Kitabı oku: «Das Buch der Gaben», sayfa 9
„Es sind fünf ... “, flüsterte ich. „Genau fünf.“
Fünf Stück stachen aus der Menge der Schriftzeichen in dunklem, glimmenden Rot hervor.
„Mann!“, entfuhr es Tommy. „Diese Zeichen kenne ich ganz genau!“
„Was?“ Ich war platt.
„Ja, die kenne ich. Ich will euch ja nicht langweilen, aber ihr müsst wissen, dass Hieroglyphen über viele Jahrhunderte nicht entziffert werden konnten. Erst ein Franzose namens Champollion hat das geschafft. Ich meine, es war im Jahr 1822.“
„Lieber Freund, bitte sag doch einfach nur, was die Dinger bedeuten!“, seufzte ich.
„Das tue ich ja gleich. Aber ihr solltet schon wissen, wieso ich gerade diese Zeichen kenne. Die Bedeutung der anderen hier alle kenne ich nämlich ganz und gar nicht.“
Jetzt wuchs unsere Spannung.
„Dieser Franzose hatte auch ein bisschen Glück. Denn man fand eine Namenskartusche mit den damals bereits bekannten Namen von Kleopatra und Ptolemaios. Und diese beiden Namen waren auch in Hieroglyphen geschrieben. Daher hatte er zumindest die Buchstaben, die in den beiden Namen vorkamen. Die restlichen Buchstaben hat er dann mühsam rekonstruiert.“
„Ja, und?“ Sanne wurde ungeduldig.
„In dem Artikel, den ich darüber gelesen habe, war die Übersetzung anhand des Namens Ptolemaios dargestellt. Und da habe ich entdeckt, dass die Buchstaben meines eigenen Namens da drin steckten.“
Es dauerte ein Weilchen, aber dann fiel bei mir der Groschen.
„T, O, M und I ... Tommy! Was ist mit dem Ypsilon?“, fragte ich voll unbändiger Spannung.
„Hatten die alten Ägypter nicht. Na, und das mit Ptolemaios war schon ein Ding. Dadurch konnte ich meinen Namen in Hieroglyphen schreiben. Das habe ich mir natürlich leicht gemerkt.“
„Du meinst ... “, Janine sah ihn fassungslos an. „ ... du meinst, dass diese fünf Zeichen Tommy heißen?“
„Das meine ich nicht nur, das weiß ich. Sieh hier: Dieser kleine Buckel ist das T, der Vogel, der wie eine Taube mit gestutzten Flügeln aussieht, ist das O, der Falke bedeutet M und die beiden Federn stehen für das I. Ich hab das früher oft geübt. Denn wer weiß das schon, wie sich sein Name auf Hieroglyphisch schreibt?“
Tommy lächelte. Ich wusste nichts mehr dazu zu sagen. Ich wusste es jedenfalls nicht.
„Wie kann jemand aus dieser Welt deinen Namen wissen?“ Sanne zweifelte immer noch. „Und was soll es bringen, dass die Zeichen leuchten?“
„Hey!“, schrie Janine. „Die Bilder treten hervor!“
Bei unserer Diskussion hatten wir gar nicht mehr auf die Hieroglyphen geachtet. Ungläubig schauten wir jetzt auf die fünf Zeichen und sahen, dass sie aus der Wand hervortraten. Nicht allzu viel, vielleicht zwei Zentimeter. Doch jetzt ragten sie plastisch aus den Wänden heraus.
„Was kann das bedeuten?“, fragte ich ratlos.
Niemand sagte etwas darauf. Für lange Sekunden zermarterten wir uns das Hirn nach einer Antwort. Dann schließlich kam Sanne ein Einfall.
„Vielleicht sind es Schalter? Und wenn wir sie in der richtigen Reihenfolge drücken, kommen wir hier heraus!“
Wir dachten darüber nach.
„Vielleicht gar keine so schlechte Idee“, meinte Tommy. „Willst du’s versuchen?“
„Nein, vielen, vielen Dank“, sagte Sanne entschieden. „Die Dinger bedeuten Tommy und nicht Sanne! Du drückst die Bilder in die Wand und wir dir die Daumen!“
Tommy lächelte. „Na, dann aber ganz fest!“ Er sah von einem zum anderen. „Was meint ihr?“
„Mach es!“, sagte ich, und Janine nickte nur heftig.
„Also gut.“ Und dann ging er nacheinander zu den immer noch rot glühenden Symbolen an den Wänden und drückte sie in der Reihenfolge der Buchstaben seines Namens wieder zurück. Als er damit fertig war, stellten wir uns alle wieder in die Mitte des Raumes und suchten die Kammer nach irgendwelchen Anzeichen einer Veränderung ab.
Sie kam schneller, als wir dachten. Genau unter unseren Füßen leuchtete auf einmal der Boden. Vor Schreck und Überraschung sprangen wir zurück. Die Erscheinung war kreisrund und das Leuchten in einer unbeschreiblichen Farbe. Dann, von einer Sekunde zur nächsten, bildete sich ein kleiner, rechteckiger Fleck inmitten dieses Kreises und formte sich zu einem Gegenstand. Zuerst sah es aus wie ein kleiner Kasten, doch dann schälten sich die Umrisse immer deutlicher vom Untergrund. Das Leuchten war jetzt fast unerträglich hell, und wir kniffen die Augen zusammen. Dann, von einer Sekunde zur anderen, war es vorüber.
Der Kreis war verschwunden. Doch was aus ihm hervorgekommen war, lag immer noch exakt in der Mitte der Kammer. Es wirkte unscheinbar und wie verloren. Wir starrten es an und glaubten, zu träumen. Unsere Erstarrung zog sich über endlose Sekunden.
„Ein Buch ... “, flüsterte Janine.
Ja. Dort lag ein Buch. Ein kleines Buch, nicht viel größer als ein gewöhnliches Notizbuch. Es war dunkelbraun und unscheinbar.
„Tommy, es ist deins!“, sagte Sanne aufgeregt. „Sieh nach, was drin steht!“
Wir hielten es nicht mehr aus. Meine Neugier war so groß, dass ich am liebsten selbst das Buch an mich gerissen und aufgeschlagen hätte. Aber es war Tommys Buch. Jeder von uns wusste das.
Vorsichtig ging Tommy in die Mitte der Kammer und hockte sich hin. Wir taten es ihm gleich und schauten ihm gespannt über die Schulter. Wie in Zeitlupe ging seine Hand nach vorn und berührte das kleine Buch. Nichts geschah.
„Es beißt jedenfalls nicht.“ Tommy wollte einen Witz machen, aber wir konnten seine Spannung genauso fühlen wie unsere eigene. Behutsam griff er das Buch mit zwei Fingern und nahm es an sich.
Da geschah es: Eine Schrift erschien auf dem Buchrücken! Auf einmal leuchtete das Buch in fahlem Orange in Tommys Hand auf. Für einen kurzen Moment bekam Tommy einen Schreck vor der Erscheinung. Doch es schien keine Gefahr von dem Leuchten auszugehen, und so behielt er das Buch in der Hand.
Wir drängten uns hinter ihn, um einen Blick auf den Buchrücken zu erhaschen.
„Das Buch der Gaben ... “, sagte Tommy leise, und wir alle lasen es im gleichen Moment. In reich verzierter feiner und altmodischer Schrift stand es auf dem Einband:
Das Buch der Gaben
Ich war noch niemals so aufgeregt gewesen. Dies war der Schatz, den man uns offenbarte. Und er bestand nicht aus Gold oder Edelsteinen.
Tommys Haltung in der Hocke war ihm zu anstrengend, und er setzte sich bequem in den Schneidersitz. Und das taten wir dann auch.
„Was meint ihr? Soll ich ...?“, fragte er in die Runde.
„Nun mach schon!“, sagte ich ungeduldig. „Ich hab Hunger! Vielleicht kannst du uns etwas zu essen herzaubern!“
„Na, das geht bestimmt nicht!“, lachte Tommy. „Zaubern ist viel zu einfach. Das, was man sich wünscht, muss man sich verdienen.“
„Das haben wir doch, oder etwa nicht?“, fragte Sanne.
„Hm ... “, machte Tommy. „Vielleicht. Wir werden sehen.“
Und dann öffnete er das Buch und betrachtete sich die Seiten. Er blätterte ein wenig, und seine Augen wurden immer größer.
„Was ist? Nun sag doch schon!“, rief Janine.
„Hier vorne kann ich es lesen, aber weiter hinten stehen nur unverständliche Sachen in einer mir fremden Sprache. Ich fürchte fast, diese Sprache gibt es nicht auf der Welt.“
„Was?“ Ich konnte es nicht glauben.
„Nicht, soweit ich weiß“, bekräftigte er. „Aber ich werde euch das vorlesen, was ich entziffern kann.“
Und dann begann er, das vorzulesen, was ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde.
Vier Herzen braucht es
das Buch zu lösen
für die Phase eines Mondes
wird beseelt der Auserwählte
mit der Gabe
die zuerst er erwählt
doch wähle mit Bedacht
dies Buch muss ruhen
an seinem Platz
bevor der Mond
seine Bahn beendet
sonst wird die Gabe
alle beseelen
„Was bedeutet das?“, flüsterte Sanne. „Wirst du eine Gabe bekommen? Ist das gefährlich?“
„Ich weiß es nicht“, gab Tommy zu. „Jedenfalls, vier Herzen, damit können nur wir gemeint sein. Diese Kammer hat sich für uns geöffnet.“
„Und dieses Buch ist für dich“, sagte Janine aufgeregt. „Du bist der Auserwählte.“ Sie betrachtete ihn wie einen Fremden. „Aber warum?“
„Tommy hat Mut. Er ist furchtlos, und er brachte uns zusammen“, sagte ich. „Auch wenn er es nicht bewusst getan hat. Aber ich glaube, dass das Haus auf Tommy gewartet hat. Schließlich war ich schon oft dort, und nichts hat sich getan.“
Wir dachten eine Weile darüber nach. Ich hatte keine Zweifel, dass Tommy etwas Besonderes war, aber konnte das ausreichen, um eine fremde Macht dazu zu bringen, ihr Jahrtausende altes Geheimnis zu offenbaren?
„Meinst du wirklich, dass du eine Gabe bekommen wirst?“ Janine war völlig fasziniert. „Und welche würdest du wählen?“
Tommy senkte den Kopf.
„Ich habe vorhin bereits an etwas gedacht“, gab er zu. „Als ich die Zeilen vorgelesen habe, habe ich mir gewünscht, Gedankenlesen zu können.“
„Gedankenlesen?“, entfuhr es mir. „Warum das denn?“
„Weil ... ich ... “ Tommy fiel es sichtlich schwer, darauf zu antworten. „Ich möchte so gern wissen, ob Jessie mich mag. Ich meine, so wie ...“
Er verstummte. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff.
„So wie seinen eigenen Sohn, stimmt's?“
Tommy nickte nur.
„Aber du brauchst ihn doch nur zu fragen!“, sagte Janine überzeugt.
„Ich habe mich nicht getraut. Und wenn ich ihn frage, was würde er sagen? Natürlich würde er sagen: Klar mag ich dich, Tommy! Was sollte er auch sonst sagen? Aber ich möchte es wirklich wissen, versteht ihr?“
„Trotzdem“, murmelte Sanne. „Wenn du Gedankenlesen könntest, wärst du vielleicht enttäuscht von ihm. Ich finde, du solltest ihn fragen. Er wird nicht lügen, wenn du ihn mit dieser Frage überraschst. Aber wenn er dich mag, wird er es dir ehrlich sagen.“
„Kannst du denn jetzt Gedankenlesen?“, fragte ich drängend. „Wenn du vorhin dran gedacht hast, ist es vielleicht schon zu spät, eine andere Gabe zu wählen.“
„Ja, genau!“, rief Sanne. „Was denke ich denn gerade?“
Tommy schloss die Augen und konzentrierte sich.
„Du denkst, ich bin ein Besserwisser!“, sagte er dann ernst.
Sanne wurde rot.
„Das ... das meine ich doch nicht so!“
„Es funktioniert!“, rief Janine.
„Keine Angst“, lachte Tommy. „Das wusste ich auch so! Ich kann nichts dafür, dass mir soviel einfällt. Seid mir nicht böse deswegen. Aber ich kann euch beruhigen, eure Gedanken kann ich jedenfalls nicht lesen.“
Ich blickte noch einmal auf die Zeilen des Buches.
„Vielleicht funktioniert es nur in der Außenwelt. Auf jeden Fall solltest du genau überlegen, welche Gabe du dir wünschst.“
„Ihr könnt mir ja dabei helfen. Aber hier steht noch mehr.“
Tommy hatte umgeblättert, und wieder senkten sich unsere Köpfe über das Buch:
Nur der Mut der vier Herzen
bringt die Gabe ins Lot
ihr anderen
nehmt eine Hand voll
Wunschkugeln
doch Vorsicht
vor falschen Wünschen
die Holografie
öffnet Tore
Feuer umgibt den
der sie missbraucht
„Ich verstehe überhaupt nichts mehr“, sagte Janine. „Was sind denn Wunschkugeln und welche Holografie?“
Ratlos starrten wir auf die reich verzierten Worte. War dies eine weitere Prüfung oder waren wir nur zu einfältig, diese Botschaft zu verstehen?
„Wunschkugeln? Das wäre toll, wenn's so was gäbe!“ Sannes Augen glänzten. „Ich brauch neue Klamotten!“
„Vorsicht vor falschen Wünschen!“, sagte Tommy nachsichtig. „Hat jemand eine Idee, wie uns das alles weiterhilft?“
„Lies doch weiter“, meinte ich. „Vielleicht findest du die Antwort im Buch.“
Tommy blätterte um und machte ein ratloses Gesicht. Dann schlug er wahllos hier und da eine Seite auf und schüttelte den Kopf.
„Alles, was danach kommt, kann ich nicht lesen. Es ist völlig unverständlich. Seht doch selbst.“
Er reichte mir das Buch, und ich blätterte es durch. Er hatte Recht. Außer den beiden Seiten, die er uns vorgelesen hatte, konnte man keine einzige weitere entziffern. Fremdartige Zeichen füllten das Buch bis zur letzten Seite. Es waren keine Hieroglyphen oder Symbole, sondern Schriftzeichen, die mich an nichts mir Bekanntes erinnerten. Das Buch hatte längst aufgehört zu glühen und wirkte nun wieder wie ein simples Notizbuch. Es machte die Runde, doch niemandem fiel etwas zu der rätselhaften Schrift ein.
„Wenn wir den Rest nicht entziffern können, wird nur das für uns bestimmt sein, was wir lesen können“, sagte Sanne.
„Richtig“, nickte Tommy. „Und deshalb sollten wir genau über das nachdenken, was dort geschrieben steht. Erstens, einer von uns bekommt eine Gabe, die mit Vorsicht zu genießen ist. Zweitens, sie dürfte nur in unserer Welt funktionieren.“
„Und drittens“, unterbrach ich ihn, „muss das Buch zu einer bestimmten Zeit wieder hier sein, sonst gibt's Ärger.“
„Richtig. Und dann soll es noch Wunschkugeln geben und eine Holografie. Joe, dafür bist du doch der Spezialist.“
Ich hatte schon die ganze Zeit darüber nachgegrübelt, was es wohl mit der Holografie auf sich haben konnte, aber die Lösung war mir noch nicht gekommen. Ich zuckte nur mit den Schultern.
„Gut.“ Tommy traf eine Entscheidung. „Hier rumsitzen bringt uns nicht weiter. Lasst uns noch mal den Raum absuchen. Wir haben jetzt dieses Buch. Wenn es tatsächlich das ist, was für uns bestimmt war, dann sollte der Weg hier für uns zu Ende sein. Es muss einen Ausgang geben.“
Er hatte Recht. Wir alle fühlten, dass wir am Ende unserer Prüfungen angelangt sein mussten. Doch ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was uns in unsere eigene Welt zurückbringen konnte. Wir hatten doch vorhin jeden Winkel dieser Kammer abgesucht. Aber Tommys Worte gaben uns neuen Antrieb. Wir erhoben uns und nahmen uns jeder wieder eine Wand dieses Raumes vor.
Doch jetzt glühte keines der Bilder mehr oder machte sonst irgendwie auf sich aufmerksam. Ratlos glitten meine Hände über die Zeichnungen. Ich fragte mich, was wohl diese Hunderte von Symbolen bedeuten mochten und ob wir sie jemals entziffern würden. Gerade als sich der Gedanke in meinen Kopf schlich, dass wir hier für immer eingeschlossen bleiben konnten, schrie Janine auf.
„Die Kugeln!“
Wir fuhren herum. Triumphierend deutete Janine auf eine kleine Nische in der Wand. Ohne ein Wort darüber zu verlieren wussten wir, dass diese Nische vorhin noch nicht in der Wand gewesen war. Überrascht von Janines Entdeckung verzichteten wir erstmal auf die weitere Erkundung und stellten uns neugierig vor die kleine Öffnung.
Die Nische war vielleicht fünfzig Zentimeter breit und etwa genauso tief. Sie bestand aus glattem schwarzen Wänden, die wie Marmor glänzten. Etwa zwei Dutzend kleiner silberner Kugeln lagen in einer hellgrünen, mit feinen weißen Adern durchzogenen Schale.
„Die könnte aus Jade sein“, sagte Sanne. Neben der Schale mit den kleinen Kugeln, die etwa so groß waren wie Murmeln, lag noch eine wesentlich größere. Sie sah aus wie ein kleiner Ball, dunkelblau und matt.
„Spielt jemand Tennis?“, fragte Tommy. Aber so richtig lachen wollte niemand. Sanne murmelte etwas vor sich hin.
„Nehmt eine Handvoll Wunschkugeln ... “
„Du meinst ... “ Janines Augen wurden riesengroß.
„Könnte doch sein, oder nicht? Jede Wette, dass das die Wunschkugeln sind!“
Tommy nickte entschlossen. „Was soll es sonst sein? Nimm einfach eine Handvoll. Aber nicht mehr.“
Janine trat vor an die Nische. Erst zögerte sie einen Moment, aber dann griff sie zu. Sie nahm so viele, wie sie auf einmal mit ihrer rechten Hand greifen konnte. Vorsichtig öffnete sie dann die Faust.
„Ich habe sechs von den Dingern. Was soll ich jetzt damit machen?“
„Behalt sie erstmal in der Hand“, sagte ich. „Vielleicht können wir uns damit hier raus wünschen.“
Tommy machte Sanne ein Zeichen.
„Greif zu!“
„Meinst du wirklich?“
„Na klar. Da steht nichts davon, dass nur einer Wunschkugeln nehmen darf. Versuch's doch einfach.“
Sanne holte tief Luft und versuchte ihr Glück. Und tatsächlich boten auch ihr die Kugeln keinerlei Widerstand.
„Auch sechs!“, rief sie.
Ich schaute Tommy fragend an.
„Nimm ruhig“, sagte er. „Im Buch steht „Ihr anderen“, also werde ich wohl keine nehmen dürfen. Aber du bestimmt.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, langte in die Nische und griff zu. Aber zu meiner größten Überraschung waren die Dinger wie festgeschweißt. Ich konnte die kleinen Kugeln noch nicht einmal ansatzweise bewegen.
Tommy lachte. „Du scheinst ja wunschlos glücklich zu sein! Aber versuch's doch mal mit dem Ball daneben!“
Der war ja auch noch da. Ich war etwas enttäuscht, keine Wunschkugeln zu bekommen. Ich hatte mir schon ausgemalt, was ich denn alles damit anstellen würde. Der kleine Ball neben der Schale wirkte dagegen langweilig. Er war unscheinbar und glänzte längst nicht so verheißungsvoll wie die silbernen Kugeln. Ich gebe zu, ich war etwas sauer und griff daher ziemlich doll zu.
Mit einem Ruck schnellte meine Hand mitsamt der großen Kugel nach oben, sodass ich mir den Handrücken schmerzhaft am Rand der Nische anstieß.
„Nun wissen wir es“, meinte Tommy ohne eine Miene zu verziehen, „Das Ding da ist für Joe gedacht. Ich sag's doch, du bist der Spezialist für Holografien! Sieht nur nicht gerade wie eine Holografie aus, eher wie ein Ball für Jever.“
Ich sah mir das Ding genauer an. Stahlblau und kühl. Und nicht gerade leicht. Eine Holografie hätte man nicht anfassen können. Wie ich es auch drehte und wendete, ich konnte beim besten Willen nichts damit anfangen.
„Tja“, machte Sanne, „nun haben wir alle was, aber was sollen wir damit jetzt anfangen?“
Gute Frage. Wir standen da, Tommy mit dem Buch, Sanne und Janine mit ihren Kugeln, die sie wie einen Schatz in ihren Händen hüteten, und ich mit einem komischen Ball. Jeder von uns fühlte sich stark, etwas erhalten zu haben und doch zugleich hilflos, nichts damit anfangen zu können. Dann kam mir eine Idee.
„Wozu haben wir Wunschkugeln? Probiert doch mal eine aus! Wünscht uns hier raus.“
Sanne öffnete ihre Hand, und die Kugeln klickten leise aneinander. Dann schaute sie fragend Tommy an. Mir traute sie wohl nicht.
„Soll ich?“
„Mach ruhig. Ein falscher Wunsch ist das bestimmt nicht. Einen Versuch ist's wert.“
„Wie soll ich's machen?“
„Wünsch einfach.“
„Okay.“ Sanne ballte die Faust wieder zusammen und sagte mit fester Stimme: „Ich wünsche, dass wir hier herauskommen und wieder zu Hause sind.“
Ich spannte alle meine Muskeln an, weil ich dachte, vielleicht fliegen wir durch eine fremde Dimension oder wir fallen draußen aus großer Höhe oder wir lösen uns auf. Ich dachte noch viele Oders, aber nichts geschah.
Langsam ließ die Spannung wieder nach.
Janine seufzte. „Ich sag euch, das funktioniert nur draußen. Nicht hier drin. Wir müssen uns was anderes einfallen lassen.“
„Aber was?“ Ich wurde langsam ungeduldig, und außerdem hatte ich Hunger. Und wenn ich Hunger habe, dann werde ich ungenießbar. Wütend warf ich meine Kugel in die Luft.
„Mir reicht's langsam!“, rief ich. „Ich will jetzt hier raus!“
In dem Augenblick, als ich das rief, verwandelte sich der kleine Ball. Mitten in der Luft glühte er plötzlich auf und veränderte seine Farbe. Aus dem kühlen Blau wurde ein helles, durchsichtiges Grün. Und noch etwas geschah: Die Kugel fiel nicht wieder zurück!
Vollkommen verblüfft hielt ich immer noch die Hand ausgesteckt. Doch jetzt wurde die Kugel auf einmal durchsichtig! Dann begann sie, mitten im Raum zu rotieren und setzte sich in Bewegung.
Mit offenen Mündern sahen wir zu, wie sie die Kammer abflog und dabei dicht an den Wänden blieb. Dann erreichte sie den Verschlussstein und verharrte. Jever fing wie verrückt an zu bellen und sprang in die Luft, um sich den Ball zu schnappen.
„Lass!“, rief Tommy, doch diesmal hörte Jever nicht.
Schnapp! hatte er die Kugel in seiner Schnauze. Doch seine Zähne gingen mitten durch sie hindurch! Wenn ein Hund überrascht sein konnte, dann war es Jever. Seine Zähne klackten aufeinander, und er platschte nach seinem Sprung ungelenk zu Boden. Während er sich noch schüttelte, kam wieder Bewegung in die Kugel. Sie rotierte noch schneller, fiel zu Boden und rollte direkt auf den Verschlussstein zu. Und dann durchdrang sie ihn, als wäre er Luft.
Und als wir noch starr vor Erstaunen auf die Erscheinung starrten, rappelte Jever sich wieder auf und raste der Kugel hinterher! Ehe auch nur ein Laut über unsere Lippen kommen konnte, um ihm Einhalt zu gebieten, sauste der kleine Hund gegen den Stein und ... durch ihn hindurch!
Atemlose Stille herrschte in der Kammer. Sekundenlang starrten wir den Stein an, bis Tommy den Bann löste.
„Joe“, sagte er und stieß mich in die Rippen, „ich wusste doch, dass du der Spezialist für Holografien bist!“
„Du meinst ... “, stotterte ich.
„Ja, ich meine. Diese Kugel war wohl eindeutig für dich bestimmt. Und ich nehme an, du weißt, was du jetzt zu tun hast?“
Oh nein. Ich wusste sofort, was er meinte. Ich war derjenige, der mit geschlossenen Augen in das Haus eingedrungen war. Und jetzt sollte ich auch derjenige sein, der durch diesen Felsklotz wieder hinausgehen sollte!
„Aber ... “, startete ich einen hilflosen Versuch, „ich weiß doch gar nicht, wo ich diesmal rauskomme!“
„Nein, das wissen wir nicht. Aber das wusstest du auch nicht, als du reingegangen bist. Aber Jever ist durch. Und du weißt ... “
„Ja“, sagte ich ergeben. „Was Jever kann, können wir auch.“
„Genau. Und wir kommen sofort hinter dir her, wenn es klappt. Und eins kann ich dir auch noch sagen ... “
„Und das wäre?“ Ich hatte resigniert.
„Das wird der einzige Weg sein, und du hattest den Schlüssel.“
„Hm“, machte ich. Toller Weg. Aber meine Freunde sahen mich erwartungsvoll an. Ich wusste, ich hatte keine Wahl. Und ich konnte sie nicht enttäuschen.
„Gut. Ich mache es.“
„Nimm besser Lazy auf den Arm“, sagte Janine. „Nachher bleibt er noch zurück.“
Das tat ich denn auch. Er wirkte schon etwas mitgenommen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass seine Fütterungszeit längst überschritten war. Da war er ein bisschen wie ich.
Ich bückte mich, hob meinen Hund auf und trat vor den Felsen. Dann schaute ich zurück und blickte in die Augen meiner Freunde.
„Wenn ihr nicht nachkommt, werde ich sauer!“
Janine trat hinter mich und sagte etwas, das mir unendlich gut tat.
„Ich lass dich nicht allein. Wenn du durch bist, komme ich sofort nach!“
„Danke“, murmelte ich. Dann drehte ich mich wieder um, verlagerte Lazy auf meinen linken Arm und streckte die rechte Hand vorsichtig in Richtung Fels.
Meine Finger glitten einfach durch ihn hindurch.
„Na also!“, rief Tommy von hinten. „Geh einfach weiter!“
Und wie vor vielen Stunden zu Beginn unseres Abenteuers schloss ich die Augen. Ich dachte an den See und meine Ängste, die mir genommen waren. Dann machte ich einen Schritt vorwärts und verschwand.