Kitabı oku: «Schweizerspiegel», sayfa 12
Er stand auf, trat gleichmütig zurück und löste eine zweite Marke für die Kehrscheibe. Nach einer halben Stunde lag er wieder auf der Matratze und traf in zehn Schüssen viermal die Nummer, dann vertauschte er den eingehegten kleinen Platz mit einem andern im rechten Flügel, vor den Stichscheiben, und meldete dem Warner mit mürrischer Miene: «Kunst». Fred schoß die «Kunst», der Einsatz betrug sieben Franken, sechzig Prozent der hier konkurrierenden Schützen erhielten Prämien von hundert Franken an abwärts bis zu vier Franken, und als Auszeichnung winkte der Lorbeerkranz. Er schoß, als ob er von frühester Jugend an nichts anderes getan hätte, zuerst die «Kunst» und gleich darauf das «Glück», aber seine entschlossene Haltung half ihm wenig, es gab hier nichts zu erlisten, ja es gab auf der Stufe seines Könnens nicht einmal Glück; das geringste Versagen der Hand, des Auges, die leiseste Erlahmung des Willens kamen im Ergebnis unweigerlich an den Tag; das Schießen war die genaueste Selbstprüfung, hier ging es so nüchtern und unbestechlich zu, wie man es von einer nationalen Angelegenheit nur wünschen mochte. Fred hatte in der «Kunst» einen guten, zwei mäßige und zwei schlechte Treffer, er zählte sie nicht einmal zusammen, es konnte nichts dabei herauskommen; auch das «Glück» war ihm mißlungen.
Er gab das Gewehr zurück und fühlte sich schon versucht, dieser ganzen Schießerei den Rücken zu kehren und seiner Wege zu gehen, als er Christian traf, der ihn auf ungewohnt anteilnehmende, fast besorgte Art fragte, wie es ihm nun ergangen sei.
«Ach …», antwortete Fred grämlich, «alls verluegt, verzoge, verzitteret und vercheibet!» Aber sogleich begann er über seine eigenen Ausdrücke zu lachen, winkte mit der Rechten ab und erkundigte sich nach Christians Ergebnissen.
«Ja, meine erste Serie ist auch verpfuscht», sagte Christian leichthin und schlug vor, nun zum Mittagessen in die Festhütte zu gehen. Gleich darauf dröhnte denn auch in der Nähe als Signal zur Mittagspause ein Kanonenschuß, die Scheiben wurden eingezogen, Schützen und Warnerknaben verließen den Stand, und draußen auf der leuchtend grünen Wiese erschien der geschlossene Zug der Zeiger in ihren roten Blusen und Mützen.
Erst in der Hütte erfuhr Fred nach einigem Drängen, daß sein Vetter die erste Serie immerhin mit neunzehn Nummern beendet, die zweite aber stehend mit sieben und kniend mit neun Nummern so hoffnungsvoll wie nur möglich begonnen hatte. Neidlos bewundernd las er die im Büchlein eingestempelten Treffer, seine Anteilnahme wuchs wieder, und nachdem er auf Christians Verlangen den Hergang der eigenen Bemühung genau erzählt hatte, erschien ihm seine Niederlage nur noch als verdiente und lehrreiche Erfahrung.
Nach der Mittagspause entdeckte Fred im linken Flügel des Standes den Oberstleutnant Fenner, Christians Regimentskommandanten, der kniend schoß.
«Fenner!» bestätigte Christian. «Er hat stehend die Meisterschaft mit acht Nummern angefangen, jetzt, kniend, ist er bei der fünften Nummer.»
Fenner trug einen dunklen, stark benutzten Anzug, einen alten schwarzen Hut und grobe Schuhe. Nichts an seinem Äußern verriet den Offizier, er trat auch im zivilen Leben mit jener Einfachheit auf, deren hartnäckige Betonung unter den Offizieren der Ammannschen Brigade ein gewisses vergnügtes Aufsehen hervorzurufen pflegte. Jetzt kniete er dort und zielte. Er schien das Gewehr nicht einfach so erhoben, sondern wütend angepackt zu haben, er hielt es wie in einem Schraubstock fest, die behaarte Rechte am Kolbenhals, die linke am Magazin, den Rücken gewölbt, die Schultern eingezogen, in einer offensichtlichen äußersten Anspannung, als ob er nicht nur mit dem Auge, sondern mit dem ganzen Körper zielte und mit aller Kraft sich selber abzuschnellen gedächte. Fred sah ihn von rechts, seine regungslose, zornig wirkende Braue, den hervortretenden gebräunten Backenknochen, die unordentlich an den Daumen gedrückte Schnurrbarthälfte, die sich zu sträuben schien, diese ganze, zur Unbeweglichkeit gezwungene, geduckt lauernde Gestalt, und er preßte unwillkürlich die Zähne zusammen. Der Schuß fiel, Fenner entspannte sich gelassen, legte eine neue Patrone ins Magazin und blickte auf die Scheibe, wo eine Nummer gezeigt wurde, dann begann er mit derselben gespannten Kraft und Sammlung wieder zu zielen.
Links von ihm hatte ein dunkelhaariger, schmächtiger Bursche den «Schnellstich» begonnen, der mit acht Schüssen auf eine Minute beschränkt war. Nach jedem Schuß riß er, ohne das Gewehr aus dem Anschlag zu nehmen, in der höchsten Eile den Verschluß zurück, um ihn ebenso eilig wieder einzustoßen, und während die ausgeworfene Hülse noch wegflog, zielte er schon wieder. An seiner Seite stand ein Mitglied des Schießkomitees mit der Uhr in der Hand.
Fred wunderte sich, was dabei herauskommen werde, ging mit Christian hinüber und betrachtete bald diesen eiligen Burschen, bald den Oberstleutnant, den das Schnellfeuer in seiner Nähe nicht im geringsten zu stören schien. Nach dem Ablauf der Minute wurde die Scheibe gewechselt, die Zeigerkelle erschien achtmal, und Fred stellte fest, daß ein einziger Schuß das Schwarze gefehlt hatte. «Weißt du», sagte er leise und nickte anerkennend, «es wird durchwegs doch verdammt gut geschossen. Wenn man sich eine Kompagnie oder auch nur einen Zug solcher Schützen im Gefecht vorstellt … da möchte ich nicht zum bösen Feind gehören.»
«Ja … das hier ist mehr oder weniger eine Auslese, aber … es gibt doch in jedem Zug eine Anzahl solcher Schützen», erwiderte Christian ernsthaft.
«Meinst du, daß in einem Kriegsfall etwas darauf ankäme? Es ist ja ein abscheulicher Gedanke, auf Menschen zu schießen, aber wenn man sich verteidigen müßte … ein Dutzend guter Schützen könnte doch eine ganze vorrückende Kompagnie erledigen.»
«Unbedingt! Man würde zwar vermutlich im Krieg nicht so ruhig schießen können wie hier und selber auch angepfiffen werden, aber in gewissen Fällen käme es doch wahrscheinlich auf die bessern und ruhigern Schützen an. Wenn wir früh genug mit genügend Leuten so an der Grenze lägen, in guten Deckungen und am rechten Ort, dann, glaub’ ich, würden wir keine Maus durchlassen.»
«Ja, das glaub’ ich nun wirklich auch! Allerdings … im Vergleich mit den Nachbarstaaten haben wir kein großartiges Heer …»
«Jaja, aber die würden auch nicht fünfstöckig daherkommen. Sie könnten nicht mehr Leute einsetzen, als in einem Abschnitt Platz haben … und für unsere Grenzen hätten wir Mannen genug.»
«Ja, und sonst … he, du weißt doch, was der deutsche Kaiser vor zwei Jahren bei den Manövern hier für eine Antwort bekommen hat?»
Christian wußte es nicht, und Fred erzählte die Anekdote. Der Kaiser habe im Schützengraben einen schießenden Füsilier angesprochen und nebenbei bemerkt, die Schweizer seien ja freilich gute Schützen, aber im Kriegsfall werde ein Gegner mindestens mit einer doppelt so großen Anzahl aufrücken; was sie dann wohl tun würden? Der Füsilier habe geantwortet: «Dann würden wir zweimal schießen.»
Christian lachte kurz auf. «Jaja … hoffentlich kommt’s nicht dazu», sagte er und blickte gespannt nach der Scheibe, auf die Fenner in diesem Augenblick einen Schuß abgefeuert hatte. «Wieder eine Nummer!» rief er gedämpft, als die rote Kelle ins Schwarze flog, dann nickte er bedeutsam und schlenderte weg.
Fred wandte seine Aufmerksamkeit von neuem dem Oberstleutnant zu, der mit unveränderter Anspannung diesen Teil seiner Serie zu Ende schoß. Er begriff jetzt, daß hervorragende Resultate eine Zucht des Willens voraussetzten, von der sich Laien kaum eine Vorstellung machten, daß jeder einzelne Schuß dabei von entscheidender Wichtigkeit war und immer wieder denselben Aufwand von Kraft, Geduld und Selbstbeherrschung erforderte, einen Aufwand, den jedenfalls das tägliche Leben nur selten verlangte.
Sogleich nach dem zehnten Schuß stand Fenner auf, trat zum Warnerpult und blickte mit einer beiläufigen Kopfbewegung, doch mit drohender Miene, nach der Scheibe zurück, wo abermals die rote Kelle erschien, dann unterschrieb er sein ungewöhnliches Resultat von zehn Nummern. «Bravo! Bravo!» sagten die Schützen. Fenners hartes Gesicht trug einen Schimmer ironischer Zufriedenheit, doch er schien den Beifall kaum zu beachten und unter den Zuschauern keinen Bekannten zu besitzen, er musterte sie nur mit einem kurzen, beinah spöttischen Blick seiner nüchternen kleinen Augen, stellte das Gewehr schweigend in den Rechen und begann, die Arme verschränkt, die Rechte am linken Schnurrbartzipfel, die Schießenden zu beobachten, als ob nichts geschehen wäre.
«Herrgott, ist das ein trockener Patron!» dachte Fred. «Ein ungemütlicher Kerl! Aber im Kriegsfall, als Regimentskommandant … mit so einem wäre man auf jeden Fall nicht lackiert.»
Er bummelte durch den Stand und blieb neugierig bei einer Gruppe von Schützen stehen, in der ein untersetzter, fester Mann von strammer Haltung laut schimpfte und fluchte, während er mit dem Handrücken auf eine Seite seines Schießbüchleins klopfte; bei diesem Schuß, erklärte der Aufgeregte, sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, er habe ihn genau so abgegeben wie den vorhergehenden, und da werde ihm nun «so en Saucheib» gezeigt, den er gar nicht geschossen habe, das sei ihm denn doch noch nirgends passiert, er wisse auch, wann er gefehlt habe und wann nicht.
Fred ging lächelnd weiter. Er wußte wohl genug, daß es auch unter den Schützen Lärmer und Aufschneider gab, doch er machte den Fehler nun nicht mehr, ihrem lauten Wesen mehr Gewicht beizulegen als den Stillen und Bescheidenen, wie er denn überhaupt vom Schützenfest eine andere Ansicht gewonnen hatte.
Im rechten Flügel fiel ihm wieder eine kleine Ansammlung von Schützen auf, die einen Gewehrrechen belagerten, er trat hinzu und erkannte freudig aufgeregt seinen Vetter, der liegend mit vier Nummern den letzten Teil seiner Meisterserie begonnen hatte. Sogleich drängte er sich vor, bis er Christians ganze Rückseite bequem überblicken konnte, die gespreizten, fest an die Matte geschmiegten kräftigen Beine in den abgetragenen schwarzen Hosenröhren, die gestrickten grauen Socken, die darunter zum Vorschein kamen, die schweren Schuhe, den tanngrünen, an den Schultern straff gespannten Jagdrock, den von dunkelblondem, leicht gekräuseltem Haare dicht bewachsenen runden Kopf und die wulstigen kleinen Ohren.
Hinter dem angehenden jungen Meisterschützen häuften sich die Zuschauer, die nach jedem Nummerntreffer in gedämpftem Ton anerkennende Bemerkungen tauschten oder einander bedeutsam anblickten und gespannt auf den nächsten Schuß warteten.
Christian schoß ruhig und gleichmäßig in einer Art von hypnotischer Sammlung, die jeden Gedanken an seine Zuschauer, an die nahende Entscheidung oder die Bedeutung der Meisterschaft ausschloß und einzig darauf gerichtet war, den Schuß ohne Zielversehen sorgfältig abzudrücken. Nach der siebenten Nummer aber hörte er plötzlich, wie hinter ihm laut gefragt wurde «wieviel muß er noch?», wie ein paar nähere Stimmen antworteten «noch zwei!», und wie jemand unwillig in unterdrücktem Tone Ruhe verlangte. In diesem Augenblick erwachte er gleichsam und wußte, daß er im Begriffe war, die heißbegehrte kantonale Meisterschaft zu erringen, daß ihm nur noch zwei Nummern fehlten, und daß hinter seinem Rücken ein dichtgedrängter Haufe von Schützen stand, die ihm gespannt zuschauten. Er runzelte die Stirn und suchte diese Vorstellungen zu verscheuchen, aber sowie er wieder zu zielen begann, merkte er, daß er schon unruhig geworden war. Trotzdem zielte er nicht länger als sonst und gab den Schuß auch scheinbar richtig ab, blickte aber nicht mehr so gleichgültig wie bisher auf die Scheibe nach dem Resultat aus, sondern ängstlich, zweifelnd, erregt. Die weiße Kelle erschien, zum erstenmal nach sieben roten Kellen, und wirkte auf ihn wie ein Schlag in die Herzgegend; er hatte die Nummer gefehlt.
Die meisten Zuschauer warfen einander schweigend mit bedenklicher Miene kurze Blicke zu, jemand sagte «oha!», und nur wenige äußerten ein paar Worte; unter diesen wenigen war ein grauhaariger, griesgrämig blickender Mann, der seine Schadenfreude nicht verbergen konnte, eine überflüssige Bemerkung machte und dann mit offenem Mund und einem spöttisch zugekniffenen Auge lautlos vor sich hin lachte. Fred blickte ihn wütend an und verspürte eine grimmige Lust, ihm die Faust ins Gesicht zu hauen.
Indessen hatte Christian das Gewehr wieder angeschlagen, doch er wußte jetzt, daß ihm für die zwei fehlenden Nummern nur mehr zwei Patronen zur Verfügung standen und daß somit alles von diesen beiden letzten Schüssen abhing. Die Luft flimmerte ein wenig vor seinem zielenden Auge, und dies von der Sonne oder vom erhitzten Gewehrlauf herrührende Flimmern, das ihn bisher nicht ernstlich gestört hatte, verwischte ihm jetzt den Umriß des runden Schwarzen. Er schloß die Augen und wartete ein wenig, dann zielte er wieder und löste den Schuß; im selben Augenblick wußte er, daß beim Abdrücken das Korn um Haaresbreite zu weit rechts gestanden hatte. «Gefehlt!» dachte er erzürnt, entmutigt, riß den Verschluß zurück und wagte kaum nach der Scheibe hinzusehen. Da erschien doch die rote Kelle, nicht so entschieden auf die Mitte geworfen wie sonst, sondern vom Weißen her zögernd in den rechten Rand des Schwarzen hineinschleichend; die Nummer war knapp getroffen. «Donnerwetter, das ist gnädig abgelaufen!» dachte er, völlig aufgeheitert, und legte mit einem schüchternen, verwunderten Lächeln die letzte Patrone ins Magazin. Er war überzeugt, daß er die Nummer gefehlt hätte, ohne jenes Körnchen Glück, das auch der tüchtigste Schütze bei letzten Entscheidungen nicht entbehren möchte. Dies gab ihm seine Zuversicht zurück. Mit einer entschlossenen Bewegung zog er das Gewehr an die Schulter, rückte sich mit den Beinen in die bequemste Lage und schaute einen Augenblick ins Grüne hinaus, dann begann er zu zielen und verschob mit dem Zeigefinger den Abzug behutsam zum Druckpunkt.
Auf die Zuschauer hatte nach dem Fehlschuß der beinah noch einmal mißlungene Treffer eine gegenteilige Wirkung ausgeübt und die Spannung noch erhöht. Jeder dieser Schützen glaubte den Zustand zu kennen, in dem Christian sich jetzt befand, und wußte aus Erfahrung, daß beim geringsten Fieber gerade dieser entscheidende letzte Schuß am häufigsten mißlang. Sie drängten sich enger zusammen, die vordern wurden gegen den Gewehrrechen gepreßt und die hintern stellten sich auf die Zehen, während die nächsten mit unverwandtem Blick das anfängliche leise Schwanken der Laufmündung beobachteten, um daran den Fiebergrad des Schützen abzulesen, und festzustellen, ob im Augenblick der Schußabgabe das Korn gezittert, seitlich ausgeschlagen oder völlig geruht habe.
Fred, der eingeklemmt am Gewehrrechen stand, teilte nicht nur die allgemeine Spannung, sondern erlebte sie gesteigert auf eine intimere, persönlichere Art, ja er empfand sie fast eifersüchtig als sein Vorrecht und musterte bald diesen, bald jenen Drängenden mit einem verächtlichen Blick. Der Fehlschuß hatte ihn den Zuschauern gegenüber in eine gereizte Stimmung versetzt, während seine Anteilnahme an Christians Endkampf sich in das herzlichste Mitgefühl verwandelte. Er schaute dem Vetter zu, wie er nun das Gewehr zum letzten Schuß anschlug, und flehte die fehlende Nummer inständig herbei, ja er richtete diesen Wunsch mit gesammelter Kraft dermaßen eindringlich auf den Zielenden, als ob er ihn damit beeinflussen könnte. «Triff, Christian, triff!» dachte er angestrengt. «Du mußt die Nummer unbedingt treffen, du mußt, du mußt!»
In diesem Augenblick krachte der Schuß, zu früh für Freds Gefühl, und auch für die übrigen Zuschauer einigermaßen unerwartet, weil alle damit gerechnet hatten, Christian werde sich jetzt nicht übereilen, sondern das Zielen noch einmal unterbrechen. Fred hielt den Atem an und wartete mit beklemmender Angst und höchster Spannung auf das Erscheinen der Zeigerkelle. Rings um ihn herrschte eine lautlose Stille, in der sowohl er wie die übrigen Zuschauer das fortgesetzte Knattern der Schüsse nicht mehr zu hören schienen. Christian selber richtete sich halbwegs auf und blickte regungslos nach der Scheibe.
Die rote Kelle fuhr hoch und tauchte entschlossen ins Schwarze hinein, der Schuß saß mitten in der Nummer. Die Zuschauer brachen in dröhnende Bravorufe aus, die im ganzen Stand Aufsehen erregten. Viele Schützen eilten erst jetzt lächelnd oder fragend herbei, und ein paar Augenblicke schien überall das Gewehrfeuer zu stocken. Der lauteste Schreier war Fred, er schrie seine Bravos so ungehemmt hinaus, daß viele Schützen sich belustigt nach ihm umwandten.
Indessen war Christian aufgestanden und schrieb mit der kräftigen braunen Rechten, die ein wenig zitterte, ungeschickt seinen Namen unter das Resultat. Mit einem bescheidenen, glücklichen Lächeln trat er in den Stand zurück.
9
Die internationale Lage in den letzten Julitagen, wie sie von den Menschen unseres Kontinents empfunden wurde, wäre höchstens mit dem noch verhüllten Anbruch einer Naturkatastrophe von unvorstellbarem Ausmaß zu vergleichen, mit einer nie gesehenen Verdüsterung des Himmels und einem andauernden unterirdischen Donnern. Am Horizont zuckten die ersten Blitze, und es war zu befürchten, daß sich der geschwärzte Himmel in Feuern entladen und der grollende Erdteil wanken werde, aber noch fehlten sichere Anzeichen, und vor allem fehlte jede vernünftige Erklärung dieser furchtbaren Möglichkeit. Am 28. Juli wurde aus Wien gemeldet, daß in der Donaumonarchie der Kriegszustand eingetreten sei und ein Teil des Heeres gegen Serbien marschiere, am nächsten Tag erschien die Kriegserklärung, und wenige Stunden später erfuhr man die Mobilisation von Armeekorps in den angrenzenden Gebieten Rußlands; aus den übrigen Ländern aber stob ein Schwarm von Gerüchten und zweifelhaften Nachrichten auf, die nicht den geringsten Schluß erlaubten. Die Presse, die sonst jedes Wimperzucken einer Majestät und jedes neue Lüftchen in den internationalen Beziehungen eilig angezeigt hatte, war jetzt vom wirklichen Geschehen wie abgeschnitten, während die Minister, Botschafter, Diplomaten und verantwortlichen Männer aller Staaten kaum mehr Zeit zum Schlafe fanden und der länderverbindende Draht vom nahenden Strom der Ereignisse ununterbrochen fieberte.
Der schweizerische Bundesrat streckte wie jede andere Regierung alle möglichen Fühler aus, um von diesen Ereignissen nicht überrumpelt zu werden, und traf zugleich die ersten Vorbereitungen, um ihnen im Ernstfall begegnen zu können. Er stellte Verbindungen her mit den Führern der Armee und des Wirtschaftslebens, die ihrerseits wieder durch Besprechungen und Instruktionen das allfällig Notwendige vorbereiteten. Von einer dieser Besprechungen in Bern kehrte am Abend des 29. Juli der Brigadekommandant und Nationalrat Ammann nach Zürich zurück und begab sich in gehobener, ernster Stimmung sogleich nach Hause.
Als er die unterste Treppe betreten wollte, kam ihm von oben herab Stockmeier entgegen, worauf er abwartend auswich, um ihn vorbeizulassen. Sowie aber Stockmeier seinen Mieter erkannte, hielt auch er an. «Ah, Herr Oberst!» rief er, erfreut auflächelnd, und kehrte eilig über die paar Stufen zurück. «Bitte, bitte! Hahaha …» Einen Augenblick zögerten beide mit einladender Miene, obwohl sie bequem aneinander vorbeigekommen wären, dann stieg Ammann hinauf.
«Sie kommen aus der Bundeshauptstadt, Herr Oberst», sagte Stockmeier immer noch lächelnd, aber mit offener Neugier.
«Ja … man hat etwa da und dort eine Sitzung», antwortete Ammann gelassen und leichthin.
«Was sagt man nun eigentlich in Bern zur Lage?» fragte Stockmeier, wobei er seine Stimme dämpfte und mit ernstlich besorgter Miene ein wenig den Kopf vorstieß.
Ammann bewegte unbestimmt die Rechte.
«Es ist ja eine ganz unglaubliche Situation», fuhr Stockmeier mit emporgezogenen Brauen lebhaft fort. «In Bern wird man sich doch gewiß schwere Gedanken machen. So etwas ist ja überhaupt noch nicht dagewesen. Ich denke, der Bundesrat wird da … wird da auf der Hut sein müssen …» Während er dies und anderes ziemlich aufgeregt vorbrachte, blickte er Ammann mit einem ergebenen und zugleich fragenden Ausdruck eindringlich an, er warb geradezu um eine vertrauliche Mitteilung.
Ammann zog sich, während er antwortete, unmerklich zurück. Die Dinge, die ihn erfüllten, waren ihm zu wichtig, um sie kurzerhand diesem Mann und damit einer Stammtischrunde preiszugeben. «Man sieht auch in Bern noch nicht alles durch die schwarze Brille, aber äh …» Er nickte ernsthaft, während er bereits die nächste Treppe betrat. «… man sieht sich vor, selbstverständlich.»
«Das kann man sich doch denken, das kann man sich denken …»
«Ich persönlich bin der Ansicht, daß noch kein Grund zu einer ernstlichen Beunruhigung vorliegt …»
«So? So? Ja, nicht wahr … das wird sich ja sehr bald entscheiden. Aber man muß ja wirklich hoffen, daß es nicht zum Äußersten kommt … Eh, wie ist das, Herr Oberst, Sie halten doch morgen am Kantonalschützenfest die offizielle Rede, das ist doch morgen, nicht wahr?»
Ammann blieb auf der fünften Stufe noch einmal stehen. «Ja, das blüht mir auch noch, ich werde nicht darum herumkommen», erwiderte er spaßhaft betrübt und setzte den Fuß zögernd auf die nächste Stufe.
Stockmeier, der bei seinem kurzen Hals den Kopf nicht recht zurücklegen konnte, lehnte sich mit seiner ganzen rundlichen Gestalt breitspurig ein wenig nach hinten, um den langsam Hinaufsteigenden nicht aus den Augen zu verlieren, und rief, während sich auf seinem friedlich schlauen Gesichte wieder ein strahlendes Lächeln ausbreitete: «Das ist ganz in Ordnung, Herr Oberst, ganz in Ordnung! Wir werden ja auch dabei sein, nicht wahr, so etwas läßt man sich nicht entgehen, hahahaha.» Er schien jetzt, während er mit einer schwungvollen Bewegung den Hut von der Glatze hob, beinahe hintenüber zu fallen, dann eilte er, freundlich weiterlachend und ein paar Bemerkungen ausstoßend, die der Oberst schon nicht mehr verstehen konnte, plötzlich mit erstaunlicher Behendigkeit die Treppe hinab.
Ammann und seine Frau begrüßten sich auf ihre gewohnte Art mit jener zurückhaltenden, scheinbar spröden Freundlichkeit, die nicht auf einem Mangel an Zuneigung beruht, sondern im Gegenteil auf einem vollkommenen Einverständnis, auf einer unausgesprochenen Vertraulichkeit des Herzens, die keiner Beweise mehr bedarf. «Ich habe im Speisewagen etwas Weniges gegessen», erklärte er auf ihre Frage. «Wenn du nichts bereit hast …»
«Doch doch, ich hab’ alles warmgestellt, ich bring es gleich herein», erwiderte sie entschieden und eilte in die Küche.
Ammann musterte in seinem Büro flüchtig die während seiner Abwesenheit eingetroffenen Briefe und Drucksachen, dann zog er den langschößigen schwarzen Rock aus, schlüpfte in eine bequeme graue Hausjacke und ging zum gedeckten Tisch in die Wohnstube hinüber, wobei er sich kräftig räusperte, die Nase putzte, mit beiden Händen die Jacke zurechtrückte, mit dem Zeigefinger den Kragen lockerte, den dicken Hals hin und her bewegte und sich wippend in die Knie fallen ließ, kurz, alle jene kleinen Bewegungen machte, die zu seiner häuslichen Behaglichkeit notwendig waren.
Frau Barbara lehnte sich, sobald er zu essen begann, in seiner Nähe freundlich abwartend an den Heizkörper. Sie hatte die Entwicklung der Ereignisse in der Presse verfolgt und stand, wie jedermann, unter dem Eindruck des drohenden Unheils, aber sie begriff nicht, wieso dies alles nun scheinbar unabhängig vom menschlichen Willen vor sich gehen mußte, und war empört bei dem Gedanken, daß die Regierungen sich nicht unter allen Umständen zum Frieden bekennen wollten.
Ammann begann, ohne gefragt zu werden, indem er aufblickend nachdenklich nickte: «Eine dunkle Geschichte! Jeder Generalkonsul in Bern behauptet, daß sein Land nur gezwungen in den Krieg eintreten würde, aber … man hat das Gefühl, bei dieser allgemeinen Nervosität brauche es sehr wenig mehr. Der Bundesrat stellt sich jetzt allerdings zuversichtlich ein, und … ich glaube tatsächlich auch, es kommt nicht zum Äußersten … aber!?» Er hob die Rechte und hielt den Kopf schief, dann blickte er plötzlich mit einem forschenden Lächeln auf seine Frau und sagte in einem leisen, entschiedenen Tone: «Wenn’s in der Nachbarschaft losgehen sollte, dann wird bei uns sofort mobilisiert, soviel ist sicher.»
Frau Barbara unterbrach ihn nie, wenn er etwas zu erzählen begann, sie verriet ihre Meinung immer erst am Schluß und blickte ihn auch jetzt nur stumm abwartend an. Da surrte die Hausglocke. Ammann blickte fragend auf, während die Frau mit leicht betroffener Miene einen Augenblick verharrte und dann, unwillig über die Störung, hinauseilte.
Severin kam, er trat gelassen ein, begrüßte seinen Vater und setzte sich ihm sogleich gegenüber an den Tisch. «Etwas Neues aus Bern?» fragte er gleichgültig, als ob ihm nicht viel daran läge.
Ammann hatte beim Eintritt seines Ältesten eine ironisch abwartende Miene angenommen und gab jetzt eine ausweichende Antwort, während Frau Barbara plötzlich eine unwirsche Geschäftigkeit entfaltete und auf ihre harmlose Art beleidigt schien, daß sie nun nicht mehr allein und als erste die Neuigkeiten aus Bern erfahren sollte.
Severin wartete unter allgemeinen Redensarten über die Lage eine gemessene Frist, ohne die geringste Ungeduld zu verraten, auf irgendwelche Mitteilungen. Als diese Frist verstrichen war, nahm er an, daß Papa überhaupt nichts Wichtiges erfahren habe und nur in nebensächlichen Dingen nach Bern gereist sei. «Schön!» sagte er abschließend und gab damit zu verstehen, daß er nun zu seiner eigenen Angelegenheit übergehen werde. Er zog einen gelben Umschlag aus der Rocktasche, entnahm ihm ein Manuskript und legte es vor sich hin. «Da ist ein Artikel, über den ich deine Meinung hören möchte, bevor ich ihn abdrucke», begann er. «Ich hab’ ihn auf Umwegen bekommen. Der Verfasser ist ein ehemaliger Schweizer Offizier, der seit Jahren im Ausland lebt … Bitte, iß nur ruhig weiter, ich lese ihn vor, wenn du gestattest!» rief er, als Ammann, ein Stück Brot zerkauend, bereitwillig die Hand ausstreckte.
«Vor zwei Jahren», las Severin, «als der deutsche Kaiser die schweizerischen Manöver besuchte, erschien in einer französischen Zeitung eine wenig beachtete Notiz, die diesen Besuch mit heute wieder sehr aktuell gewordenen Dingen in Zusammenhang brachte …»
Ammann hörte zuerst gelassen zu, aber im Laufe der Vorlesung nahm sein Gesicht einen unwilligen Ausdruck an und seine Augen bekamen jenen starken dunklen Glanz, der über die gutmütig heitere Natur und schwerfällige Gestalt hinweg seine ursprüngliche Intelligenz und Willenskraft noch immer verriet.
Der Verfasser des Artikels behauptete, in den Plänen des deutschen Generalstabes für einen allfälligen Krieg mit Frankreich sei der Durchmarsch einer Armee durch die Schweiz vorgesehen. Der französische Generalstab habe dies erfahren, und man müsse damit rechnen, daß eine französische Armee zur Sicherung des rechten Flügels so früh wie möglich durch die Schweiz marschieren und das Rheinknie bei Basel besetzen werde. Jene Behauptung stützte er durch verschiedene, in Frankreich umlaufende Gerüchte und durch die Erwägung, daß die Deutschen bei einem Angriff auf den französisch-belgischen Festungsgürtel stärkere Widerstände erwarteten als beim Angriff durch die Schweiz, der ja überdies für den spätern Verlauf des Krieges ganz offenbare strategische Vorteile biete. Die Annahme, daß die Franzosen mit allen Mitteln versuchen würden, dies zu verhindern, liege deshalb auf der Hand.
«Und das willst du veröffentlichen?» fragte Ammann scharf, erhob sich und nahm Severin das Manuskript weg.
«Bitte sehr, ich habe gesagt, daß ich vorerst deine Meinung darüber hören möchte», erwiderte Severin vollkommen ruhig. «Im übrigen aber bin ich der Ansicht, daß die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, zu erfahren, in welche Lage wir unter Umständen geraten können.»
«Verdammter Blödsinn!» rief Ammann und blickte seinen Sohn zornig an. «Die Öffentlichkeit! Die Öffentlichkeit! Jetzt handelt es sich vor allem darum, das Volk zu beruhigen. Du hast offenbar keine Ahnung, was für eine Schweinerei entstehen kann, wenn die Leute den Kopf verlieren. Oder weißt du vielleicht, was für Beträge bereits in den letzten Tagen unsinnigerweise bei den Banken abgehoben worden sind und was im Ernstfall noch zu befürchten ist, welche Gefahren für die Lebensmittelversorgung entstehen könnten, was eine Panik für Wirkungen auf das Ausland haben müßte …? Überhaupt …» Er winkte ab und schritt erregt zu einer Fensternische.
«Du traust dem Volke ja sehr wenig zu», bemerkte Severin trocken. «Außerdem finde ich, daß gewisse offizielle Aufklärungen notwendig wären, wenn man solche Befürchtungen hegt. Man treibt aber in Bern offenbar Geheimniskrämerei …»
«Unsinn! Es ist doch ganz klar, daß man jetzt nicht alles an die große Glocke hängt. Im übrigen ist der Bundesrat weder blind noch taub, und was die augenblickliche Lage betrifft, so hat er durchaus noch keinen Anlaß, ins Feuerhorn zu blasen. Ich habe persönlich mit Hoffmann gesprochen, und ich kann nur sagen, daß in den offiziellen Kreisen auch jetzt noch eine optimistische Stimmung herrscht. Du wirst das morgen bitte als neueste Meldung bringen! Alles andere hat vorderhand keinen Sinn.»
«Ja … ich bin sehr bereit, bitte! Aber wir sind damit von der Sache abgekommen, nicht wahr. Du willst also, daß dieser Artikel nicht veröffentlicht wird. Schön! Es bleibt mir somit nichts anderes übrig, als ihn dir auszuhändigen. Ich habe das Original, das ich sofort zurückschicken werde, wohlweislich abschreiben lassen. Das hier ist die Abschrift. Ich möchte ausdrücklich bemerken, daß ich sie hiemit zu deiner Verfügung stelle. Ich meinerseits bin der Ansicht, daß diese Sache durchaus nicht aus der Luft gegriffen ist. Du wirst doch zugeben müssen, daß die Umgehung des Festungsgürtels den Deutschen enorme Vorteile bieten, und daß anderseits eine Besetzung des Rheinknies bei Basel für die Franzosen von höchster Wichtigkeit sein würde? Ob dies auf diplomatischem oder gewaltsamem Weg zustande käme und wie es mit dem internationalen Recht in Einklang zu bringen wäre, ist eine Frage für sich. Die militärische Möglichkeit besteht aber jedenfalls, das wirst du doch zugeben müssen?»