Kitabı oku: «Schweiz – Europäische Union: Grundlagen, Bilaterale Abkommen, Autonomer Nachvollzug», sayfa 6
B. Parteien
Die bilateralen Abkommen werden zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossen («EU only»-Abkommen). Ein Spezialfall sind gemischte Abkommen, bei denen auf der Seite der EU nicht nur die EU, sondern auch die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien auftreten (gemischte Abkommen).
1. «EU only»-Abkommen
Die EU ist in denjenigen Sachbereichen, in denen sie über eine umfassende Vertragsschlusskompetenz verfügt, allein befugt, mit der Schweiz bilaterale Abkommen abzuschliessen (Art. 2 und Art. 3 i.V.m. Art. 216 AEUV; «EU only»-Abkommen). Den Mitgliedstaaten ist es untersagt, sich in denjenigen Sachbereichen, in denen die EU ausschliesslich zuständig ist, völkerrechtlich zu binden (Sperrwirkung), wobei die Mitgliedstaaten von der EU ermächtigt werden können, vorläufig an ihrer statt tätig zu werden (Art. 2 Abs. 1 AEUV; s. Urteil Donckerwolke, 41/76, EU:C:1976:182, Rn. 31/37).
Ein Beispiel ist der Beschluss (EU) 2020/853 zur Ermächtigung Deutschlands, seine bilaterale Vereinbarung über den Strassenverkehr mit der Schweiz zur Genehmigung von Kabotagebeförderungen bei der Bereitstellung von grenzüberschreitenden Personenkraftverkehrsleistungen mit Kraftomnibussen in der Grenzregion der beiden Länder zu ändern (Erwägungsgrund 8).
Die allermeisten bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU betreffen Sachbereiche, in denen die EU eine umfassende treaty making power besitzt. Folglich fungieren die EU und die Schweiz als Vertragsparteien; auf Seiten der EU bedürfen solche «EU only»-Abkommen der Zustimmung der zuständigen Organe der EU nach Massgabe von Art. 218 AEUV bzw. Art. 207 AEUV (gemeinsame Handelspolitik).
In der Schweiz verfügt der Bund über eine umfassende Kompetenz für die gesamten auswärtigen Angelegenheiten; dies gilt auch für Sachbereiche, welche innerstaatlich in die Zuständigkeit der Kantone fallen (G. Biaggini, BV-Kommentar, Art. 54 Rz. 5; s. zur Stellung der Kantone im Integrationsprozess T. Cottier et al., Rz. 277-309; T. Pfisterer, passim).
Bis 2009 besassen allein die E(W)G (Art. 210 EWGV, Art. 281 EGV) und die Euratom (Art. 101 Abs. 1 und Art. 184 EAGV) Rechtspersönlichkeit (Urteil AETR, C-22/70, EU:C:1971:32, Rn. 13-14). Aus diesem Grund wurden völkerrechtliche Verträge bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 zwischen der E(W)G und/oder Euratom auf der einen Seite und Drittstaaten auf der anderen Seite abgeschlossen. Seit 2009 besitzt die EU Rechtspersönlichkeit und damit die Fähigkeit, Trägerin von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten zu sein (Art. 47 EUV; s. auch Art. 37 EUV, Art. 3 Abs. 2 und Art. 216 AEUV). Die EU trat 2009 an die Stelle der EG, deren Rechtsnachfolgerin sie ist (Art. 1 Abs. 3 EUV). Die Abkommen zwischen der Schweiz und der E(W)G, welche vor 2009 abgeschlossen wurden, gelten automatisch weiter, ohne dass sie terminologisch – EU statt E(W)G – angepasst worden wären.
Der räumliche Geltungsbereich der bilateralen Abkommen erstreckt sich – vorbehältlich abweichender Regelungen – auf die Gebiete, in denen der E(W)GV bzw. der EUV/AEUV nach Massgabe dieser Verträge angewendet werden (Art. 52 Abs. 2 EUV, Art. 355 AEUV), einerseits und auf das Hoheitsgebiet der Schweiz andererseits (s. etwa Art. 35 FHA, Art. 17 KonfBA). Im Fall des Beitritts eines Staates zur EU wird der Geltungsbereich von «EU only»-Abkommen automatisch auf das Verhältnis des neuen Mitgliedstaats zur Schweiz ausgedehnt. Im Fall des Austritts eines Staates aus der EU verlieren «EU only»-Abkommen ihre Gültigkeit zwischen diesem Staat und der Schweiz. Dies ist der Fall beim Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU.
Die Schweiz ist bestrebt sicherzustellen, dass die bestehenden Rechte und Pflichten zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich auch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und nach Ablauf der Übergangsphase (während der die bilateralen Abkommen Schweiz-EU auch auf das Vereinigte Königreich anwendbar bleiben) weitergelten; zu diesem Zweck wurden diverse Verträge mit dem Vereinigten Königreich abgeschlossen (sog. «Mind the gap»-Strategie, www.eda.admin.ch/dea und Link zu Verhandlungen und offene Themen/Brexit; A. Epiney, Mind the Gap, passim). Auch eine engere Zusammenarbeit im Bereich der Finanzdienstleistungen wird angestrebt (Pressemitteilung des EFD vom 30. Juni 2020).
Die bilateralen Abkommen werden in aller Regel zwischen der EU (bzw. früher der E[W]G, N. 41) und der Schweiz (terminologisch korrekt: der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vgl. Art. 1 BV) abgeschlossen. Auf Seiten der EU sind ausnahmsweise die Europäische Kommission (z.B. Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von in der Schweiz ansässigen ehemaligen Beamten der Organe und Agenturen der EG), eine Agentur oder sonstige Einrichtung (z.B. Abkommen zwischen der Schweiz und Europol) Vertragspartnerin; vereinzelt fungiert zudem nicht nur die EU, sondern auch Euratom als Vertragspartei (z.B. Abkommen zur Assoziierung der Schweiz an Horizon 2020). Auf Seiten der Schweiz tritt ausnahmsweise der Bundesrat als Vertragspartner auf (z.B. Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von in der Schweiz ansässigen ehemaligen Beamten der Organe und Agenturen der EG).
2. Gemischte Abkommen
Sofern die EU nicht über eine umfassende Zuständigkeit verfügt, um einen Vertrag mit einem Drittstaat oder einer internationalen Organisation in eigener Regie abzuschliessen, bedarf es notwendigerweise der Beteiligung der Mitgliedstaaten. Diesfalls treten die EU und die Mitgliedstaaten gemeinsam als Vertragsparteien auf und machen konzertiert von ihren jeweiligen Vertragsschlusskompetenzen Gebrauch. Bei solchen Verträgen handelt es sich um gemischte Abkommen (s. zum Ganzen M. Oesch, Europarecht, Rz. 786-790). Sie bedürfen der Genehmigung und Ratifikation durch die EU und ihre Mitgliedstaaten. Völkerrechtlich binden gemischte Abkommen ohne gegenteilige Vereinbarung sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten (s. Art. 27 und Art. 46 WVRK).
Die folgenden Abkommen zwischen der Schweiz und der EU wurden als gemischte Abkommen abgeschlossen. Umgangssprachlich werden auch sie hinlänglich zu den «bilateralen» Abkommen gezählt, wenngleich formell zurzeit bis zu 29 Vertragsparteien beteiligt sind (wobei nur das FZA bereits von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert worden ist):
Freizügigkeitsabkommen;
Betrugsbekämpfungsabkommen;
Abkommen über die Teilnahme der Schweiz an den Europäischen Satellitennavigationsprogrammen (Galileo, EGNOS).
Im Fall des Beitritts eines Staates zur EU muss ein gemischtes Abkommen formell geändert werden, damit es auch im Verhältnis zwischen dem neuen EU-Mitgliedstaat und der Schweiz Geltung erlangt. Dies geschieht in der Regel in Form eines Änderungsprotokolls, das gemäss den üblichen Vorgaben im EU-Recht und im schweizerischen Recht genehmigt und ratifiziert werden muss. Das Freizügigkeitsabkommen wurde anlässlich der Osterweiterungen der EU von 2004, 2007 und 2013 formell auf die 13 neuen Mitgliedstaaten ausgedehnt (2005, 2009 und 2017; N. 28).
Im Fall des Austritts eines Staates aus der EU verlieren gemischte Abkommen ihre Gültigkeit zwischen diesem Staat und der Schweiz, sofern das fragliche Abkommen im Wesentlichen bilateraler Natur ist, d.h. sofern es im Wesentlichen darauf ausgerichtet ist, das Verhältnis der Schweiz zur EU insgesamt zu regeln (und nicht – unabhängig davon – auch vis-à-vis der einzelnen EU-Mitgliedstaaten). Dies trifft insbesondere auf das Freizügigkeitsabkommen zu: Das FZA wirkt «zu Gunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz» (Art. 1); es gilt «für das Hoheitsgebiet der Schweiz einerseits und die Gebiete, in denen der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Anwendung findet, und nach Massgabe jenes Vertrags andererseits» (Art. 24; s. zur «Mind the gap»-Strategie der Schweiz N. 42). In anderen Fällen kann es durchaus Konstellationen geben, in denen ein gemischtes Abkommen oder zumindest einzelne Teile davon mit Blick auf den Wortlaut und den Sinn und Zweck des Abkommens oder einzelner Bestimmungen auch nach dem Austritt eines Staates aus der EU im Verhältnis zu diesem Staat weitergelten mögen. Dies ist bei keinem der zwischen der EU und der Schweiz aktuell geltenden gemischten Abkommen der Fall.
C. Typologie
Die bilateralen Abkommen folgen keinem gemeinsamen Grundmuster. Sie unterscheiden sich insbesondere in Bezug auf die jeweiligen Ziele, welche sie verfolgen, und damit auch den Grad der Integration der Schweiz in den unionalen Rechtsraum, der damit einhergeht:
Das Freihandelsabkommen stellt ein klassisches Handelsabkommen dar. Es regelt den gegenseitigen Marktzugang und beabsichtigt nicht, die Schweiz in den unionalen Binnenmarkt zu integrieren. Es ist statisch ausgestaltet und bedarf für das ordnungsgemässe Funktionieren keiner periodischen Weiterentwicklung.
Diverse Abkommen – wie das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen und das Landwirtschaftsabkommen – ergänzen das Freihandelsabkommen und bezwecken die weitere Erleichterung und Intensivierung des Warenhandels, ohne eine sektorielle Integration der Schweiz in den unionalen Rechtsraum anzustreben. Solche Liberalisierungsabkommen beruhen zumindest partiell auf EU-Recht.
Einige Abkommen – wie das Freizügigkeitsabkommen, das Luftverkehrsabkommen und die Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen – bezwecken die sektorielle Integration der Schweiz in den unionalen Rechtsraum durch die weitgehende Angleichung des schweizerischen Rechts an dasjenige der EU. Sie räumen der Schweiz in Bezug auf die vereinbarten Rechte und Pflichten eine mitgliedstaatsähnliche Stellung ein. Der EuGH hat ausgeführt, dass mit dem Freizügigkeitsabkommen die Rechte auf die Personen und Unternehmen in der Schweiz «ausgedehnt» (Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, C-656/11, EU:C:2014:97, Rn. 59 und 63) werden, womit die Schweiz punktuell «einem Mitgliedstaat gleichzustellen» (Urteil Kik, C-266/13, EU:C:2015:188, Rn. 44) ist (s. zur Lesart, wonach auch das Bundesgericht dem FZA eine neuartige Rechtsqualität zubilligt, M. Oesch, Urteilsbesprechung, S. 210-211). Der Bundesrat billigt dem Luftverkehrsabkommen die Qualität eines «partiellen Integrationsvertrags» zu, auch unter Verweis auf die abkommensspezifischen institutionellen Vorgaben (Botschaft Bilaterale I, S. 6156; s. zu den institutionellen Vorgaben N. 75). Diese Abkommen beruhen wesentlich auf EU-Recht und verweisen extensiv auf EU-Sekundärrecht. Die schweizerischen Behörden sind gehalten, die Praxis des EuGH zur Auslegung von Parallelbestimmungen im EU-Recht zu berücksichtigen.
Diverse Abkommen – wie das Forschungsabkommen, das Umweltabkommen, das Wettbewerbsabkommen und das Abkommen über die Teilnahme der Schweiz an den Europäischen Satellitennavigationsprogrammen (Galileo, EGNOS) – regeln die Zusammenarbeit der EU und der Schweiz in ausgewählten Politikbereichen oder ermöglichen der Schweiz, sich an unionalen Agenturen, sonstigen Einrichtungen und Programmen zu beteiligen. Dabei werden typischerweise die Rahmenbedingungen der Teilnahme der Schweiz und allfällige finanzielle Verpflichtungen vereinbart.
Das Abkommen über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswesens baut im Wesentlichen auf dem WTO-Recht auf. Es erweitert den Anwendungsbereich des WTO-Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen zwischen der EU und der Schweiz.
Bei denjenigen Abkommen, welche auf EU-Recht beruhen und auf EU-Sekundärrecht verweisen, ist die Schweiz verpflichtet, die referenzierten EU-Rechtsakte oder – zumindest auf dem Papier – gleichwertige Rechte und Pflichten anzuwenden (s. etwa Art. 1 Anhang II und Ziff. 1 Anhang III FZA; Art. 7 Abs. 1, Art. 9 Abs. 4 und Anhang 1 LandVA). Diese Abkommen werden im Einklang mit der Rechtsentwicklung in der EU periodisch aufdatiert, um das ordnungsgemässe Funktionieren nicht zu gefährden.
D. Verhältnis zum unionalen und schweizerischen Recht
Ausgangspunkt für die Bestimmung des Verhältnisses der bilateralen Abkommen zum unionalen bzw. schweizerischen Recht ist der Grundsatz der Vertragstreue (pacta sunt servanda, Art. 26 WVRK). Sofern die EU oder die Schweiz gegen eine bilateralrechtliche Verpflichtung verstösst, treten die Rechtsfolgen der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit ein. Die andere Vertragspartei kann gestützt auf allgemeine völkerrechtliche Grundsätze oder abkommensspezifische Vorgaben geeignete Massnahmen ergreifen (N. 98). Von der völkerrechtlichen Bindung sind die Fragen der Geltung und des Rangs der bilateralen Abkommen im unionalen bzw. schweizerischen Recht, der völkerrechtskonformen Auslegung des unionalen bzw. schweizerischen Rechts und der unmittelbaren Anwendbarkeit der bilateralen Abkommen zu unterscheiden. Dabei handelt es sich um Fragen, welche im Wesentlichen durch das jeweilige Verfassungsrecht zu beantworten sind.
Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den bilateralen Abkommen und unionalem bzw. schweizerischem Recht ist verknüpft mit der Frage der demokratischen Legitimation des bilateralen Wegs (s. dazu N. 59-68).
1. Geltung und Rang
Das EU-Recht und das schweizerische Recht beruhen auf dem Grundsatz der automatischen Geltung des Völkerrechts (Monismus; vgl. zum EU-Recht Art. 216 Abs. 2 AEUV, Urteil Haegeman, C-181/73, EU:C:1974:41, Rn. 26; zum schweizerischen Recht Art. 5 Abs. 4 BV; BGE 105 II 49; Bericht Völkerrecht-Landesrecht, S. 2302-2303). Auch die bilateralen Abkommen bilden einen integralen Bestandteil der unionalen und der schweizerischen Rechtsordnung; Transformationsakte sind nicht notwendig (s. zum Spezialfall gemischter Abkommen C. Kaddous, Zusammenarbeit, Rz. 104-111).
Die Feststellung, dass die Abkommen einen integralen Bestandteil der unionalen Rechtsordnung darstellen, hat für das EU-Recht zwei gewichtige Konsequenzen: Die bilateralen Abkommen beanspruchen als Bestandteil des EU-Rechts Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht. Des Weiteren ist der EuGH letztinstanzlich zuständig für die Auslegung der bilateralen Abkommen; er stellt auf diese Weise ihre einheitliche Anwendung in der gesamten EU sicher (Art. 218 Abs. 11, Art. 263 und Art. 267 AEUV; zum Rechtsschutz N. 72).
In der EU stehen völkerrechtliche Verträge gemäss ständiger Praxis des EuGH im Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht (Urteil Kadi, C-402/05 und C-415/05, EU:C:2008:461). Es ist davon auszugehen, dass diese Rangordnung auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen EU-Recht und bilateralen Abkommen gilt. Primärrecht inkl. der Grundrechtecharta geht im Kollisionsfall dem bilateralen Vertragsrecht folglich vor (zurzeit soweit ersichtlich eine hypothetische Konstellation; s. zur grundrechtskonformen Auslegung N. 78); letzteres bindet demgegenüber den EU-Gesetzgeber und die Mitgliedstaaten und beansprucht im Fall einer Kollision mit Verordnungen und Richtlinien sowie mitgliedstaatlichem Recht Vorrang (wobei für die praktische Wirksamkeit einer bilateralrechtlichen Norm die Bereitschaft der Behörden entscheidend ist, die Norm unmittelbar anzuwenden, N. 57).
In der Schweiz gilt grundsätzlich der Vorrang von Völkerrecht (vgl. Art. 5 Abs. 4 BV; zum Ganzen G. Biaggini, BV-Kommentar, Art. 5 Rz. 29-35). Dem Bundesgesetzgeber ist es allerdings nicht verwehrt, bewusst von einer völkerrechtlichen Verpflichtung abzuweichen; die rechtsanwendenden Behörden sind diesfalls gehalten, eine solche Entscheidung des Gesetzgebers zu akzeptieren und der völkerrechtswidrigen innerstaatlichen Norm Vorrang einzuräumen (Schubert-Praxis; BGE 99 Ib 39, E. 3/4). Diese Option besteht in zwei Konstellationen nicht: Völkerrechtliche Menschenrechtsgewährleistungen, d.h. insbesondere die EMRK, gehen Bundesgesetzen in jedem Fall vor (PKK-Gegenausnahme; BGE 125 II 417, E. 4d). Weiter gilt die Schubert-Praxis «im Verhältnis zur Europäischen Union und den von der Schweiz im Freizügigkeitsrecht staatsvertraglich eingegangenen Pflichten nicht» (FZA-Gegenausnahme); daran ändert auch eine bewusste Missachtung der vertraglichen Verpflichtungen durch den Gesetzgeber nichts, wie das Bundesgericht in einem Urteil von 2015 beiläufig – d.h. als obiter dictum – ausführte (BGE 142 II 35, E. 3.2; s. G. Biaggini, BV-Kommentar, Art. 5 Rz. 32; A. Epiney, Verhältnis, passim; A. Glaser/A. Brunner, passim; M. Oesch, Urteilsbesprechung, passim). Das Urteil erging im November 2015, also nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative durch Volk und Stände im Februar 2014, und erteilte den Vorschlägen eine Absage, die Initiative unter Verletzung des Freizügigkeitsabkommens umzusetzen (s. zu dieser «Umsetzung» N. 63). Argumentativ beruht das Urteil auf einer nachvollziehbaren Logik: Die Schweiz beteiligt sich in den vom Abkommen erfassten Bereichen mitgliedstaatsähnlich an der unionalen Personenfreizügigkeit. Vor diesem Hintergrund ist es ein kleiner Schritt, in Analogie zum EU-Recht von einem umfassenden Vorrang des Abkommens auszugehen und auf diese Weise sein ordnungsgemässes Funktionieren zu sichern. Allerdings äusserte sich das Bundesgericht nicht zur besonderen Stellung der Schweiz im europäischen Integrationsprozess. Die Schweiz ist ein Drittstaat ohne institutionelle Einbindung und direkte Einflussmöglichkeit auf die Weiterentwicklung des EU-Rechts. Auch die Tatsache, dass in der EU mit dem Vorabentscheidungsverfahren ein Mechanismus zur Verfügung steht, mit dem die Gerichte den EuGH mit Gültigkeits- und Auslegungsfragen befassen können, zu dem schweizerische Gerichte aber keinen Zugang haben, wurde nicht thematisiert.
Die bundesgerichtliche Begründung für den Vorrang des FZA löst eine Fülle von Fragen aus, welche vorderhand unbeantwortet bleiben. Es ist ungeklärt, ob der Vorrang auch gegenüber direkt anwendbarem Verfassungsrecht wirkt. Die Ausführungen des BGer enthalten jedenfalls keine Anhaltspunkte, weshalb dies nicht der Fall sein sollte. Es ist ungeklärt, ob sich der Vorrang auch auf andere bilaterale Abkommen erstreckt. Offensichtliche Kandidaten sind das Luftverkehrsabkommen und die Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen, welche ähnlich wie das FZA eine Integration in den unionalen Rechtsraum vorsehen, im Unterschied zu letzterem aber keine Rechtsangleichung qua Grundfreiheiten avisieren. Es ist ungeklärt, ob der Vorrang – wie vom BGer suggeriert – unbedingt wirkt, oder ob das BGer sich vorbehält, in Ausnahmefällen den Vorrang zu verneinen und die schweizerische Norm anzuwenden. Es wäre analog zu den vom deutschen Bundesverfassungsgericht entwickelten Vorbehalten zum Vorrang des EU-Rechts (M. Oesch, Europarecht, Rz. 134-146, 335-344; s. zuletzt das Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020, 2 BvR 859/15 u.a., in dem der Beschluss der EZB zum Staatsanleiheprogramm – trotz des anderslautenden Urteils des EuGH in der Rs. Weiss, C-493/17, EU:C:2018:1000 – als Ultra-vires-Massnahme qualifiziert wurde) oder auch zu den vom Liechtensteinischen Staatsgerichtshof entwickelten Vorbehalten zum Vorrang des EWR-Rechts (StGH 2013/196) denkbar, dass das BGer im Kollisionsfall einen EU-Rechtsakt nicht anwendet, weil er gegen elementare Grundrechtsgewährleistungen verstösst, oder ein EuGH-Urteil nicht befolgt, weil der EuGH die Grenzen der zulässigen Auslegung offensichtlich überschritten hat.
2. Völkerrechtskonforme Auslegung
Ein wirkmächtiges Instrument zur Vermeidung von Kollisionen zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht – zu dem in diesem Kontext auch EU-Recht gehört – ist die völkerrechtskonforme Auslegung. Die rechtsanwendenden Behörden sind gehalten, unionales bzw. schweizerisches Recht soweit als möglich, d.h. im Rahmen der anerkannten Auslegungsmethoden, unter Berücksichtigung des einschlägigen Völkerrechts auszulegen und anzuwenden (s. allg. zur völkerrechtskonformen Auslegung im EU-Recht Urteil Bosphorus, C-84/95, EU:C:1996:312, Rn. 11-18; im schweizerischen Recht BGE 94 I 669, 678). Die völkerrechtskonforme Auslegung findet ihre normative Grundlage im völkerrechtlichen Grundsatz der Vertragstreue und im völkerrechtlichen Anspruch auf Vorrang vor innerstaatlichem Recht (Art. 26 und Art. 27 WVRK). Diese Auslegungsmaxime ist auch im Kontext der bilateralen Abkommen anwendbar (T. Cottier/E. Evtimov, S. 188-189; C. Tobler/J. Beglinger, Grundzüge, Rz. 100).
Sofern das unionale und/oder schweizerische Recht keinen Spielraum für eine völkerrechtskonforme Auslegung belassen, besteht eine Kollision. Den rechtsanwendenden Behörden bleibt diesfalls nichts anderes übrig, als die einschlägigen Kollisionsregeln fruchtbar zu machen, d.h. primär die Regeln zum Vorrang und zur unmittelbaren Anwendbarkeit.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.