne meinen, TorbergsTorberg, Friedrich Roman sei „ein Auftragswerk der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, geschrieben zur Feier der alljährlichen ‚Woche der Brüderlichkeit‘“47, und sein Appell, das Buch solle möglichst schnell vergessen werden48, beraubte die durchaus auch ernstzunehmende und berechtigte Kritik an Torbergs Roman ihrer Glaubwürdigkeit.

Autor und Romanfigur wurden von der Forschung eine „äußerliche Ähnlichkeit und gelegentliche Schicksalsgemeinschaft“, sowie eine „gemeinsame geistige Haltung und innere Biographie“ bescheinigt.49 Der Autor Torberg und der fiktionalisierte Minnesänger Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg erfüllten demnach eine unmissverständliche „Mission als deutsch-jüdische Dichter“50. Diese Deutung geht aber in die falsche Richtung, da sie sich zu sehr an fragwürdigen halbwissenschaftlichen oder gar unwissenschaftlichen Kriterien wie Wesensbestimmung und Auftrag des Dichters oder schlicht an Äußerlichkeiten orientiert. Nur schlüssig ist es freilich, wenn von einer auffallenden Annäherung des biografischen Romans an die Autobiografie gesprochen wird.51 Der Roman Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimbergwäre dann gewissermaßen eine parallel laufende, lange ungeschrieben gebliebene Spur neben dem übrigen Werk Torbergs, das erst als sogenanntes Alterswerk seinen literarischen und ästhetischen Ort im Schaffen Torbergs findet. Hat sich TorbergTorberg, Friedrich – so könnte man kritisch einwenden – damit sein eigenes Denkmal gesetzt? Als Lesethese formuliert, hieße das, Torbergs Süßkind-Roman ist eine autobiografische Fiktion, mehr noch, eine fiktive Autobiografie. Immerhin belegt Torberg seinen Text im Untertitel mit der Gattungsbezeichnung Roman.

Bevor dieser Roman aufgeschlagen wird, sollte man zuerst die letzte Seite lesen. Natürlich bleibt auch hier immer ein durchaus fragwürdiger Rest, wenn man sich vorneweg einer autopoetologischen LeserlenkungLeserlenkung unterwirft. Doch scheint mir dies in diesem Falle unverzichtbar, wenn man anders als mit bloßen Geschmacksurteilen werten will. Torberg eröffnet den Roman mit der Schilderung, wie das Elternhaus Süßkinds abgebrannt wird und er in den Flammen Vater und Mutter verliert. Im als Epilog zu bezeichnenden Schlusstext des Romans führt Torberg die Flammen- und die Todesmetaphorik im Schrecken des buchstäblichen historischen Sprechens zusammen: