Kitabı oku: «Das Buch der Gaben», sayfa 14
„Ja, nachher“, sagte ich und reichte ihr den Ausdruck. „Lies mal!“
Janine überflog die Zeilen und bekam große Augen.
„Ist heute Neumond? Und heißt das ... ?“
„Ja“, nickte Tommy. „Genau das. Wir haben herausgefunden, dass eine Mondphase von Neumond zu Neumond geht. Und Joe hat probiert, an welchem Punkt die Phase ist, in der wir uns heute gerade befinden. Genau in ... “ er legte den Kopf schief und schaute auf meine Armbanduhr, „ ... zweieinhalb Stunden ist die Mondphase vorbei.“
„Wir müssen schon zurück?“, fragte Janine sichtlich enttäuscht.
„Wenn du noch einen Leberfleck oder ´ne Warze hast, wünsch sie lieber schnell weg!“, lachte ich.
„Nein, wir machen jetzt gar nichts mehr“, sagte Tommy, und der Klang seiner Stimme ließ uns aufhorchen. „Ich habe so das Gefühl, dass man uns nur eine kurze Zeit gelassen hat, um zu sehen, wie wir mit den Dingen umgehen. Es könnte sein, dass man uns beobachtet.“
Sanne sah unwillkürlich zur Tür.
„Du meinst, man kann uns sehen?“, fragte sie unsicher.
„Nein.“ Tommy blieb ernst, „Natürlich nicht direkt. Aber vielleicht werden wir an dem gemessen, was wir mit den Gaben getan haben, wenn wir zurückkommen.“
Eine Weile herrschte unbehagliches Schweigen. Ich dachte an meinen Streich mit Sanne und daran, dass ich einfach so aus Spaß durch die Wand gegangen war. Ich blickte auf die Sachen, die vor uns lagen und hatte ein schlechtes Gewissen.
„Meinst du, wir kriegen eine Strafe?“, fragte Sanne ängstlich.
Zu unserer großen Erleichterung schüttelte Tommy den Kopf.
„Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, was wir getan haben, war nicht so schlimm. Ich habe so das Gefühl, wenn wir uns Gold oder Reichtum gewünscht hätten ... “
Tommy ließ das Ende offen, und ich überlegte, dass ich über so was noch gar nicht nachgedacht hatte. Was sollte ich auch mit Geld oder einem Schatz? Ich hatte doch alles. Wenn ich mir was wünschen könnte, dann würde ich mir wünschen, dass Lazy so lange leben sollte wie ich. Ich wollte gar nicht daran denken, wie es mir gehen würde, wenn ich meinen kleinen faulen Hund nicht mehr hätte.
„Du meinst, es waren alles richtige Wünsche? Keine falschen?“, fragte Janine mit großen Augen.
„Ja, ich denke schon. Nur bei Joe wurde der Übermut ein wenig bestraft.“
Ich dachte an die heiße Holografie und wurde rot.
„Aber lass man“, beruhigte mich Tommy, „du hast sie ja dann wieder nehmen dürfen. Das war wie ein kleiner Klaps auf den Hintern. Jedenfalls haben wir nur noch wenig Zeit. Und ich finde, wir sollten die Sachen in Ruhe lassen und alles nachher wieder zurücklegen.“
„Du hast etwas vergessen“, sagte Sanne und deutete auf das Buch der Gaben. Tommy folgte Sannes Blick und schwieg. Wir sahen ihm an, wie unwohl er sich fühlte und wie er mit sich kämpfte.
„Es ist dein Buch“, hakte Sanne nach. „Du solltest Gedankenlesen können, und nun kannst du’s. Wenn du diese Gabe noch nutzen willst, dann musst du es jetzt tun. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“
Tommy antwortete nicht. Er nahm das Buch der Gaben aus unserer Mitte und schlug es auf. Dann las er leise die vielleicht vor Urzeiten geschriebenen Worte noch einmal vor. Als er geendet hatte, war es für lange Zeit still im Raum. Schließlich klappte Tommy das Buch wieder zu und legte es vorsichtig zurück. Wir anderen blickten ihn verständnislos an.
„Du willst es nicht mehr benutzen?“, fragte Janine leise.
„Nein.“ Tommy klang ruhig und bestimmt. „Ich glaube immer mehr, dass wir es nur auf Probe haben.“
„Auf Probe?“, entfuhr es mir. „Aber dann kriegen wir es vielleicht nie wieder!“
„Schon möglich“, sagte Tommy. „Dann haben wir die Probe eben nicht bestanden.“
„Wir sollen gar nichts mehr damit machen?“, fragte Janine enttäuscht und zeigte auf die auf dem Boden liegenden Sachen. Vielleicht hatte sie ja doch noch irgendeinen Leberfleck.
„Genau“, nickte Tommy. „Wir bringen sie zurück. Am besten gleich.“
Ich war nun auch etwas enttäuscht. Wir hatten so viele Gefahren überstanden und dafür so etwas Tolles erhalten. Und jetzt sollten wir es schon wieder zurückgeben? Das fand ich unfair.
„Aber eines musst du noch tun“. Janine nahm das Buch der Gaben auf und hielt es Tommy hin. „Nimm es und geh hoch zu deinem Vater ... ich meine, zu Jessie.“
Tommy rührte sich nicht. Seine Augen ruhten auf dem Buch, und wir saßen dabei und wussten vor Verlegenheit nicht, wohin wir gucken sollten. Dann endlich nahm er Janine das Buch aus der Hand. Doch zu unserer großen Verblüffung legte er es wieder zurück zu den anderen Sachen. Dann stand er langsam auf. Er machte uns ein Zeichen, dass wir sitzen bleiben sollten und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und hob in gespieltem Tadel den Zeigefinger.
„Wenn ich wiederkomme und es sind nur noch drei, dann gibt’s Ärger!“
Wir sahen auf die Wunschkugeln und lachten.
„Ich pass schon auf“, sagte ich. „Wenn sie sich was wünschen, greif ich mir die Dinger und geh durch die Wand.“
Als Tommy auf die Türklinke drückte, sagte Sanne leise „Viel Glück!“, und Tommy lächelte sie an. Dann verschwand er aus meinem Zimmer und ging nach oben.
Während er den vielleicht schwersten Gang seines Lebens antrat, blieben wir anderen drei auf meinem Teppich sitzen und redeten über dieses und jenes. Nur von Tommy sprach niemand. Aber ich wusste genau, dass wir alle in Gedanken bei ihm waren. Helfen konnten wir ihm nicht. Ich schwor mir, für immer sein Freund zu bleiben, egal, was jetzt auch immer da oben geschehen mochte.
Das Buch der Gaben lag klein und unbeachtet zwischen uns. Einen Vater konnte es nicht ersetzen.
Für immer
Um sieben Uhr war Tommy immer noch nicht zurück. Wir wurden langsam unruhig, und ich sah alle paar Sekunden auf die Uhr.
„Wir können nicht noch länger warten“, sagte Janine. „Wir haben nur noch gut vierzig Minuten. Einer von uns muss ihn holen.“
Ich klaubte die letzten Krümel Chips aus der Schüssel und spülte sie mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Ich vertraute Tommy. Wenn man sich auf irgendjemanden verlassen konnte, dann auf ihn. Doch dann sagte Sanne etwas, das mir doch zu denken gab.
„Er wird sich verquatscht haben. Vielleicht ist es das erste Mal, dass sie über ihre Beziehung reden. Ich wette, die vergessen die Zeit.“
Sie hatte Recht. Und mir fiel mir noch was ein. Tommy hatte keine Uhr! Nur Janine und ich hatten den ganzen Tag über eine getragen. Ich wusste gar nicht, ob Tommy überhaupt eine Armbanduhr besaß. Ich stand auf und klopfte mir die Krümel von der Hose.
„Gut. Ich geh hoch und hol ihn. Wir brauchen zwar nur zehn Minuten bis zu dem Grundstück, aber ich möchte nicht auf den letzten Drücker los.“
Gerade hatte ich ausgesprochen, da ging die Tür auf und Tommy kam herein. Überrascht blickten wir ihm entgegen. Ich hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn er vielleicht mit tränenüberströmtem Gesicht zurückkommen würde. Doch als ich ihn jetzt zur Tür hereinkommen sah, zerstoben alle diese Gedanken. Seine Augen strahlten, und seine ganze Haltung drückte Erleichterung aus. Ich hatte Tommy noch nie so glücklich gesehen. Wir wussten sofort, dass es gut gegangen war.
Tommy hatte etwas mitgebracht. Unter seinem Arm klemmte ein rahmenloses Bild. Ich konnte die überlappende Leinwand sehen, die auf der Rückseite mit Heftklammern festgetackert war. Tommy machte mit der anderen Hand die Tür zu und ging zu meinem Schreibtisch, um das Bild abzulegen. Jever begrüßte sein Herrchen überschwänglich und hopste im Zimmer herum. Sanne und Janine kamen auch vom Teppich hoch, und wir Drei standen etwas verlegen im Zimmer herum und wussten nicht genau, was wir jetzt tun sollten. Ich wollte ihn umarmen oder ihm auf die Schultern klopfen oder sonst irgendwas tun. Aber ich wusste nicht, ob es falsch oder richtig war. Tommy sah von einem zum anderen und lächelte.
„Was ist mit euch? Rieche ich schlecht?“
„Nein, nein“, sagte Sanne und druckste herum. „Hast du ... ich meine, bist du ... bist du okay?“
„Ja, ich bin okay“, erwiderte Tommy leise und warf einen Blick auf das Buch der Gaben. „Und ich habe es nicht gebraucht. Jessie ... mein Vater hat mir gesagt, was ich wissen wollte. Und noch viel mehr. Wisst ihr, was er mir geschenkt hat?“
Er hatte mein Vater gesagt! Janine, Sanne und ich sahen uns an. Wir verständigten uns wortlos. Ich trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und dachte, ich müsste irgendetwas sagen.
„Das freut mich für dich, Tommy“, bekam ich heraus.
„Uns auch“, sagten die Mädchen gleichzeitig.
„Danke“, kam es leise von Tommy. Doch dann blitzte es in seinen Augen auf, und er zeigte auf das Bild, das er mitgebracht hatte.
„Schaut mal, was er mir geschenkt hat.“
Neugierig gingen wir hinüber und betrachteten das Bild auf meinem Schreibtisch. Es war ein Landschaftsbild. Es war wunderschön gemalt, seine Farben waren so natürlich, dass ich es kaum glauben konnte.
„Das sieht aus wie ein Foto!“, rutschte es mir heraus.
„Ja, er kann toll malen“, sagte Tommy stolz. „Das ist ein Bild von Teneriffa. Er war noch nicht einmal auf der Insel, aber ich habe so viel erzählt, wie es da aussieht, dass er sich Fotos meiner Mutter geliehen und alles abgemalt hat.“
„Wahnsinn ... “, sagte Sanne.
„So schön ist es da?“ Janine fuhr leicht mit den Fingern über die Landschaft. Jessie hatte ein Bild vom Landesinneren gewählt. Im Vordergrund standen merkwürdig geformte Bäume und unzählige Büsche mit großen, bunten Blüten. Es gab Pflanzen, die ich von Italien her kannte, aber auch Bäume, deren Laub wie vertrocknet schien. Im Hintergrund des Bildes erhob sich ein riesiger Berg, dessen schneebedeckter Gipfel an einen Vulkankegel erinnerte.
„Einen schöneren Ort kenne ich nicht“, sagte Tommy versonnen. „Du musst nur die Touristengegend meiden. Die meisten gehen sowieso nur bis zum Liegestuhl oder zum Hotelstrand. Aber das war nicht das, was mein Vater wollte. Er hat in unserer kleinen Bucht immer auf die gewartet, die anders waren.“
„Und das hat Jessie für dich gemalt?“, fragte ich bewundernd.
„Ja. Das hat er. Das Bild hatte er schon lange fertig. Aber er hat sich nicht getraut, es mir zu geben. Und wisst ihr was?“, fragte Tommy mit leuchtenden Augen. Wir schüttelten den Kopf.
„Er hat es mir die ganze Zeit nicht gegeben, weil er dachte, es wäre nicht richtig. Er wollte nicht, dass ich denke, er will sich als Vaterersatz aufspielen.“
Tommy betrachtete zärtlich das Bild.
„Dabei ist es das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe.“
„Ihr mögt euch beide, und keiner hat es gesagt!“
Sanne hatte vollkommen Recht. Ich konnte das richtig gut nachempfinden. Man traut sich nicht, dem anderen die Wahrheit zu sagen, und dann wird die ganze Sache immer schlimmer. Tommy musste jetzt ein riesengroßer Stein vom Herzen gefallen sein. Dann, von einer Sekunde zur andern fiel mir siedendheiß ein, was wir heute noch tun mussten. Ich schaute auf die Uhr und bekam einen Heidenschreck.
„Zehn vor halb acht!“, rief ich. „Wir müssen los!“
Tommy riss sich von seinem Bild los und nickte entschlossen.
„Du hast Recht“, meinte er und ging in die Hocke, um das Buch der Gaben aufzuheben. „Wir müssen los. Was nutzt es auch, darüber nachzugrübeln. Hauptsache, wir sind rechtzeitig zurück.“
Sanne und Janine nahmen jede ihre verbliebenen beiden Wunschkugeln, ich steckte die Holografie in die Tasche, und Tommy schob sich das Buch der Gaben in den Hosenbund. Dann sahen wir uns an und fühlten, wie stark wir in der Gemeinschaft waren.
Ich ging noch kurz ins Wohnzimmer, um unseren Eltern Bescheid zu sagen, dass wir noch eine Runde mit den Hunden drehen wollten. Meine Mutter lächelte, und mein Vater wirkte richtig zufrieden. Ich freute mich, dass sie sich wegen Vatis Geheimnis nicht zu doll gestritten hatten. Dann rief ich nach Lazy und folgte den anderen auf die Straße.
*
Schon auf den letzten Metern spürten wir, dass etwas nicht stimmte. Ich kannte meine Straße so genau wie kaum ein anderer. Wie oft war ich mit Lazy schon hier entlanggegangen, um zum Hundeplatz im Wald zu kommen. Das Grundstück mit unserem verlassenen Haus war das Letzte auf der rechten Seite, und weil es weit größer war als die anderen, fiel es aus der Reihe. Das Abrisshaus hatte mich schon immer gereizt, und jedes Mal, wenn ich mit Lazy hier vorbeikam, schaute ich schon von weitem, ob vielleicht jemand eine Scheibe eingeworfen oder Graffiti gesprüht hatte. Doch niemals hatte sich jemand auf mein Grundstück gewagt. Aber jetzt war etwas geschehen.
„Es war doch da hinten, oder?“, fragte Janine, die zwar auch in der Gegend wohnte, aber sicher nicht so oft wie ich hier langgegangen war.
„Ja“, sagte ich. „Da hinten ist es. Aber es sieht anders aus.“ Ich wurde immer unsicherer. „Von hier habe ich das Haus immer schon sehen können. Und wo sind die Kastanien?“
Wir hatten es zwar eilig, aber gerannt waren wir nicht. Die Zeit hätte zweimal gereicht, bis zum Haus zu kommen. Ich hielt meine Holografie schon in der Hand. Tommy sagte nichts, und Sanne guckte immer abwechselnd nach vorn und zu mir. Wir kamen näher und näher, und das Grundstück wurde mir immer fremder. Ich fühlte, wie mir der Schweiß ausbrach.
„Vielleicht hat jemand das Haus gekauft und abgerissen“, meinte Janine.
„An einem Tag?“, fragte Tommy zweifelnd und schüttelte den Kopf. „Und dann die Bäume gleich noch mit gefällt? Nein, das schafft keine Firma der Welt.“
Jeder Schritt, den ich jetzt machte, fiel mir schwerer. Hatte sich das Haus womöglich aufgelöst? Und warum? Wieder dachte ich an meinen Streich mit der Holografie, und mir wurde ganz furchtbar schlecht. Hatten wir uns der Gaben unwürdig erwiesen?
„Das ist die Strafe!“, entfuhr es mir. „Wir kommen nie wieder rein!“
„Warte!“ Tommy ergriff meinen Arm. „Sieh doch nur!“
Jetzt waren wir ganz herangekommen, und was wir sahen, verschlug uns die Sprache. Wie in Zeitlupe gingen wir die letzten Meter und starrten stumm durch die Hecke. Mich überkam ein Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit. Das Haus war verschwunden! Wie sollten wir jetzt das Buch rechtzeitig an seinen Platz zurücklegen?
Doch es war noch mehr Unglaubliches geschehen. Das ganze Grundstück wirkte fremdartig. Irgendwie südländisch. Alles, was mir in den Jahren vertraut geworden war, gab es nicht mehr. Die großen Kastanienbäume, die wild wuchernden Brombeersträucher, all das Gestrüpp, das uns so behindert hatte, war weg. Gab es nicht mehr. Dafür standen dort jetzt riesige stachlige Pflanzen, die ich schon mal gesehen hatte. Der Name dieser graugrünen Gewächse lag mir auf der Zunge, wollte mir aber einfach nicht einfallen. Merkwürdige, ineinander verflochtene und reichlich krüpplige kurze Bäume wuchsen da, und ich sah noch etliche andere, die ich beim besten Willen nicht einordnen konnte. In der Mitte des Grundstücks wuchsen unzählige Büsche, die wunderschöne dicke und vielfarbene Blüten trugen. Ein fremdartiger Geruch wehte durch die Hecke zu uns herüber. Die Buchsbaumhecke, die das Grundstück eingrenzte, war das einzige, was noch so war wie vorher. Ich merkte, wie verkrampft ich die Holografie festhielt.
„Es ist weg!“ Ich konnte die Angst in Sannes Stimme hören. „Was machen wir denn jetzt? Joe, wie spät ist es? Joe! Wie spät ist es?“
Ich löste mich aus meiner Erstarrung und schaute auf die Uhr.
„Fünf nach halb acht.“
„Wir haben nur noch neun Minuten!“, rief Janine. „Tommy! Mach was! Sag doch was!”
Tommy stand bewegungslos da. Sein Blick wanderte über das Grundstück, und er schien alles, was er sah, in sich aufsaugen zu wollen. Er schien der einzige zu sein, der unendlich viel Zeit zu haben schien. Ich schaute in sein Gesicht und entdeckte nicht die Spur von Besorgnis. Ich konnte es nicht glauben und stieß ihn an.
„Tommy! Wach auf! Wir haben nicht einmal mehr neun Minuten! Wir müssen uns was einfallen lassen!“
Tommy sah mich kurz an und machte dann eine Geste in Richtung Garten.
„Fällt dir nichts auf?“
Und dann bedeutete er auch Sanne und Janine, sich das Grundstück noch einmal genauer anzusehen. Ich ließ die fremdartige Szene nochmal auf mich einwirken, war aber so ungeduldig, dass ich es nicht aushielt.
„Sieht aus wie in Italien“, sagte ich. „Aber was nützt uns das?“
Tommy sah mich glücklich an, und das warf mich um. Ich wurde wütend.
„Tommy, was zum Teufel ist mit dir los? Wir müssen in acht Minuten in der Kammer des Wissens sein, das Haus ist weg, hier sieht’s aus wie in Italien und da lachst du noch?“
„Ich weiß, wie spät es ist.“ Tommy war anscheinend durch nichts aus der Ruhe zu bringen. „Seht noch mal hin. Das sieht nicht nur aus wie in Italien, sondern auch wie in Spanien.“ Und dann lächelte er verschmitzt. „Und wie auf Teneriffa! Ihr scheint euch das Bild von Jess... meines Vaters nicht richtig angesehen zu haben.“
Völlig verdattert guckten wir wieder auf das Grundstück. Und dann war es vollkommen klar. Was wir hier sahen, war ein Ausschnitt der Landschaft, die Jessie gemalt hatte! Jetzt wusste ich, wo ich die Pflanzen schon gesehen hatte. Alles war genauso wie auf dem Bild! Nur der riesige Berg fehlte, und der ging ja nun wahrlich nicht auf dieses kleine Grundstück mit drauf. Mir fiel der Kiefer runter.
„So sieht es auf Teneriffa aus?“
„Nicht überall“, sagte Tommy. „Aber da, wo wir gewohnt haben. Die meisten Pflanzen kommen nur in der trockenen Zone vor. Ihr müsst wissen, dass die Inseln im Atlantik fast alle durch Berge in Nord- und Südbereiche geteilt werden. Im Süden regnet es fast nie, aber im Norden wächst so gut wie alles. Und die hier ... “, er deutete auf die Pflanzen, deren Namen mir nicht mehr einfallen wollte, „ ... das sind Agaven. Die lieben trockenes Wetter.“
Agaven! Natürlich! Das waren die Dinger, die ich meinte.
„Das da drüben sind Balos“, fuhr Tommy fort. „Die nimmt man als Ziegenfutter, jedenfalls die Blätter. Und die komischen kleinen Bäume da, die so knorrige Stämme haben, die ineinander wachsen, das sind Tabaiba. Und die mit den schönen Blüten sind Hibiscus.“
Wir starrten ihn an.
„Ich weiß alles über diese Pflanzen. Es ist so, als wäre ich hier zu Hause.“
Janine fasste einen Entschluss.
„Wenn das so ist, sollten wir nicht länger warten. Wir brauchen einen Eingang in die andere Welt. Vielleicht findest du ihn. Kommt endlich!“
Sie nahm Tommy bei der Hand und zerrte ihn in Richtung Wald. Wir zögerten jetzt keine Sekunde mehr. Ich traute mich gar nicht, auf die Uhr zu sehen, sondern hastete hinter den anderen her. Würde die Zeit noch reichen?
Ohne Mühe fanden wir das Loch in der Hecke und krochen hindurch. Jever und Lazy wollten sich schon aufmachen, die aufregende Gegend zu erkunden, aber Tommy und ich hielten sie nah bei uns, damit wir alle zusammenblieben.
„Wonach sollen wir suchen?“, fragte Sanne.
„Ich weiß nicht“, sagte Tommy. „Vielleicht ist es das beste, wenn wir an der Stelle suchen, an der das Haus gestanden hat. Aber diesmal bleiben wir zusammen. Wenn jemand was sieht, egal was ... “
„ ... dann schrei ich!“, sagte Janine, und wir nickten entschlossen. Während wir uns zu der Stelle aufmachten, an der das Haus gestanden haben musste, hielt ich angestrengt Ausschau nach irgendetwas Besonderem. Wenn ich nur gewusst hätte, was ich damit meinte! Verzweifelt bemühte ich mich, ruhig zu bleiben. Wir hatten noch vier Minuten. Ich hatte doch auf die Uhr gesehen.
In der Mitte des Grundstücks wuchsen sehr viele der Hibiscussträucher und sandten einen betäubenden Geruch aus. Ich versuchte, mir die Abmessungen des Hauses vorzustellen und grenzte das Areal, auf das ich kam, mit den Blicken ein. Und dann entdeckte ich etwas, das hier nicht hergehörte.
„Ein Brunnen!“, schrie ich.
Die anderen zuckten zusammen und folgten meinem ausgestreckten Arm. Wir rannten die wenigen Meter zwischen den Büschen hindurch und blieben mit wild klopfenden Herzen an einem Brunnen stehen. Zweifellos handelte es sich um einen Brunnen, und zwar um einen sehr alten. Die runde Öffnung, die aus zwei Lagen dicker Steine gemauert war, ragte nur sehr wenig aus der Erde heraus. Atemlos blickten wir hinein.
Vielleicht in zwei Metern Tiefe konnten wir mit merkwürdigen Pflanzen bedecktes Wasser erkennen.
„Brunnenkresse“, kam es von Tommy. „Die kann man essen.“
„Tommy!“, sagte ich verzweifelt. „Wie kannst du jetzt ans Essen denken! Es ist doch vollkommen egal, was das für ein Zeug da unten ist. Aber was sollen wir denn bloß mit diesem blöden Brunnen anfangen?“
Tommy sah mich an, und seinen Mund umspielte ein Lächeln. Auf einmal ahnte ich, was auf uns zukommen sollte.
„Oh nein!“, entfuhr es mir.
„Oh doch!“, grinste Tommy. „Sieh doch mal genau hin!“
Wir beugten uns noch mal nach vorn, und jetzt sahen wir, was Tommy meinte. An der Innenwand des Brunnens waren rostige alte Eisenkrampen eingelassen. Sanne sah erst Janine an und dann mich.
„Ihr wollt doch nicht ... ?“
Ihr Blick flehte mich an, eine andere Lösung zu suchen. Aber ich hatte keine. Ich sah auf die Uhr.
„Noch anderthalb Minuten.“ Ich schaute auf das trübe, dunkelgrüne Wasser auf dem Boden des Brunnens und dann zu Tommy.
„Da kann man nicht hinein. Unter Wasser in einem Brunnen ... da sterbe ich!“
„Ich auch!“, flüsterte Janine. Und Sanne stand nur mit weit aufgerissenen Augen da und schaute von einem zum anderen.
Tommy zeigte auf meine Hand.
„Wirf sie in die Luft!“
Ich starrte auf meine Holografie und war wie gelähmt.
„Nun mach schon!“, drängte Tommy. „Wir haben höchstens noch eine Minute!“
Und dann tat ich es. Ich warf sie hoch und fing sie wieder auf.
Nichts geschah.
Angsterfüllt und hilflos sah ich Tommy an.
„Du musst was sagen!“, rief er ungeduldig. „Ich will da rein oder sonst was! Nur sag was!“
Also warf ich die Kugel noch mal hoch und rief: „Ich will in das Haus! Ich will in das Haus!“
Mitten im Flug verharrte die Kugel. Vor Anspannung vergaß ich, meine Hand wieder zurückzuziehen und verfolgte wie die anderen die Holografie, die jetzt wieder hellgrün schimmerte und begann, sich zu drehen. Immer rasender wurde die Bewegung, und auf einmal flog die Kugel direkt über den Brunnen und senkte sich. Mit angehaltenem Atem verfolgten wir, wie sie durch die Öffnung hinabsank und dann kurz über der Wasseroberfläche verharrte.
„Das ist der Eingang!“, flüsterte Sanne. Unsere vier Köpfe hingen über dem Brunnenrand und beobachteten, was als nächstes geschehen würde. Dann, ohne Vorwarnung, senkte sich die Holografie mitten durch die Brunnenkresse und das Wasser und verschwand. Der Wasserspiegel kräuselte sich nicht im Geringsten.
Mein Herz setzte aus. Ich wusste, was jetzt kommen würde. Und ich wollte es nicht. Ich wollte das nicht um alles in der Welt. Doch Tommy sagte genau das, wovor ich mich so unendlich fürchtete.
„Joe, du musst hinterher! Los, mach schon!“
Ich bewegte mich nicht. Wir waren verloren. Die Zeit musste schon längst um sein. Wie von weiter Ferne hörte ich Janines Stimme.
„Noch vierzig Sekunden!“
Dann haute mir Tommy auf die Schulter und sagte etwas, das meine Erstarrung löste.
„Pass auf, das Wasser hat sich nicht ein bisschen bewegt. Der Brunnen ist nur eine Tür in die andere Welt. Wie die Hauswand oder der Verschlussstein. Du wirst sehen, du wirst nicht mal nass werden! Aber du musst da runter. Und zwar jetzt!“
Ich hatte keine Zeit mehr zum Überlegen oder Angst haben. Ich nahm Tommys Worte wahr und fand sie irgendwie logisch. Sie nahmen mir einen Teil meiner Angst, und dann dachte ich gar nichts mehr. Ich sah nur noch den Brunnen und seine Haltegriffe vor mir. Und ich wusste, ich musste jetzt gehen. Jetzt!
Wie in Trance schwang ich ein Bein über den Brunnenrand und setzte den rechten Fuß auf den obersten Griff. Dann war ich ganz im Brunnen und begann, Haltegriff für Haltegriff nach unten zu steigen. Im Unterbewusstsein vernahm ich Tommy, der den anderen irgendetwas zurief. Und ich merkte noch, wie der Nächste über mir in den Brunnen kletterte.
Ich blickte kurz nach unten, sah die mit Brunnenkresse übersäte Wasseroberfläche unter meinen Füßen und schloss die Augen. Ich durfte nicht mehr anhalten. Ich holte so tief Luft wie noch nie in meinem Leben und stieg weiter hinab. Ich dachte an nichts mehr und nahm einen Griff nach dem anderen. Irgendwann würde das Wasser über mir zusammenschlagen.
*
Mit einem Mal fühlte ich festen Boden unter den Füßen. Völlig verblüfft stellte ich beide Beine auf die Erde und testete die Festigkeit des Untergrunds. Ich hielt meine Augen nach wie vor krampfhaft geschlossen. Aber dann wurde mir klar, dass ich keinesfalls unter Wasser und nicht im Geringsten nass geworden war. Langsam ließ ich die Luft aus meinen Lungen. Meine Hände umklammerten immer noch einen der Haltegriffe, und plötzlich trat mir jemand auf die Finger.
„Auuu!“, schrie ich und ließ los. Vor Schreck hatte ich die Augen geöffnet und warmes, aber dunkles Glimmen umfing mich. Ich schaute nach oben und sah, wie ein Fuß in der Luft herumbaumelte. Das waren Sannes Schuhe!
„Komm weiter!“, rief ich. „Du bist gleich unten!“
Ich schaute zu, wie sich Sanne die letzten Stufen vorsichtig hinuntertastete. Wie mir schien, dauerte es unendlich lange, und als sie dann ganz unten war, sah ich auch, warum das so war. Sie trug Lazy unter dem rechten Arm!
Mir wurde ganz anders. Ich hatte meinen Hund da oben vergessen! Das war mir noch nie passiert! Schnell nahm ich ihr Lazy ab.
„Mann, mit einer Hand da runter“, sagte Sanne schnaufend. „Das mach mir erstmal nach!“
„Tut mir Leid“, meinte ich entschuldigend. „Ich konnte einfach an nichts anderes mehr denken.“
„Ist schon gut. Das haben wir gesehen. Aber du hast es geschafft!“
Dann erschienen Janines Beine, und kurz darauf kam auch Tommy die Stufen herabgeklettert, Jever unter dem Arm.
Kaum hatte er den Griff losgelassen, flackerten überall um uns herum Fackeln auf. Voller Ehrfurcht sahen wir zu, wie sich eine nach der anderen entzündete und einen uns wohlbekannten Raum erleuchteten.
„Die Kammer des Wissens!“, flüsterte Janine.
„Ja“, sagte Tommy. „Wir haben es geschafft. Tolle Leistung, Joe!“
Ich fühlte Stolz, aber ich fühlte ihn für uns alle.
„Leg es zurück!“, rief Sanne ängstlich. „Die Zeit muss um sein!“
Es war keine Zeit mehr zum Diskutieren. Tommy zögerte keine Sekunde. Er holte das Buch der Gaben aus dem Hosenbund hervor, machte die wenigen Schritte bis in die Mitte der Kammer und legte es auf den Boden. Dann trat er zurück und stellte sich wieder zu uns.
„Hoffentlich war es noch rechtzeitig“, murmelte Janine.
Zuerst geschah gar nichts. Mit bangem Herzen standen wir nah an der Wand der Kammer und warteten darauf, dass etwas mit dem Buch passieren würde. Ich betrachtete die Hieroglyphen und fragte mich unwillkürlich, ob vielleicht wieder einige von ihnen aufglühen würden. Doch sie bewegten sich nur scheinbar im Licht der Fackeln. Und dann passierte das, worauf wir gewartet hatten. Rings um das Buch der Gaben leuchtete der Boden auf und ein rotglühender Kreis entstand!
Gebannt verfolgten wir das Schauspiel. Sekundenlang verstärkte sich das Glühen und wurde immer intensiver, bis ich die Augen zusammenkneifen musste. Dann gab es einen kleinen Blitz, und die Erscheinung war vorüber.
Das Buch der Gaben lag immer noch in der Mitte der Kammer.
„Es ist aufgeschlagen!“, flüsterte Janine.
Und tatsächlich. Das kleine Buch war aufgeschlagen. Mich erfasste eine unheimliche Spannung, aber ich wollte nicht den ersten Schritt tun. Er blieb Tommy überlassen. Langsam ging er vor und setzte sich neben das Buch.
„Kommt!“, sagte er und winkte uns zu. „Ich glaube, hier steht etwas Neues für uns.“
Wir platzten fast vor Spannung. Aufgeregt setzten wir uns neben Tommy und schauten auf die aufgeschlagenen Seiten. Tommy langte nach vorn, um das Buch an sich zu nehmen. Aber zu unserer größten Überraschung konnte er es nicht um einen Millimeter anheben. Nicht einmal eine der Seiten ließ sich bewegen. Tommys Hand fuhr wieder zurück.
„Es soll wohl hier bleiben“, sagte er ruhig.
„Kannst du lesen, was dort steht?“, fragte Sanne ungeduldig.
Tommy nickte. Und dann las er uns den Text vor, der für immer in unseren Köpfen verankert bleiben würde.