Kitabı oku: «Buchstäblichkeit und symbolische Deutung», sayfa 47

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„Gekommen aber sind […] die Tage des brennenden Todes, der über die Erde geht, […] er hat sie genährt an Süßkind, dem Juden von Trimberg, […] und hat sie genährt in unseren Tagen, daß es hoch emporschlug aus den großen Öfen von Dachau und Buchenwald und Auschwitz und Majdanek und Treblinka.

Und es war immer die gleiche Flamme wieder, und kam herübergezüngelt aus dem brennenden Blute Süßkinds, des Juden von Trimberg, herüber und über die Zeiten hinweg und bis in das Blut, von welchem die schwache Hand durchpulst ist, die dieses schreibt. Und schreibt aber diese Hand in der gleichen Sprache wie jene vor siebenhundert Jahren zum ersten Mal, noch in der gleichen Sprache, noch. Und darum mußte es geschrieben werden von dieser Hand, heute, in unseren Tagen, ich habe es geschrieben, möge es zum Guten sein, Amen.“ (S. 299)52

Dies ist ein Vermächtnis, kein Zweifel. Und absichtsvoll wählt TorbergTorberg, Friedrich auch den hohen, fast schon psalmodischen, jedenfalls leicht archaisierenden Ton, der vor allem gekennzeichnet ist durch die Inversion der Satzglieder. Als auktorialer Erzähler, der sich souverän der erlebten Rede und des inneren Monologs bedient, gibt sich Torberg von Beginn an zu erkennen, doch erst im Epilog nennt er sich selbst als Autor-Ich. Torberg wird so zum Chronisten, zum Chronisten einer Fiktion, der am Ende durch das appellative Ich die Echtheit des Überlieferten bezeugt, im Medium der Fiktion, eben als Roman. Dies muss kein Widerspruch sein, sondern ist ureigenstes Anliegen der LiteraturLiteratur. Die LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte ist voll von Beispielen, in denen die Authentizität, ja die Dokumentarität des Geschriebenen als Beschriebenes durch den Hinweis auf entdeckte Manuskripte, die man lediglich zur Kenntnis des Lesers bringe, beschworen wird. WielandsWieland, Christoph Martin Roman AgathonAgathon (1766/67) mag an dieser Stelle als Beispiel für die Verbindung von dokumentarischer Fiktion und Entwicklungsroman nicht unerwähnt bleiben.

Torberg gruppiert den Roman um seine eigene Übersetzung der zwölf Töne des Minnesängers, er bringt sie in eine andere, ausschließlich erzähllogische Reihenfolge und unterlegt sie mit einer fiktiven chronologischen Ordnung, über deren tatsächliche Reihenfolge im Sinne der Entstehungsgeschichte man nichts weiß.53 Schon Süßkinds Vater ist im Roman sprachsensibel und versbegabt. Süßkind selbst entwickelt früh eine Affinität zu Worten und Liedern. Hier bedient Torberg alle Stereotype der künstlerischen Begabung. Nicht äußere Not oder Protest sind es, die Süßkind zur Laute greifen lassen, sondern innerer Drang. Oder wie es die Romanfigur selbst sagt, „aus Freude am Liedermachen“ (S. 127, S. 170 u. S. 205) sei er Sänger geworden. Neben diesem romantischenRomantik Klischee steht das nicht minder romantische Motiv des Abschieds. „An diesem Herbstmorgen wurde ihm zum erstenmal inne, daß alles in seinem Leben bisher, alles, was er erfahren hatte und mit sich trug, ein Abschiednehmen war“ (S. 41), heißt es über den jungen Süßkind. Dieses Abschiedsmotiv taucht übrigens immer wieder auf, es konstituiert den Roman, es ist ein Leitmotiv. Kurz darauf dichtet Süßkind sein erstes Lied. Torberg schildert mit romantischem Dekor den Locus amoenus, Mond, Sterne, Wolken, Wald werden herbeizitiert, und der Wildbach rieselt (vgl. S. 44), viel ist die Rede von der Süßigkeit des Worts und der Zärtlichkeit des Lieds (vgl. S. 65). So selbstbewusst, wie Süßkind bekennt, dass er ein Hebräer sei, so selbstbewusst behauptet er: „Ich kann Lieder machen“ (S. 73 u. S. 84). Jüdischer Glaube und höfische Kunst, das sind die beiden Zentren, um die der Roman kreist, vereint in der Person des Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg. Von Hartmann von dem BuschHartmann von dem Busch lernt Süßkind die handwerklichen Fertigkeiten des Minnesangs. Seine Schutzherren sind zunächst Graf Berthold von SponheimBerthold von Sponheim und danach Konrad von TrimbergKonrad von Trimberg. Natürlich ließe sich der Inhalt des Romans auch ganz anders wiedergeben. Torberg entwickelt eine Vielzahl von Nebenhandlungen und Nebenmotiven. Doch kommt es in unserem Zusammenhang auf diesen Aspekt an: Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg ist ein Roman des Abschiednehmens, auch im allegorischen Sinne, des Abschieds von einer vielhundertjährigen Symbiose von deutscher und jüdischer KulturKultur, die es in dieser Form nicht mehr gibt und nach Torbergs Ansicht auch nicht mehr geben wird. Man könnte sich fragen, ob nicht im Motiv des Wanderers Torberg ein Thema aufgreift, das – freilich postklassisch – spätestens seit GoethesGoethe, Johann Wolfgang Wanderers SturmliedWanderers Sturmlied mit der Künstlerthematik aufs Engste verknüpft ist. Allerdings wäre dies ein Aspekt des Romans, der gleichsam gegen die Absicht seines Autors gewonnen und behauptet werden müsste. Franz-Heinrich Hackel benennt diesen Gesichtspunkt auf der Grundlage eines Gesprächs mit Friedrich Torberg lediglich in seiner übertragenen, symbolischen Bedeutung, wenn er schreibt: „Es ist das Schicksal des Künstlers [Süßkind von Trimberg, M.L.-J.] als ‚Wanderer zwischen zwei Welten‘, der schließlich von beiden verstoßen und verachtet wird. ‚Für mich‘, sagte TorbergTorberg, Friedrich in einem Gespräch, ‚ist Süßkind von Trimberg die um 700 Jahre vorweggenommene Verkörperung dessen, was wir optimistischerweise als deutsch-jüdische Kultursymbiose angesehen haben und was in unseren Tagen unweigerlich zu Ende geht.‘“54 Dass diese Prognose verständlich, aber vor dem Hintergrund der jüngeren literarischen Entwicklung doch korrekturbedürftig ist, ist evident. Erinnert sei nur an die Romane von Edgar HilsenrathHilsenrath, Edgar in den 1970er- und 1980er-Jahren oder in jüngster Zeit an das Prosawerk von Barbara HonigmannHonigmann, Barbara. Süßkind von Trimberg ist insofern vielleicht als ein postromantischer Roman zu verstehen, ebenso unzeitgemäß, aber zur Zeit gehörend, wie der historische Minnesänger Süßkind von Trimberg selbst. In diesem Sinne hätte Torberg eine kunstvolle Formäquivalenz von historischem Anspruch und inhaltlicher Gestaltung geschaffen. Spitzt man diesen Gedanken noch weiter zu, ließe sich die These bilden, dass Torbergs Süßkind von Trimberg Patrick SüßkindsSüßkind, Patrick Roman Das ParfümDas Parfüm (1985) vorwegnimmt. Aber kritisch gewendet müsste man sagen, TorbergTorberg, Friedrich ist am Versuch, einen postmodernenPostmoderne Roman zu schreiben, gescheitert. 1972 war dafür die Zeit scheinbar noch nicht reif. Torberg hat aber immerhin mit künstlerischen, literarischen Mitteln entscheidend dafür gesorgt, dass das Interesse an dem Dichter Süßkind von TrimbergSüßkind von Trimberg über den Kreis der Spezialisten hinaus erheblich gewachsen war und diesem Dichter im kulturellen Gedächtniskulturelles Gedächtnis ein sicherer Ort bewahrt wurde.

Johannes SecundusSecundus, Johannes Basia (1539), GoetheGoethe, Johann Wolfgang Liebebedürfniß (1776/1789)

Immer noch gibt es in der RokokoRokoko-Forschung erhebliche Lücken. Die in den frühen 1970er-Jahren positionierten Forschungsergebnisse dominieren nach wie vor die Diskussion, aber auch Leitthesen, die verknüpft sind mit den Namen Anger, Schlaffer, Zeman, Verweyen oder Bohnen werden weiter diskutiert. Einzig Mauser ist zu nennen, der in den 1980er-Jahren Neuland erschließt. In den 1990er-Jahren scheint Tabula rasa zu herrschen. Sind Rokoko und AnakreontikAnakreontik also vernachlässigte Themen oder ist vielleicht doch schon alles gesagt?

In der Forschung ist es nach wie vor höchst umstritten, wie sich Rokoko (als einer historiografischen Kategorie) und Anakreontik (als einem kontemporären Begriff) in der deutschen Literatur sinnvoll differenzieren lassen. Aber schon im Jahr 1780 muss der Titel „anakreontischer Mischmasch“ für ein nicht ganz ernst gemeintes Gedicht herhalten:

„Auf den

Zwey und zwanzigsten des Maymonates.

Anakreontischer Mischmasch.

(Ich bitte, so vorlieb zu nehmen.)


Ermüdete Laune! Aus keuscher Empfindung,
Du willst mich verlassen? Und schaamhaft uns küßen.
Wer hat Dich erzürnet? – Noch hat uns kein Winter
Die lästernde Narren? Der Jahre (Du weiß’st es)
Wie kannst Du Dich ärgern, Im glühenden Busen
Wenn Narren Dich höhnen? Das Feuer verlöschet.
O, laß’ sie doch lästern, Noch steiget zuweilen
Und pöbelhaft schimpfen! – Ein munt’rer Gedanke
Es sind ja nur Narren. Im fröhlichen Geist’ auf.
Und weiß’st Du, warum sie Bleib’ immer noch länger
Dich lästernd verfolgen? – Des scherzenden Küsters
Du hast sie zuweilen Vertraute Gefährtin,
Satyrisch verlachet. Zwar kann ich, als Küster,
Dein Lachen verdrießt sie; Nicht vornehm Dich mästen,
Und – ihnen zum Possen – Nicht rauschende Freuden
Ermuntre Dich wieder. Dir teuer erkaufen;
Ergreife von neuem Doch sollst Du nicht hungern.
Die schärfeste Geisel Es soll auch nicht Schwermuth
Der dreisten Satyre. Dich von mir verscheuchen.
Versetze dem Rücken Hier, wo nicht das Tändeln
Der höhnenden Narren Unwitziger Gecke,
Empfindliche Streiche. Nicht mod’sche Besuche
Sie mögen Dich schimpfen, – Verstelleter Freunde
Im lautesten Tone Die Zeit uns verderben, –
Des niedrigen Pöbels, Hier, (wo wir, zufrieden
Erbittert Dich schimpfen! Bey frohem Bewußtseyn,
Das muß dich nicht rühren. Die Tage verleben,)
Was kann denn das Schimpfen In niedriger Hütte –
Der Narren Dir schaden? Hier wollen wir denken,
Du bleibest doch Laune; Und schreiben, und lesen;
Und kannst Dich ja rächen. – Den Weisen verehren;
Auf! – Reibe den Schlummer Sein rühmliches Leben
Aus schläf’rigen Augen! Zum Muster uns nehmen;
Noch scheuchet kein Phlegma, Die Thoren verlachen;
Kein frostiges Alter, Mit beißendem Spotte
Kein Unglück – Dich von mir. Sie muthig verfolgen.
Noch sitzen wir beide, Hier soll einst der Tod nur –
In ruhiger Stille, Sonst Niemand – uns trennen.
Entfernet von finstern, So lange, bis dieser,
Von plagenden Grillen, – Als lächelnder Freund, mir
Vom marternden Geize, Entseelend die Hand reicht, –
Vom neidischen Stolze, Gewährst Du, o Laune!
Von tückischer Mißgunst Mir Deine Gesellschaft.
Befreyet, am Schreib’tisch’. Dann greif’ ich, von neuem,
Und fühlen uns glücklich! – Ganz heiter, zur Feder.
Noch schmecket das Pfeifchen Dann schreib’ ich noch länger,
Beym häuslichen Tranke. Den Narren zum Trotze;
Noch schmecken uns Küße, Und fürchte den Eifer
Von holden Freundinnen, Der schmählenden Milzsucht, –
Die tugendhaft zärtlich, Das grimmige Drohen

Die Tauglichkeit des jüngeren RokokoRokoko-Begriffs als EpochensignaturEpochensignatur hat sich nicht bewährt. Halten wir es weiterhin behelfsmäßig mit Alfred Anger, der die AnakreontikAnakreontik des 18. Jahrhunderts als ein „Herzstück“2 des Rokoko definiert. Im Zentrum stehe bei dieser Art von Anakreontik die „Pflege einer bestimmten poetischen Gattung (der anakreontischen Ode)“, während der Begriff RokokoRokoko eine „Stilform“ bezeichne, „die durchaus nicht an eine einzelne Gattung gebunden“ sei.3

Ich werde der Frage nachgehen, welche kulturellen Einschreibungen der Rekurs (verbunden mit dem Namen GoetheGoethe, Johann Wolfgang) auf einen Leitnamen der AnakreontikAnakreontik (verbunden mit dem Namen des neulateinischen Dichters Johannes SecundusSecundus, Johannes) enthält und was dies für die Rokoko-Forschung bedeuten könnte. Damit könnte sich auch ein forschungsstimulierender Fragehorizont eröffnen lassen, z.B.: Lässt sich ein Funktionswandel der LiteraturLiteratur am Leitbegriff der Anakreontik beschreiben? Wie ist der zivilisatorische Prozess der Intimisierung zu verstehen (Stichwort: Verlust des ganzen Hauses), wenn zugleich dieser Prozess durch die Literatur öffentlich gemacht wird, im Medium der Fiktionalität? Als Grundlage dienen mir erstens ausgewählte Gedichte aus dem BasiaBasia-Zyklus des Johannes Secundus (1511–1536), zweitens zwei Tagebucheintragungen Goethes, und drittens zwei sich auf Johannes Secundus beziehende Gedichte Goethes mit den Titeln An die Manen des Johannes SekundusAn die Manen des Johannes Sekundus und LiebebedürfnißLiebebedürfniß.4

„Johannes Sekundus konnte sich gar nicht trösten lassen“5, heißt es in der Erzählung Der LandpredigerDer Landprediger (1777) von Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold. Die Eltern des jungen Pfarrers waren soeben gestorben. Sekundus bezeichnet die genealogische Reihenfolge, auch der Vater hieß Johannes. Zugleich enthält diese Textstelle auch eine äußerst subtile Anspielung, denn der historische Johannes Secundus ließ sich von seiner verführerischen Freundin trösten. Diese fehlt dem lenzschen Landprediger. Mit bürgerlichem Namen heißt dieser Johannes Mannheim, und nur noch zweimal wird er im Text als Johannes Sekundus von Lenz benannt. Bei der Beschreibung einer Art empfindsamEmpfindsamkeit-anakreontischenAnakreontik Mysterienkults, von Johannes als säkularisierte Wallfahrt zu Ehren der verstorbenen Eltern organisiert, hebt der Autor hervor, dass „der schmelzende Anblick kindlicher Zärtlichkeit“6, den Johannes den Zuschauern bietet, und die allgemeine Rührung durch Musik, Pose, Schauspiel und Worte zu einem kollektiven Heulen führen. Die Neuzeit böte hierfür den Begriff der Massenhysterie, wenn es sich nicht wesentlich subtiler ereignet hätte, zumindest in der lenzschen Fiktion. Schwarze Kleider, Myrtenzweige, Erfrischungen, Fackeln und Trauermusik umrahmen die mitternächtliche Prozession. Am nächsten Tag vollzieht sich ein verordneter, wiederum kollektiver Stimmungsumschwung, eine fürstliche Bewirtung wird erwähnt. Am achten Tag reisen alle ab und es beginnt eine „Mädchenfeier“, Johannes Sekundus

„hatte nämlich ein Vierteljahr vorher die schönsten Mädchen, die ihm vornehmen und geringen Standes bekannt waren, mit ihren Müttern eingeladen; diese wurden auf dieselbe Art bewirtet, nur mit dem Unterschiede, daß sie bei der Prozession alle weiß gekleidet sein und jede einen Blumenkranz in Händen haben mußte. Die Feierlichkeit war dieselbe; nur geschahe sie nicht in der Nacht, sondern bei Sonnenuntergange. […] die Musik war fröhlicher und es ward eine Schäferkantate abgesungen. […] Dieser Anblick war so reizend, daß er Zuschauer aus den entferntesten Ländern herbeizog, die sich lange vorher auf das Johannisfest zu Adlersburg, so hieß diese Leichenbegängnis, zu freuen pflegten. Die Mütter schlossen einen großen Kreis um sie herum. Es war ein besonderes Gerüst für die Zuschauer erbauet. Nach Endigung dieses Tanzes, wobei jede Schöne, wie natürlich, ihre zaubervollsten Stellungen sehen ließ, hielt Johannes Sekundus ihnen eine Rede, wobei er dankte, daß sie Balsam in seine Wunde gegossen“.7

Eine Wache mit scharf geladenem Gewehr und Feuerbefehl achtet darauf, dass kein Mann sich außerhalb des Zuschauerterritoriums den Frauen nähert. Der Autor LenzLenz, Jakob Michael Reinhold kommentiert dieses Arrangement mit den Worten:

„Man kann sich leicht vorstellen, daß die reizendsten Schönheiten des Landes hier ihre Zaubereien spielen ließen und sich oft lange vorher zu diesem Tage zuschickten. Weil sie alle als Schäferinnen gekleidet und angesehen waren, so fielen hier, während daß die Feierlichkeiten dauerten, alle Erinnerungen des Standes weg, und ward bloß auf die Reize der Person gesehen, wo jede sich bemühte, es der andern zuvor zu tun. Johannes Sekundus tat mehrenteils einige Monate vorher Reisen ins Land und in die Städte umher, um Priesterinnen zu dieser Feierlichkeit anzuwerben, welches diese sich für eine große Ehre schätzten, weil dadurch der Ruf ihrer Schönheit einen merkwürdigen Zuwachs erhielt“8.

Lenz nutzt also die schäferliche Draperie als Medium, die gesellschaftlichen Unterschiede aufzuheben. Karnevaleskes verknüpft sich mit einem utopischen Denken. Die politischen Einschreibungen in die Erzählung werden mit einem erotischen Diskurs unterminiert. Eine Leitvorstellung pornografischen Schreibens taucht hier am Horizont auf, denn in der erotischen Republik sind alle Leiber gleich.9

Lenz arbeitete am Landprediger unmittelbar nach seiner Ausweisung aus Weimar. Frühere Pläne und Ausführungen sind zwar nicht bekannt, allerdings auch nicht ausgeschlossen. Ein neues Gesicht bekommt diese Überlegung, wenn man die Tagebucheintragung Goethes vom 1. November 1776 betrachtet. In der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November trifft GoetheGoethe, Johann Wolfgang Lenz noch morgens früh um drei Uhr auf einer Tanzveranstaltung, am 1. Dezember muss Lenz Weimar wegen der bekannten unbekannten „Eseley“ verlassen. Vier Wochen zuvor liest man also bei Goethe: „Lenz gegen Abend fort. Mit Lenz Mittags im Garten gessen. Herz.[og] mit. Abends zu Gevatter gebeten von Koppenfels. Dann nach Tiefurt. Johannes Sekundus“10. Und einen Tag später am 2. Novemer 1776 notiert Goethe: „Herz[og] auf die Jagd, ich in Garten. Ad Manes J.S.“11 Dieser verschlüsselte Eintrag „Ad Manes J.S.“ wird in der GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Forschung mit dem Hinweis auf den humanistischen Dichter Johannes SecundusSecundus, Johannes aufgelöst. „Ad Manes J.S.“ wird somit übersetzt mit ‚An die Manen des Johannes Secundus‘. Das ist philologisch zwar korrekt, doch mit welcher Begründung und welchen Argumenten werden die Initialen J.S. als diejenigen des Johannes Secundus (mit ‚c‘ geschrieben) und nicht als diejenigen des Johannes Sekundus (mit ‚k‘ geschrieben) aufgelöst, womit Goethes Referenz möglicherweise auch auf die lenzsche Figur des Johannes Sekundus verwiese? Die Forschung führt als Beleg für die richtige Auflösung der Schreibweise den Hinweis auf die Tagebucheintragung vom 1. November sowie auf Goethes gleichlautendes Gedicht An den Geist des Johannes SekundusAn den Geist des Johannes Sekundus an, das nach der Datierung auf der Handschrift am 2. November 1776 entstanden ist und erstmals in erheblich veränderter Form und mit dem veränderten Titel LiebebedürfnißLiebebedürfniß 1789 in den Schriftenveröffentlicht wurde. Nun ist zweierlei denkbar, entweder hat Lenz bereits zu diesem Zeitpunkt die entsprechenden Passagen seiner Erzählung Der LandpredigerDer Landprediger konzipiert oder geschrieben gehabt und Goethe waren diese bekannt; somit wäre ihm der Name Johannes Sekundus in dieser Schreibweise geläufig gewesen. Oder aber Lenz wurde nach dem 2. November 1776 das Gedicht Goethes An die Manen des Johannes SekundusAn die Manen des Johannes Sekundus bekannt und er selbst ließ sich davon zur Namensgebung seiner Erzählfigur anregen. Daran könnte man eine weitere Überlegung anknüpfen, wonach „Lenzens Eseley“12 mit diesem Gedicht in Zusammenhang stünde. Das würde die Vermutung nähren, dass sich diese „Eseley“ in erster Linie aus Goethes Eifersucht auf Lenz und dessen Nähe zu Charlotte von SteinStein, Charlotte von, mit der Lenz zuvor als Englischlehrer sechs Wochen in Kochberg verbracht hatte, herleiten lässt.

Doch ist hier nicht der Ort, über diesen sich jenseits historischer Fakten befindlichen Sachverhalt Mutmaßungen anzustellen. Vielmehr sollen ausgewählte BasiaBasia-Gedichte des Johannes Secundus vor dem Hintergrund von Goethes Tagebucheintrag sowie seiner beiden, sich auf Secundus beziehenden Gedichte An die Manen des Johannes Sekundus und Liebebedürfniß gelesen und im Hinblick auf die Frage nach der EpochenspezifikEpochenspezifik des RokokoRokoko diskutiert werden. Goethe hat sich später nochmals über Johannes Secundus geäußert. Im dritten Heft von Über Kunst und AltertumÜber Kunst und Altertum (1817) spricht er über die lohnende Aufgabe, die neulateinische Literatur der zurückliegenden drei Jahrhunderte zu erforschen und nennt dabei namentlich Johannes SecundusSecundus, Johannes und Jacob BaldeBalde, Jacob.13

GoethesGoethe, Johann Wolfgang Sekundus-Gedicht ist sicherlich nicht das größte Denkmal, das dem Humanisten Johannes Secundus gesetzt wurde, wie noch Pyritz unter der Vorherrschaft des auf die Weimarer KlassikWeimarer Klassik zentrierten literaturhistorischen Blicks gemeint hatte.14 In diesem Sinne die Zeilen Goethes als eine Art ausschließlich intertextuelle Referenz auf Johannes Secundus zu begreifen, hieße, den Anlass des Gedichts und auch dessen Adressatin Frau von SteinStein, Charlotte von völlig zu ignorieren. Denn Goethes SekundusSekundus-Gedicht gleicht einem gequälten Ruf nach sexueller Erfüllung in der Liebe zu Charlotte von Stein. Sein historischer Referenztext sind die BasiaBasia-Gedichte des Johannes Secundus. Darin schildert der neulateinisch schreibende Dichter die Wonnen sexuellen Glücks mit der Spanierin NeaeraNeaera. Johannes Secundus wurde als Jan Nikolai EveraertsEveraert, Jan Nikolai (oder Everard) 1511 in Den Haag geboren, studierte Jura und starb mit 24 Jahren 1536. Die Basia- oder Kuss-Gedichte des Johannes Secundus sind nach Ellinger in der Zeit zwischen Sommer 1534 und Herbst 1536 entstanden und wurden 1539 erstmals gedruckt.15 Sie stellen einen Zyklus von insgesamt 19 Gedichten dar, in denen es um die metonymische, metaphorische, aber durchaus auch buchstäbliche Bedeutung und Funktion des Küssens geht. Ellinger spricht von „völliger Neuschöpfung“16, SecundusSecundus, Johannes sammle das Vorhandene aus Altertum und Renaissance und führe es erstmals zu einem Zyklus zusammen. Die BasiaBasia-Gedichte sind neulateinisch verfasste erotische Gedichte, die den historischen Brückenschlag zwischen der antiken erotischen Dichtung und deren neuzeitlicher Anverwandlung und späteren Weiterentwicklung in der AnakreontikAnakreontik dokumentieren. In der neuplatonischen KussdichtungKussdichtung galt der Kuss nicht als Teil des erotischen Vorspiels, wie Thomas Borgstedt ausführt, „sondern Küsse sind Maßnahmen der Vermeidung, der Linderung und des Ersatzes“17 des sexuellen Akts. Der Kuss wurde als eine Art „‚neuplatonisches Sakrament‘“18 bewertet. Inwieweit nun Johannes Secundus dieser Tradition verpflichtet ist und inwiefern und in welchem Maße er sie in seinen Basia-Gedichten berücksichtigt, ist keineswegs so eindeutig, wie Borgstedt annimmt, auch wenn in der Forschung geltend gemacht wurde, Secundus habe in Basia 8 mit seinen reimlosen Kurzversen, der strophenlosen Odenform, den Diminutivformen, der anaphorischen Reihenbildung, den Tautologien und der Durchbrechung des mittleren Stils „ein echtes anakreontisches Gedicht“19 geschaffen. Borgstedt sieht die „strenge Begrenzung der erotischen Thematik auf das Kußmotiv und dessen Substitutionscharakter“20 als den entscheidenden Kunstgriff des Secundus an. Allerdings gilt es zu bedenken, dass Johannes Secundus gerade diese Tradition wesentlich überschreitet und mit dem beständigen Wechsel zwischen der metaphorischen Ebene und ihren symbolischen Einschreibungensymbolische Einschreibung und der buchstäblichen Ordnungbuchstäbliche Ordnung erotischen Sprechens spielt.

GoetheGoethe, Johann Wolfgang bezieht sich jedenfalls mit seinem SekundusSekundus-Gedicht unzweifelhaft auf Basia 8Basia des Johannes Secundus, das folgenden Wortlaut hat:


„Quis te furor, Neaera „What frenzy was it, void of skill,
inepta, quis iubebat du Törin, dir geboten, Bade you, Neaera, work your will
sic involare nostram, so anzufallen, so zu Of mischief on my hapless tongue
sic vellicare linguam verletzen meine Zunge And do to it this grievous wrong?
ferociente morsu? mit grausam-wildem Bisse? You knew that you had pierced my heart
an, quas tot unus abs te Genügt’s nicht, daß im Herzen With shafts of love in every part:
pectus per omne gesto so viele deiner Pfeile, And were you still unsatisfied
penetrabiles sagittas, die es durchbohrten, ich nun Until you had your sharp teeth tried
parum videntur, istis allein muß tragen? Mußt du, Upon that other member too
ni dentibus protervis mit dreisten Zähnen frevelnd, Who only lives to sing of you?
exerceas nefandum vergehn dich an dem Gliede, From early morn to eve’s decline,
membrum nefas in illud, womit ich oft frühmorgens, Through nights of grief and day’s sunshine,
quo saepe sole primo, womit ich oft spätabends, This faithful tongue, you know it well,
quo saepe sole sero, womit ich lang am Tage, Has only but one tale to tell.
quo per diesque longas in bittersüßen Nächten, ’Behold Neaera’s sparkling eyes,
noctesque amarulentas dein Lob zu singen pflegte? Behold her braided locks,‘ it cries;
laudes tuas canebam? Dies ist (weißt du’s nicht?), Böse, ’Behold her bosom white as milk,
haec est, iniqua, (nescis?), dies ist dieselbe Zunge, Behold her neck more soft than silk.‘
haec illa lingua nostra est, die deine Ringellocken, Neaera’s charms in wanton verses
quae tortiles capillos, die dein verschwimmend Auge, Among the stars it still rehearses
quae paetulos ocellos, die deine weißen Brüste, Beyond Jove’s flame, and is so zealous
quae lacteas papillas, die auch den zarten Nacken It makes the very heavens jealous.
quae colla mollicella der reizenden Neaera ’Flower of my soul‘ – they hear it call –
venustulae Neaerae in weichem Vers erhoben ’My dearest life, my all in all,
molli per astra versu zu Sternen, höher noch als My sweetest sweetling, in whose arms
ultra Iovis calores zum sonnenwarmen Himmel, I find escape from all alarms,
caelo invidente vexit, der diesen Ruhm dir neidet; My milk-white pigeon, queen of love‘ –
quae te, meam salutem, die dich, mein Heil und Leben, See Venus frown – ’My turtle-dove.‘
quae te, meamque vitam die dich, mein ganzes Dasein, How was it then you had the whim,
animae meaeque florem, du Blume meiner Seele, Proud beauty, thus to injure him
et te, meos amores, und dich, du meine Liebe, Who dares to exalt above the skies
et te, meos lepores, und dich, du mein Entzücken, The beauty of your lips and eyes?
et te, meam Dionen, und dich, du meine Venus, It was, forsooth, because you know
et te, meam columbam und dich, du meine Taube, I never should so angry grow
albamque turturillam mein weißes Turteltäubchen, As not to make that tongue proclaim,
Venere invidente dixit. zu Venus’ Neid besungen. Albeit in broken words, your fame,
an vero, an est id ipsum, Vielleicht ist’s grade dieses, And of your teeth the praises sound
quod te iuvat, superba, was, Stolze, dich erfreuet: Which dealt it this so cruel wound
inferre vulnus illi, die Zunge zu verwunden, And bleeding still your charm confess.
quam laesione nulla, die (wie du weißt, du Schöne)
formosa, posse nosti du nie so kränken konntest
ira tumere tanta, noch so in Zorn versetzen,
quin semper hos ocellos, daß nicht sie diese Äuglein,
quin semper haec labella daß nicht sie diese Lippen
et qui sibi salaces und selbst die geilen Zähne,
malum dedere dentes die ihr Böses taten,
inter suos cruores in eignem Blut gebadet
balbutiens recantet? selbst stammelnd noch besänge?

Die ältere Übersetzung von Passow (1807) lautet:

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
3110 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783772002151
Telif hakkı:
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