Kitabı oku: «Schweizerspiegel», sayfa 13
Ammann schwieg.
Severin blickte ihn eine Weile vorwurfsvoll fragend an, dann beschied er sich. «Jaja!» sagte er und legte seufzend ein Bein auf das andere. Aber im nächsten Augenblick nahm er das Bein wieder herab, zog den Stuhl näher an den Tisch heran und begann entschlossen, wenn auch gleichgültiger als bisher, von einer neuen Angelegenheit zu reden. «Noch etwas!» sagte er leise. «Ich möchte gern deine Festrede bringen, und zwar schon morgen, wenn du gestattest. Kannst du mir eine Abschrift geben?»
«Ausgeschlossen, ich habe erst ein paar Notizen gemacht und werde noch bis Mitternacht daran arbeiten müssen», erwiderte Ammann bedauernd, obwohl dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er hatte seine Rede geschrieben und auswendig gelernt, wollte aber unter dem Eindruck seines Berner Aufenthalts jetzt freilich manches ändern und einiges hinzufügen. «Du hast ja übrigens außer ein paar Resultaten noch gar nichts über das Fest gebracht?» fuhr er fragend fort. «Ein Bericht oder eine kurze Schilderung wäre doch … es ist immerhin ein Kantonalschützenfest … ich habe etwas darüber erwartet.»
Severin nickte zustimmend. «Ich bin ganz deiner Meinung», sagte er und schaute ihn aufmunternd an, damit er sich nur völlig ausspreche.
Ammann verzichtete auf weitere Bemerkungen und blickte seinerseits Severin mit einer einladenden Handbewegung fragend an.
«Ja, also die Sache ist sehr einfach», begann Severin in etwas erhöhtem Ton. «Es ist mir recht, daß du selber diesen Punkt berührst. Es handelt sich um Paul, und ich muß jetzt leider einmal sagen, wie es steht.» Er erzählte nun sachlich und genau, wie Paul als Berichterstatter versagt habe, wie wenig Verlaß auch sonst auf ihn sei und wie sehr ihm das für den anständigen Journalisten entscheidende Gefühl der Verantwortung fehle. «Er ist vom typischen Hochmut der Literaten besessen, die sich über alles erhaben dünken und alles belächeln, auch wenn sie keinen blassen Dunst davon haben», schloß er schneidend. «Ich bedaure sehr, aber es ist nichts mit ihm anzufangen.»
«So werde ich ihm den Kopf zurechtsetzen!» rief Ammann erzürnt. «Dieser Herr wird mich morgen begleiten, und ich werde dafür sorgen, daß er seinen Bericht schreibt.» Er stapfte noch eine Weile in der Stube herum, während Severin, der die angekündigte Maßregelung völlig nutzlos fand, sich seufzend erhob und Abschied nahm.
«Wenn morgen, im Verlauf des Nachmittags, wichtige Nachrichten kommen sollten», sagte Ammann, «dann läute mir bitte an, nicht wahr! Du weißt, wo ich bin. Und das mit Paul … das werde ich in Ordnung bringen.»
«Schön! Adieu Papa! Adieu Mama!»
Nachdem Severin die Stube verlassen hatte, machte sich Frau Barbara mit leisen, harmlosen Worten an ihren Mann heran und erreichte in kurzer Zeit, daß er seinen Beschluß zwar nicht zurücknahm, mit der Durchführung aber sie beauftragte. «Laß mich nur machen, Paul ist morgen am Schützenfest», sagte sie entschieden, und ihre Miene drückte ein so vollkommenes Einverständnis mit ihm aus, daß er sich zufrieden gab.
«Äh, und wie ist das … kommst du auch mit?» fragte er besänftigt.
«Ach, fällt mir nicht ein!» warf sie ohne Bedenken hin, worauf er lächelnd in sein Büro ging.
Er schlug das Manuskript seiner Rede auf und strich nach kurzer Überlegung einen Ausfall gegen die Sozialisten, der unter den gegenwärtigen Umständen schlecht angebracht war; man konnte jetzt nicht einen Teil der Arbeiterschaft vor den Kopf stoßen, mit deren Hilfe man vielleicht schon in den nächsten Tagen notwendig rechnen mußte. Nachdem er den Riß geflickt und die Rede noch einmal gelesen hatte, fand er, daß der vaterländische Geist darin schwungvoller zum Ausdruck kommen, daß nun aber weniger die Freiheit als die Einigkeit betont werden müsse. Er legte ein leeres Blatt neben das Manuskript, machte den Füllfederhalter bereit und runzelte die Stirn; doch das Denken und Schreiben gelang ihm nicht so mühelos wie sonst, er merkte erst jetzt, wie sehr ihn dieser Tag zerstreut und ermüdet hatte. Trotzdem schrieb er ein paar Sätze hin, strich sie aber bald wieder aus, da sie ihm zu allgemein, zu wenig kernig erschienen. Um nicht am Ende in Phrasen zu verfallen, was nach seiner Überzeugung übrigens nie geschah, griff er zu einem Hilfsmittel, das schon ungezählten Schützenfestreden zugute gekommen war, zum «Fähnlein der sieben Aufrechten» von Gottfried Keller. Er schlug die Erzählung im Bande der «Zürcher Novellen» auf, begann darin zu blättern, dann zu lesen, und spürte wieder das innigste Einverständnis mit dem Geiste, der ihm hier verklärt entgegentrat. Er merkte sich verschiedene Stellen, die er als Kernworte «unseres Altmeisters Gottfried Keller» geradezu anführen wollte, doch fand er die Energie nun nicht mehr, seine Rede noch einmal abzuschreiben. Indessen las er weiter und folgte den sieben Aufrechten zum eidgenössischen Schützenfest nach Aarau, angewärmt und mählich eingelullt von dieser Luft aus dem vergangenen Jahrhundert, das seine geistige Heimat war. Sein Kopf neigte sich unmerklich, seine Unterlippe hing vergessen herab, sein Kinn bettete sich in die Schwarte, die es, vom Kragen gestützt, wulstig umgab, und mit diesem friedlich erschlafften Gesichte schlief er über seinem Altmeister leise schnarchend ein.
10
Onkel Robert, Fred und Christian brachen am offiziellen Tag zum Bankett in die Festhütte auf. Als sie in dem vierplätzigen kleinen Gefährt kurz vor Mittag die Straße gegen den Schießstand hinabfuhren, sahen sie vom Dorfe her den Festzug schon im Anmarsch. In das Kreischen und Knirschen der Räder mischten sich aus der Ebene herauf die Marschklänge der Ortsmusik, das Knattern der Gewehre und die Kanonenschüsse, die zur Begrüßung abgefeuert wurden. Kurz vor der Ankunft des Zuges hielt Christian bei einem kleinen Gehöft, wo er Roß und Wagen einstellen konnte. Sein Vater ging, ohne auf ihn zu warten, mit Fred auf den Festplatz. Es war ein bewölkter, warmer Tag, die Wimpel und Fahnen hingen schlaff an ihren Stangen, die Wiesen, Bäume und Dächer waren feucht vom Regen, der im Verlaufe des Morgens gefallen war, doch auf dem Platze selber herrschte eine so laute, fröhlich-geschäftige Stimmung, daß man das trübe Wetter darüber vergaß.
Die Spitze des Zuges, blauweiße Halbartenträger und die kräftig blasende Musik, schwenkte am Eingang zum Festplatz ab, und an ihr vorbei marschierten, vom Organisationskomitee begleitet, in Zylindern und langschössigen schwarzen Röcken der offizielle Redner und die eingeladenen Ehrengäste, die man am Bahnhof abgeholt hatte. Nationalrat Ammann schritt zwischen dem Gemeindepräsidenten und einem Vertreter der Regierung mit feierlich heiterer Miene stramm heran. Der Zug, der ähnlich zusammengesetzt war wie am Sonntag bei der Fahnenübergabe, verstopfte einen Augenblick den Hütteneingang und löste sich dann auf.
Onkel Robert ging ruhig mitten durch das ärgste Gedränge in die Hütte hinein, um seinen Bruder zu begrüßen. Fred zögerte noch und blickte nach Christian aus; da faßte ihn jemand sachte am Arm, er drehte sich um und sah Paul vor sich. «Was, du bist auch wieder da?» rief er überrascht.
Paul bestätigte diese merkwürdige Tatsache durch ein stummes Grinsen. «Papa hat es erzwungen, und er will auch erzwingen, daß ich den Bericht schreibe», erklärte er. «Sag, ist das nicht unglaublich kurzsichtig von ihm? Es ist doch klar, daß er so nichts erreicht! Ich habe mir die Sache von seinem Standpunkt aus überlegt. Er handelt so dumm und so plump wie nur möglich. Überhaupt, weißt du … ich habe jetzt angefangen, Papa zu beobachten, und ich werde ihn heute vermutlich in seiner ganzen Glorie zu sehen bekommen.»
Fred hörte mit einem halb spöttisch heiteren Lächeln zu, und dieses Lächeln verriet, was er dachte, nämlich: «Da hast du dir ja etwas Nettes ausgedacht!»
«Komm, wir gehen hinein!» drängte Paul. «Ich muß einen Platz in seiner Nähe haben.»
«Ja … ich wollte hier noch auf Christian warten», entgegnete Fred zögernd, «aber …»
In diesem Augenblick dröhnte beim Stand der Kanonenschuß, der die Mittagspause ankündigte, und das Knattern der Gewehrschüsse, das wieder ununterbrochen den ganzen Morgen gedauert hatte, hörte sogleich auf. Den Schützen war ihre Arbeit offenbar wichtiger gewesen als der Anblick des Festzuges; sie verließen den Stand erst jetzt, gingen in eifrigen Gesprächen über Erfolge oder Mißerfolge zum Mittagessen und schienen die Bedeutung des Tages nicht zu beachten.
Da betraten auch Paul und Fred die Hütte. Beim Tisch der Ehrengäste blieben sie in der Nähe des Onkels, der mit Papa sprach, abwartend stehen.
Onkel Robert war größer und stärker gebaut als Oberst Ammann, doch stand er jetzt in einer leicht geduckten, fast schüchtern wirkenden Haltung vor ihm, als ob er seine mächtige Gestalt absichtlich verkleinern wollte, und brachte seine Worte in bescheidenem Tone vor oder hörte beifällig nickend mit einem harmlos bewundernden Ausdruck seines robusten roten Gesichtes aufmerksam zu. Ammann bewahrte vor dem Bruder durchaus die eindrückliche Haltung, die er in der Öffentlichkeit einzunehmen gewohnt war, ja er schien sie sogar ein wenig zu übertreiben, weniger durch sein strammes Dastehen als durch eine gewisse, großartig überlegene Leutseligkeit. Dabei hatte er einen sehr entschiedenen Ton angeschlagen, wie er zwischen Brüdern nicht eben üblich ist, begleitete seine Worte mit gewichtigen Kopfbewegungen und verhielt sich jedenfalls der Achtung entsprechend, die ihm da entgegengebracht wurde. Diese äußern Züge, die das Verhältnis der beiden Männer zueinander leise kennzeichneten, waren aber viel zu unauffällig, als daß etwa ein Freund oder Bekannter sie besonders wahrgenommen und die Unterhaltung daraufhin beobachtet hätte. Nur ein rücksichtsloser, ja übelwollender Betrachter konnte auf den Einfall kommen, daß Ammann es nötig habe, sich vor der wuchtigen Erscheinung seines Bruders ein wenig aufzuspielen.
Paul kam auf diesen Einfall. Er stand dicht hinter Fred und sagte leise, den Blick unverwandt auf Papa gerichtet: «Du mußt zugeben, daß er jetzt geschwollen aussieht. Er spielt sich auf, das ist klar, er gibt sich einen Anstrich. Das tut man nur, wenn man es nötig hat. Onkel Robert ist ja ein naiver Bär, aber er ist echt bis auf die Knochen, er kann gar nichts anderes darstellen als was er ist. Papa kann es, und er spielt jetzt den sichern Mann. Schon das gibt ihm eine problematische Nuance …»
«… das heißt, du hast dir bereits eine bestimmte Vorstellung von ihm gebildet, die du jetzt anzuwenden suchst», unterbrach ihn Fred.
«Keine bestimmte, nein … aber ich sehe jetzt manches wieder, was ich früher nicht beachtet hatte. Erinnerst du dich an den Abschiedsfraß im alten Hause? Wie Papa dort mit Hartmann verkehrte, das fällt mir erst jetzt auf. Hartmann hat ja in seinem Auftreten auch etwas Unsympathisches, aber es ist, glaub’ ich, eine begründete Haltung, er ist unzweideutig Soldat, Offizier, genau so wie Onkel Robert ein Bauer ist. Auch wenn sie abgesetzt und kaltgestellt würden, bliebe der eine Soldat, der andere Bauer; sie sind echt, sie leben durch sich selber, durch ihr bestimmtes Wesen. Papa aber lebt durch seine bürgerliche Umgebung, die ebenso fragwürdig ist wie er. Wirf ihn aus Amt und Würden, was bleibt dann? Ein Bürger? Aber was ist das?»
Fred, der dem Bruder über die Schulter hinweg zugehört hatte, wandte sich ihm jetzt mit heiter verurteilender Miene angriffig zu: «Aber was sind dann erst wir, du und ich? Gar nichts, wenn du mit solchen Maßstäben kommst!»
«Ja, mein Lieber, wir sind die Söhne dieses Vaters», erwiderte Paul nachdenklich lächelnd. «Aber wir haben seine Epoche hinter uns, und wir gestehen unsere Fragwürdigkeit ein, wodurch sie erst erträglich wird. Das ist ein großer Unterschied …»
Lisi, die Ehrenjungfer, kam in ihrer Tracht eilig auf die beiden zugeschritten, begrüßte Fred lachend mit ihrem gewohnten Ungestüm und gab dann mit einem neugierig spöttischen Anflug etwas zurückhaltend auch Paul die Hand, um sich sogleich lebhaft wieder an Fred zu wenden: «Wo sitzt ihr? Habt ihr schon Plätze?»
«Wir stehen noch, wie du siehst, aber … dort kommt Christian … ja warum, willst du an unsern Tisch?»
«Nein, ich muß doch zu den Ehrengästen», erwiderte sie aufgeregt.
«Jaso, natürlich … He, hallo, Christian!»
Christian kam langsam durch den Mittelgang und blickte mit finsterm Gesichte suchend umher, bis er Fred bemerkte, dann schritt er gelassen herbei, begrüßte Paul, fragte nach dem Vater und wandte sich dem nächsten leeren Tische zu. Lisi nahm, die erhobene Rechte schwenkend, mit einer koketten Wendung Abschied. Paul setzte sich zu äußerst links neben Fred, so daß er ohne Rücksicht auf andere mit ihm plaudern konnte, und Christian belegte für seinen Vater, der sich eben von Ammann trennte, einen Platz zu seiner Rechten. Sie saßen, die Bühne vor Augen, in einer Reihe nebeneinander nah beim Tisch der Ehrengäste.
Inzwischen hatte die Hütte sich locker angefüllt, der summende Lärm der vielen Stimmen wurde vom Eröffnungsmarsch der Ortsmusik übertönt, und von der linken Seite her, wo sich die Wirtschaftsräume befanden, kamen die Kellnerinnen mit gefüllten Suppentellern gelaufen. Das Bankett begann.
Ammann saß inmitten der Ehrengäste auf dem hartkantigen Brett der flüchtig gezimmerten Holzbank, das alle Sitzbewegungen auf der ganzen Länge getreulich anzeigte, doch er hätte jeden Vorzug, das wohltätige Angebot eines Kissens etwa, weit von sich gewiesen. Dies war ein Volksfest, ein Fest von gleichberechtigten freien Schweizer Bürgern, und es stand keinem an, auch einem Nationalrat nicht, bequemer und weicher zu sitzen als andere. Er hatte schon Dutzende solcher Feste miterlebt und fühlte sich innig angesprochen von der besonderen Luft, die ihn hier wieder umgab. Diese langhalsigen Flaschen roter und weißer Ehrenweine, die er gleich bei der Ankunft mit scherzhaft bedenklicher Miene gemustert hatte, die muntern Gesichter seiner Tischgenossen, die ihre Hochachtung vor ihm in die heiterste Laune zu kleiden wußten, diese strammen Ehrenjungfern, die vielen Wimpel und Schweizerwappen, die stattliche Reihe der ausgehängten Vereinsfahnen, das festliche Getöse ringsum und endlich die Begrüßungsansprache des Festpräsidenten erfüllten ihn mit einem stolzen Behagen. Als seine Rede fällig war, begab er sich auf die Bühne und schritt sogleich stramm zur Rampe.
Lauter Beifall empfing ihn. Er stand nun dort, den linken Fuß leicht vorgesetzt, das Haupt erhoben, eine weiße Rosette am Rockaufschlag, und wartete gespannt ein paar Sekunden, bis sich das brausende Leben zu seinen Füßen beruhigte, dann schleuderte er mit zwei energischen Kopfbewegungen seinen wohlbedachten Anruf über die Menge hin: «Schweizerschützen! Eidgenossen!» Wer diesem festen Mann etwa einen machtvoll schallenden Ton zugetraut hatte, sah sich jetzt getäuscht, seine Stimme, angenehm klar im Alltagsleben, klang unerwartet hochgeschraubt, fast schneidend, und etwas dünn im Verhältnis zur Anstrengung, obwohl sie durchdrang.
Ammann drückte in einer kurzen Einleitung seine «Freude und hohe Genugtuung» aus, als Bürger dieser Gemeinde zu den «von nah und fern herbeigeeilten Schützen und Schützenfreunden» sprechen zu dürfen, dann kam er zum Thema: «Ich hatte kürzlich zum zweitenmal Gelegenheit, die Schweizerische Landesausstellung in Bern zu besuchen. Ich habe sie mir gründlich angesehen, und sie hat mich mit einem Stolz auf Schweizer Art und Arbeit erfüllt, wie ich ihn noch selten so stark empfunden habe. Tausende von Besuchern haben dasselbe erlebt. Aus allen Gauen unseres lieben Schweizerlandes liegen dort die Zeugnisse beisammen, was unser Volk geleistet hat und zu leisten imstande ist. Wir dürfen heute ruhig behaupten, daß unser kleines Land auf keinem Gebiete mehr hinter unsern großen Nachbarländern zurücksteht. Am ungeheueren Aufschwung der zivilisierten Welt in den letzten dreißig Jahren haben auch wir mitgearbeitet, und wenn wir heute den Triumph des Fortschritts erleben, so dürfen wir bei aller Bescheidenheit uns auch ein wenig darin sonnen.»
«Bravo! Bravo!» tönte es da und dort aus der Menge, nicht sehr laut, aber ehrlich überzeugt. Paul hob verzweifelt die Augen, Fred lächelte nachsichtig, Onkel Robert nickte seinem Bruder zu, und Christian aß mit aufmerksamer Miene ruhig weiter.
«Allein, liebe Schützen, angesichts jener imposanten Schau habe ich mich auch nach ihren Voraussetzungen befragt», fuhr Ammann angeregt fort. «Nicht nur der Fleiß und die Kunstfertigkeit unseres Volkes waren dazu notwendig, sondern vor allem ein geordnetes, kraftvolles Staatswesen. Nur in einem solchen Staatswesen kann sich die Tüchtigkeit des Volkes entfalten, und nur ein kraftvoller Staat kann nach außen und nach innen die Freiheit und den Frieden garantieren. Diese Garantie mußte gleichzeitig mit dem kulturellen Aufschwung neu geschaffen werden. Sie ist geschaffen worden, und zwar, Schweizer Schützen, mit eurer Hilfe und aus eurem wehrhaften Geist heraus. Sie ist geschaffen worden mit unserer Armee.»
Weit verbreiteter, gedämpfter Beifall unterbrach hier den Redner, der indes mit einiger Ungeduld ein anderes Ziel anzusteuern schien und sogleich fortfuhr: «Wenn wir uns also heute rühmen dürfen, in jeder Beziehung auf der Höhe der europäischen Kultur zu stehen, so wollen wir nie vergessen, was uns dazu verholfen hat. Es ist sowohl der Geist und die Tüchtigkeit des Volkes, wie die Ordnung und Kraft des Staates, es ist, mit einem Wort – das Vaterland! Vaterland! Ein Wort nur, aber dies Wort drückt eine Welt aus. Was wir soeben damit bezeichneten, erschöpft den Gehalt dieses Wortes nicht. Es spricht nicht nur zu unserem Verstande, es spricht zu unserem Herzen, es spricht zu unserem Wesen, und es enthält unsere ganze ehrwürdige Vergangenheit. Seit jenen glorreichen Tagen, da unsere Vorahnen bei Morgarten, bei Laupen, bei Sempach Gut und Blut einsetzten und uns damit ein Beispiel gaben, das noch heute unsere Herzen höher schlagen läßt …»
Jetzt hatte Ammann den vaterländischen Geist im Segel, jenen Geist, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts als junger, frischer Wind dem alten Bunde neues Leben einblies, und er fuhr auf dem breiten Strom der Rede durch das Land, als ob es noch immer das gelobte Land wäre. Endlich aber kam er im Anschluß an eine Bemerkung über den Untergang der alten Eidgenossenschaft auf die gegenwärtige Weltlage zu sprechen: «Auch heute wieder ziehen drohende Gewitterwolken über Europa herauf. Österreich hat Serbien den Krieg erklärt, Rußland droht einzugreifen, eine ungeheuere Spannung bemächtigt sich aller Völker. Wir wissen noch nicht, was Deutschland, was Frankreich und Italien tun werden, wir wissen nicht, ob der Krieg auf den Osten beschränkt bleiben oder auch an unsern Grenzen entbrennen wird. Immerhin ist heute noch kein Grund vorhanden, den Kopf zu verlieren. Die Aussichten auf Erhaltung des Friedens bestehen fort. Ich hatte noch gestern Gelegenheit, mit maßgebenden Kreisen in Bern Fühlung zu nehmen, und ich habe den bestimmten Eindruck gewonnen, daß man dort zuversichtlich an eine friedliche Wendung der Dinge glaubt. Trotzdem hat der Bundesrat die notwendigen Vorkehrungen getroffen, um im Ernstfall bereit zu sein. Er erwartet, daß auch das Volk bereit sei und treu zu ihm stehe, und zwar das ganze Volk. Die Interessen des einzelnen und die sozialen Gegensätze haben sich in Zeiten der Not den Interessen der Gesamtheit unterzuordnen. Nur wenn ein einiges Volk ruhig und entschlossen hinter dem Bundesrat steht, nur dann werden wir der Gefahr gewachsen sein, und nur dann werden wir unserem alten Wahrzeichen die Treue halten, dem weißen Kreuz im roten Feld.»
Diese besonders wuchtig vorgebrachten Worte lösten den stärksten Beifall aus. Der Redner schwieg einen Augenblick, dann setzte er mit einem etwas breiteren, schwingenden Tonfall zum Finale an: «Hundert Jahre sind verflossen, seit das gesamte Europa von Kriegswirren zerrüttet wurde. In diesen hundert Jahren ist eine unerhörte Entwicklung vor sich gegangen. Die Segnungen der Kultur und des Fortschritts sind bis in die letzten Winkel eingedrungen. Auch ein Krieg wird sie nie mehr daraus verjagen. Der gewaltige Aufschwung der zivilisierten Welt, von dem wir am Anfang gesprochen haben, kann nicht rückgängig gemacht werden. Die Völker sind mündig geworden, und in einem Kriege wird nicht mehr das blinde Schicksal walten wie in historischen Zeiten, sondern der menschliche Wille! Eidgenossen! An uns vor allem ist es, im Ernstfall nicht nur unser Land zu schützen, sondern auch den Glauben an den Fortschritt der Menschheit zu hegen und unentwegt der kulturellen Errungenschaften eingedenk zu bleiben, auf daß unser Land mit reiner Stirn vor die Zukunft treten kann. ‹Schau vorwärts, Werner!› Dieser Spruch der Stauffacherin gilt heute mehr denn je. Ich fordere Sie auf, auf die Zukunft unseres Vaterlandes ein dreimal donnerndes Hoch auszubringen. Unser Vaterland, unser liebes Schweizerland, es lebe hoch!»
«Hoch! Hoch! Hoch!» dröhnte es durch den Hüttenraum. «Extra hoch!» schrie eine gellende junge Stimme, man wußte nicht, zum Spaß oder aus Begeisterung, während durch Händeklatschen und Bravorufe ein mächtig anschwellender Beifall entfesselt wurde.
Ammann stieg rasch von der Bühne herab und suchte zwischen Bekannten und Ehrengästen hindurch, die ihn beglückwünschten, seinen Platz zu gewinnen. Er hatte den Tisch noch nicht erreicht, als ihm mit strahlender Miene Stockmeier entgegentrat. «Herr Oberst, das ist eine großartige Rede gewesen», rief Stockmeier und bot ihm die Hand an, wobei er aus lauter Überzeugung die Finger spreizte, «eine ganz großartige Rede, das … also … das kann ich Ihnen sagen … so etwas …» Er begann vor Begeisterung zu stammeln, während Ammann seine Hand ergriff und ihm leutselig zunickte.
Da begann die Musik das Vaterlandslied zu spielen, das Stimmengetöse ordnete sich rasch zum Gesang, an allen Tischen erhoben sich die Menschen. Ammann tat keinen Schritt mehr. Wie auf ein Stichwort wandte er sich, wo er eben stand, dem Volke zu und stimmte kräftig ein, regungslos, mit gehobener Brust und gerundeten Lippen. Stockmeier folgte dem Beispiel sofort und stand nun neben dem Oberst wie ein Bruder von kleinerem Maß, aber vom selben Schnitt; die Anstrengung des Singens trübte seine begeisterte Miene ein wenig, seine Stirn zeigte Falten bis in die Glatze hinauf, und wenn er Atem holte, nahm seine ganze bewegliche Gestalt daran teil. «Rufst du, mein Vaterland, / Sieh uns mit Herz und Hand / All dir geweiht!» sangen die beiden einträchtig schleppend mit dem Massenchor hinter der Musik her. Ammanns Augen wurden feucht vor Rührung.
Paul und Fred hatten sich ebenfalls erhoben. Paul stand da wie jemand, der auf freiem Felde, wo es keine Zuflucht gibt, von einem heftigen Platzregen überfallen wird und leicht geduckt mit einem nervösen Lächeln das Unvermeidliche über sich ergehen läßt. Fred stand dieser mächtig anschwellenden patriotischen Stimmung hilflos gegenüber. Obwohl er schon das Pathos der Rede peinlich gefunden hatte und nun diese Kundgebung für übertrieben hielt, war er gerührt, schämte sich aber dessen und wagte es nicht zu zeigen. Er schwieg zuerst, dann begann er unversehens mit einem spöttisch-trotzigen Ausdruck gröhlend mitzusingen und ließ sich am Ende des Liedes wie erschöpft auf die Bank zurückfallen, um plötzlich spaßhaft herausfordernd Paul anzublicken.
Paul, der diesem Benehmen nicht viel anderes entnehmen konnte, als daß dem Bruder ebenso zumute sei wie ihm, sagte mit schmerzlicher Miene und einer müde erledigenden Handbewegung leise: «Da hast du es! Höhepunkt des nationalen Lebens! Es ist einfach unmöglich.»
Fred schwieg.
«Dieses nationale Leben», fuhr Paul nach einer Weile fort, «hat ja seinen Sättigungsgrad schon längst erreicht, und was davon zwangsläufig immer wieder zum Vorschein kommt, ist so schal und abgestanden, daß kein geistig lebendiger Mensch mehr ohne Selbstverleugnung daran teilnehmen kann – womit noch gar nichts gegen das Vaterland gesagt ist. Übrigens …» fügte er noch leiser hinzu, «dieses Vaterland, das ist das Land des Vaters, verstehst du?»
«Ja … wenn er nur etwas weniger davon schwatzte!» entgegnete Fred.
«Mein Lieber, das gehört zu ihm, das ist einer seiner fragwürdigen Züge. Von Natur aus ist er ein harmloser, gutmütiger Kerl, nicht wahr, ziemlich intelligent, sogar ehrlich … meinetwegen auch tüchtig. Aber er ist bestimmt nicht dazu geschaffen, vor dem Volk pathetische Reden zu halten. Nichts ist lächerlicher, als wenn so ein gut genährter, biederer Bürger pathetisch wird. Pathos, starrer Ernst, finstere Entschlossenheit … mein Gott, das alles ist doch heute nicht mehr erträglich. Es ist ganz einfach falsch, es entspricht der wirklichen Lage nicht …»
Fred war damit einverstanden, aber er schwieg nun beharrlich.
Paul sprach mit einem wachen, gespannten Ausdruck leise weiter. Nachdem er sich aus seiner müden Gleichgültigkeit nun einmal aufgerafft hatte und die ihm versagte Umwelt wenigstens zu erkennen suchte, bedrängte ihn eine Fülle von ketzerischen Einsichten. «Und was hat Papa mit dem Heldenzeitalter zu tun?» fragte er. «Gar nichts, das ist klar. Dennoch beruft er sich darauf, ja er prunkt damit, als ob er daran teilgenommen hätte. Oder etwas besonders Interessantes: Wie kommt er dazu, militärisch Karriere zu machen? Er ist seinem ganzen Wesen nach ein ausgesprochener Zivilist. Dennoch wird er Brigadekommandant! Bei alledem stimmt etwas nicht, mein Lieber … bei ihm so wenig wie bei seinesgleichen … und es gibt in unserm Bürgertum viele seinesgleichen. In dieser oft kaum wahrnehmbaren, oft kraß zutage tretenden Unstimmigkeit zwischen ihrem Wesen und ihrer Erscheinung beruht ihre persönliche Fragwürdigkeit. Sie sind nicht echt, im Gegensatz zu Naturen wie Hartmann und Onkel Robert. Aber das ist nur ihre persönliche Problematik, verstehst du, es gibt auch eine allgemeine, an der sie alle teilhaben, eine bekannte übrigens, die nicht ich entdeckt habe. Nämlich … die bürgerliche Welt, und zwar nicht nur die schweizerische, ist heute eine unverschämt selbstsüchtige, materialistische, ungeistige Welt, und es ist lächerlich, es ist widersinnig, wenn sich ihre Träger als Idealisten gebärden. Daß viele es gar nicht merken, wie zum Beispiel Papa, das gehört auch zu ihnen …»
In diesem Augenblick betrat ein Mann mit einem Papier in der Hand die Bühne und blickte geschäftig umher, worauf ein helles Trompetensignal den dumpf brausenden Hüttenlärm durchstieß. Paul achtete nicht darauf, er fuhr eindringlich fort: «Diesen Mangel an Selbsterkenntnis, an Einsicht in die wirklichen Zustände, diese Ungeistigkeit, Selbstsicherheit und Sattheit, diesen blinden und dummen Glauben an den Fortschritt haben sie mehr oder weniger gemeinsam …»
«Jaja … hör auf, du!» unterbrach ihn Fred im abflauenden Lärm. Paul verstummte.
Der Mann auf der Bühne, der Präsident des Schießkomitees, räusperte sich und rief: «Ich gebe Ihnen hier noch die kantonalen Meisterschützen vom Anfang dieser Woche bekannt. Die Meisterschaft mit sechsundzwanzig Nummern hat errungen Fenner Adolf, Oberstleutnant. Es ist dies das höchste Resultat, das bis jetzt …» Diese letzten Worte wurden vom kräftig einsetzenden Beifall übertönt, man sah nur noch, wie der Mann den Mund bewegte, verstand aber nichts mehr. Die Musik blies einen Tusch, die Gäste wandten sich suchend nach dem Meisterschützen um, und Ammann erhob sich, in der Absicht, seinem Regimentsführer die Hand zu drücken; aber Fenner war nicht da. Inzwischen entstand rings um Christian eine gewisse Aufregung, Fred verhieß dem Vetter einen ohrenbetäubenden Beifall, Vater Robert stieß erwartungsvoll grunzende Laute aus, und vom Tisch der Ehrengäste blickte Lisi, den Hals reckend, mit bedeutsam lachender Miene neugierig zu ihrem Bruder hinüber.
Der Mann auf der Bühne öffnete den Mund wieder und gab sich Mühe, den Lärm zu durchdringen: «Die Meisterschaft mit fünfundzwanzig Nummern … ich bitte um Ruhe … die Meisterschaft mit fünfundzwanzig Nummern hat errungen Ammann Christian, Landwirt, Rusgrund.»
Fred blickte den Vetter begeistert an und schrie, die Rechte emporschleudernd, mit solcher Kraft, daß trotz dem dröhnenden Beifall in der ganzen Hütte und dem Tusch der Musik die allgemeine Aufmerksamkeit auf diesen Tisch gelenkt wurde, wo die Gäste sich erhoben, um mit dem glücklich schmunzelnden Schützen anzustoßen. Aber Christian hatte sich kaum recht erhoben, als ihn drei kräftige Burschen von hinten an den Schenkeln packten und in die Höhe hoben. Er protestierte mit ernstlichem Ärger und wehrte sich, doch die Burschen, Kameraden aus seinem Schützenverein, machten sich mit ihm unnachgiebig auf den Weg durch die Hütte. Der junge Meisterschütze schämte sich dieser Schaustellung, aber das ganze Festvolk jubelte ihm zu.
Die meisten Schützen verließen jetzt die Hütte, ein Kanonenschuß zeigte das Ende der Mittagspause an und gleich darauf begann im nahen Schießstand wieder das gewohnte regelmäßige Knattern. Paul und Fred schlenderten auf den Festplatz hinaus.
«Ein tüchtiger Kerl, der Christian!» sagte Fred. «Ich hab’ ihn gern … er imponiert mir … Wenn du übrigens am Montag mit mir im Schießstand gewesen wärest … da geht’s denn doch etwas anders zu als hier in der Hütte. Überhaupt … du magst ja in vielen Dingen recht haben, aber … es gibt doch noch andere Leute als du meinst, und … was du vom Schützenfest zu sehen bekommst, ist nur die Kehrseite … ich meine …» Fred besaß die Gabe nicht, sich so rasch und genau auszudrücken wie Paul, er stockte häufig, umschrieb manches und brach oft plötzlich ab, ohne alles gesagt zu haben, aber jetzt war ihm daran gelegen, dem Bruder auch seine Erfahrungen mitzuteilen. Er führte aus, daß der äußere Rummel der geselligen Veranstaltungen, des Hüttenlebens, der Budenstadt und des dekorativen Aufwands in keinem wesentlichen Zusammenhang mit dem Schießen selber stehe, und daß neunzig von hundert Schützen ohne großes Bedauern darauf verzichten würden, wie sie ja das Fest denn auch gar nicht nach der äußern Aufmachung, sondern nach dem Plan und der schießtechnischen Organisation beurteilten. Das Schießen möge ja wohl auch ein Vergnügen sein und oft sogar ein Spiel um Geld, aber es sei in der allgemeinen Wehrpflicht verankert, die zu belächeln man gerade jetzt kein Recht habe, und es bringe gewisse eigenartige Vorzüge des Volkes zum Ausdruck. Das Gespött der kultivierten Kreise könne deshalb weniger die zu einem Wettkampf antretenden Schützen treffen, als vielmehr ein paar vorlaute Patrioten, ein paar geschäftstüchtige oder rummelfreudige Unternehmer und das bummelnde Publikum.