Kitabı oku: «Goldstück-Variationen», sayfa 9
14. März
Große Unruhe im Bundestag löste vor einigen Tagen ein AfD-Abgeordneter aus, welcher die spärlich besetzten Reihen der politischen Mitbewerber musterte und offenbar durchzählte; der parlamentarische Schlummer wich hektischer Betriebsamkeit; die Sorge, gleich werde von den Populisten wieder ein »Hammelsprung« anberaumt, ging um; es wurde telefoniert und gesimst, man holte Abgeordnete aus den Restaurants, Hotelzimmern, Bars und, hoffentlich, Bordellen, die Zahl der Saaldiener wurde verdoppelt, die Reihen füllten sich. Aber nichts geschah, der Schelm hatte sich wieder gesetzt und tat, als sei nichts gewesen …
Einer der Saaldiener sagte: »Machen Sie denen ruhig Dampf. Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren hier, und die werden von Jahr zu Jahr fauler.«
Fremdenführerin hin, Willkommensmaid her, auch der austriakische Kanzler Kurz, scheint’s, kann der Buntheit nicht wehren. Die Zahl der Messserattacken in Wien sei in den vergangenen zehn Jahren um fast 300 Prozent gestiegen, meldet die Kronenzeitung (die Zahlen von 2017 liegen offenbar noch nicht vor, insofern wird die Bilanz des Herrn Kurz noch nachgereicht). Das ist der Unterschied zu Deutschland; hier werden es immer weniger, aber die Medien melden mit geradezu kanzlerinnenfeindlicher Intensität auch jeden Pieks. Dafür haben wir die besseren Statistiker.
16. März
Der Dummkopf weiß nicht, dass er dumm ist, sonst wäre er ja klug, und das ist die traurigste, aber zugleich auch komischste Geschichte von der Welt.
Es gibt Malen nach Zahlen, aber auch Märchenerzählen mit Zahlen. Spiegel online ist versiert darin. Diesmal geht es gegen Tellkamp bzw. dessen zu Dresden vorgetragene Zahlen im Zusammenhang mit der Masseneinwanderung bzw. Fachkräfteinfusion. (Dass er ausschließlich die Einwanderung aus Afrika und dem Orient meint und nicht, wie ihm unterstellt wird, die europäische Binnenwanderung rügt, versteht sich sowohl bei diesem Thema als auch diesem Diskussionsklima von selbst.) Der Schriftsteller hatte gesagt, 95 Prozent der sog. Flüchtlinge kämen wegen der Sozialleistungen, was, da hat Spiegel online völlig recht, falsch ist, denn es sind bestimmt sogar 99 Prozent. Leider kann man das Experiment nicht mehr anstellen, ob sie auch ohne diese Verheißung hier hereinschneien würden, denn »nu sind se halt da«. Aber wer ein sicheres Land nach dem anderen durchquert und seine vermeintliche Flucht dort beendet, wo es die höchste Zielprämie gibt, sollte nicht als Flüchtling gelten bzw. so lange in der Spiegel-Redaktion einquartiert werden, bis sich diese Erkenntnis auch dort durchsetzt.
»Einem Asylantrag in Deutschland geht fast immer eine illegale Einreise voraus, denn das ist ja ein zentrales Merkmal von ›Flucht‹«, schreibt die mit dem Auftrag der TellkampErledigung bedachte Statistikerin bzw. Statistin.
Falsch. Das zentrale Merkmal von Flucht besteht, wie gesagt, darin, dass sich Menschen in Sicherheit bringen. Schlagen Sie den Atlas auf und zählen Sie, wie viele sichere Länder zwischen Syrien und Deutschland, dem Irak und Deutschland, Afghanistan und Deutschland liegen. Flucht hat immer nur ein Woher, nie ein konkretes Wohin. Hat der Flüchtling ein sicheres Land erreicht und zieht weiter, verwandelt er sich in einen Migranten. Nur 0,3 Prozent der Migranten von 2016 bekamen tatsächlich Asyl. Ich will nicht, dass die anderen, überwiegend Leute mit befremdlichen Sitten, auf meine Kosten hier angesiedelt werden und werde jede Politik unterstützen, die das verhindert. Wer wirklich verfolgt wird, soll hier verweilen dürfen, bis der Fluchtgrund entfallen ist. Wer seine Rechnungen selber bezahlen will und kann, soll kommen. Punkt.
Man muss übrigens sehr fest in seinem Glauben ruhen, um den Zahlen des seit drei Jahren heillos überforderten Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu vertrauen. Die Maid von Spiegel online aber suggeriert sogar statistische Gewissheiten bei den Herkunftsländern: »Ein Viertel aller rund 200 000 Erstanträge stammte 2016 von Syrern.« Richtig muss es heißen: stammte von Leuten, die angaben, aus Syrien zu kommen. Warum hat sie nicht erwähnt, wie viele von diesen Antragstellern ihren Pass verloren hatten?
Der Höhepunkt des »Faktenchecks« mit vorher feststehendem Resultat ist folgender Passus: »Stützen kann man sich im Hinblick auf Fluchtursachen getrost auf das erste Ergebnis einer langfristig angelegten Umfrage aus dem Jahr 2016 von mehr als 2 300 Asylbewerbern in Deutschland.« Asylmärchen aus Tausendundeiner Nacht als empirische Basis? Die verkaufen als Fakten, was Leute aus dem Orient, dem Weltepizentrum von Treu’, Redlichkeit, Preisbindung und Liefertermin, als Grund angeben, warum sie hier sind. Wer glaubt diesen Leuten eigentlich noch ein Wort?
Ein Artikel auf Meedia.de hebt an mit den rosenfingrigen Worten: »Der Medientheoretiker Norbert Bolz ist ein umstrittener Zeitgenosse: Insbesondere sein Twitter-Account sorgte in medialen Kreisen zuletzt für Diskussionen.«
In seiner Sentenzensammlung »Autor und Autorschaft« aus dem Jahr, wie passend, 1984 notierte Ernst Jünger: »›Der ist umstritten.‹ Das ist heute nicht etwa als Lob, sondern abschätzig gemeint. Beliebtes Urteil, vor allem von Typen, die sich nie exponiert haben. Sie halten es immer mit der herrschenden Meinung, gleichviel ob Kastraten oder Kannibalen regieren; verdächtig ist jeder, der nicht ins Schema paßt.« Soviel zur Begriffswahl.
Auf einem Online-Portal, erfahren wir weiter, »haben nun zwei Autoren Bolz’ über 1 200 Tweets, die er seit August 2012 verfasst hat, analysiert. Die Rezensenten erzählen dabei die Geschichte einer schleichenden Radikalisierung.«
Die sich spielend leicht daran erkennen lässt, dass Bolz 2012 noch keinen einzigen Tweet gegen die unkontrollierte Masseneinwanderung gepostet hat.
»Viele seiner Tweets bedienen mittlerweile die Ressentiments rechtspopulistischer, teils sogar rechtsextremer Milieus; selbst vor verschwörungstheoretischen Szenarien schreckt Bolz nicht zurück«, schreibt einer der beiden Ermittlungsexperten, deren Namen wir uns schenken, denn sie sind ja nicht mal umstritten.
Ich habe gelegentlich darauf hingewiesen, dass von 100 sog. Intellektuellen, die mit dem Terminus Ressentiment herumfuchteln, 99 keine Ahnung haben, was das Wort überhaupt bedeutet. Die Verschwörungstheorie wiederum lesen die Herrschaften aus einer Notiz des Berliner Medienwissenschaftlers, der nach »Demonstrationen« von Arabern gegen Israel in Berlin die Berichterstattung kritisiert, einen Vergleich zur Kölner Silvesternacht gezogen und gefragt hatte, ob die Medien warten mussten, »bis das Bundeskanzleramt die Richtung vorgab«. Man kann das auch als polemische Spitze lesen, aber hier heißt es, Bolz unterstelle der Regierung, »sie würde die öffentlich-rechtlichen und privaten Medien heimlich manipulieren«. Das ist in der Tat, vereinzelte Chefredakteursprivatissima der Kanzlerin und ihre Freundschaft zu Liz Mohn und Friede Springer beiseite, insofern Quatsch, als diese Manipulation bei deutschen Medienschaffenden seit beinahe hundert Jahren völlig unnötig ist, weil die meisten ganz von selbst schreiben, was von ihnen erwartet wird.
Das Duo mutmaßt zuletzt über die Gründe der angeblichen Radikalisierung. Der führungslose Professor »bekommt natürlich mit, dass er sich viele neue Feinde macht. Unter einigen seiner Tweets finden sich mehr kritische Kommentare als zustimmende Äußerungen. Aber vielleicht motiviert ihn der Widerstand.« Das können Autoren solchen Schlages natürlich nicht verstehen. Zwei Herdengeschöpfe mit Meuteninstinkten, die nie »umstritten« waren, um die es nie Diskussionen gab, die nie auf Widerstände gestoßen sind, werfen einem Intellektuellen, der auf eigene Rechnung denkt, »Altersradikalisierung« vor. Wie niedlich!
Merke Gómez Dávila: »Die Frechheiten des Jünglings sind bloß die Fußtritte des Esels, der sich an seinen Stall gewöhnt. Anders ist der Übermut des Alten, der jäh von seinem gekrümmten Rücken die Jahre der Geduld abschüttelt, ein bewundernswertes Schauspiel.«
Aber natürlich ist der getreulich in seinem Stall verharrende und schließlich dort verreckende alte Esel der Normalfall.
17. März
Viktor Orbán sagte vor zwei Tagen bei seiner »Festrede zum 170. Jahrestag der Revolution und des Freiheitskampfes von 1848/49« in Budapest unter anderem Folgendes:
»Die Situation ist die, meine lieben Freunde, dass man uns unser Land nehmen will. Nicht mit einem Federstrich, wie vor hundert Jahren in Trianon. Jetzt will man, dass wir es im Laufe einiger Jahrzehnte freiwillig anderen übergeben sollen, von anderen Kontinenten kommenden Fremden, die unsere Sprache nicht sprechen, unsere Kultur, unsere Gesetze und unsere Lebensform nicht respektieren. Man will, dass ab jetzt in erster Linie nicht mehr wir und unsere Nachkommen hier leben sollen, sondern irgendwelche andere Menschen. Tag für Tag sehen wir, dass große westeuropäische Völker und Nationen Schritt für Schritt, von Bezirk zu Bezirk, von Stadt zu Stadt ihr Land verlieren. Die Situation ist die, dass jene, die die Einwanderung an ihren Grenzen nicht aufhalten, verlorengehen. Sie werden langsam aber sicher absorbiert. (…)
Die westeuropäischen Jugendlichen werden es noch erleben, wie sie in ihrem eigenen Land zur Minderheit werden und den einzigen Ort auf der Welt verlieren, den man als Zuhause bezeichnen kann. Es sind Kräfte erschienen, wie sie die Welt schon seit langem nicht mehr gesehen hat. Afrika wird zehnmal so viele Jugendliche haben wie Europa. Wenn Europa nichts unternimmt, dann werden sie unsere Tür mit den Füßen eintreten.«
19. März
Der gestrigen Tagesschau durften wir entnehmen, dass es schlecht sei, wenn die Wahlbeteiligung hoch ist und die Menschen aufgefordert, ja sogar gedrängt werden, zur Wahl zu gehen – solange Wladimir Putin zu den Kandidaten gehört.
Anfrage an Radio Jerewan: »Ist es wahr, dass in Moskau eine Demonstration von Putin-Gegnern durch staatlich geförderte gewaltbereite Blockierer verhindert wurde und die Polizei zusah? Und stimmt es, dass in Chabarowsk der Bürgermeister erklärt hat, es sei ›völlig klar, dass alle im Föderationskreis zusammenstehen‹, wenn regierungskritische Demonstranten die Stadt für ihre Propaganda missbrauchten?«
Antwort: »Im Prinzip ja, nur handelt es sich bei den Städten nicht um Moskau und Chabarowsk, sondern um Berlin und Kandel, und bei den Demonstranten nicht um Gegner von Herrn Putin, sondern von Frau Merkel.«
Heiko Maas, der neue Chef des Außenpolitikdurchsetzungshauptamtes, hat einen Satz wiederholt, mit dem er schon vor ein paar Jahren mächtig angegeben hatte, nämlich: »Ich bin wegen Auschwitz in die Politik gegangen.« Darunter macht es unser Charakterhüne nämlich nicht. Ohne Auschwitz wäre er damals als Student in Saarlouis gar nicht in die SPD eingetreten, sondern hätte wenigstens einen Tag seines Lebens als Jurist gearbeitet. Ohne Auschwitz wüsste keiner, wem er äußerlich ähnelt und auch habituell. Ohne Auschwitz kein Maas, ganz klar. In einem Satz will dieses sich in charaktervoller Kleinheit verbergende moralische Schwergewicht klarstellen, dass wir auch intellektuell wieder wer sind. Eigentlich jedoch sollte inzwischen jeder Teilnehmer am deutschen Betroffenheits-Limbo wissen: Im Kontext Bundesrepublik lässt sich mit dem Begriff Auschwitz kein Satz bilden, der nicht auf eine Obszönität oder Trivialität hinausliefe. Wahrscheinlich weiß unser Nie-wieder!-Heiko das sogar selber. Doch diese Versuchung, sich mit der Indienstnahme der größtmöglichen Verfolgung eines Tages selber die Legitimation als Verfolger erschleichen zu dürfen, wer wollte ihr wehren?
Was mich betrifft, so habe ich mich genau wegen solcher Figuren in die Politik begeben, wenn auch nur assistierend. Von deutschem Boden darf nie wieder ein Maas ausgehen!
Kurze Durchsage der Bundesagentur für Arbeit: »Schutzsuchende sind überwiegend jung und männlich. (…) 60 Prozent der Asylerstanträge wurden im Zeitraum Januar bis Dezember 2017 von männlichen Schutzbewerbern gestellt. (…) Mehr als drei Fünftel haben das 25. Lebensjahr noch nicht erreicht, 84 Prozent sind jünger als 35 Jahre. In der Altersgruppe der 16-bis unter 25-Jährigen waren fast drei Viertel der Erstantragsteller männlich.«
Merke: Die heißen jetzt Schutzbewerber. Nicht zu verwechseln mit Schutzhäftling!
20. März
Der Musikethnologe Lars-Christian Koch wird Sammlungsdirektor am Berliner Humboldt-Forum. »Ein weiterer weißer Europäer an der Spitze von Deutschlands wichtigstem Kulturprojekt – das ist kein gutes Signal«, kommentiert in erfrischend rassistischer Offenheit der Süddeutsche Beobachter. Vielleicht geht jetzt ein Ruck durch die verbliebenen weißen Abonnenten des Hochqualitätsblattes?
»Anti-Merkel-Demo am Dammtor: Gegendemonstranten legen Bahnverkehr lahm«, meldet die Hamburger Morgenpost. Gaaanz am Ende des Artikels verborgen folgt diese Mitteilung: »Im Bereich der U-Bahn-Station Stephansplatz kam es zu einer gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil eines möglicherweise ehemaligen Merkel-Gegner durch zwei bislang unbekannte Täter. Der Geschädigte wurde mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus eingeliefert.«
Kämen die Täter zufälliger- und ungewöhnlicherweise von der anderen Seite, läsen wir gewiss die Schlagzeile: »Nazis prügeln Antirassisten ins Krankenhaus«.
Am Rande: »Ehemaliger Merkel-Gegner«, ist das eine Prognose oder eine Recherche?
Unbedingt in die Annalen der späten Bundesrepublik gehört eine Bemerkung des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul, CDU. Im Mutterland des Großen Austausches (den es nur gibt, wenn er gepriesen wird; sonst handelt es sich um rechte Hetze) hat ausgerechnet die SPD die Zahl der Messerattacken ermittelt, die bekanntlich bei den früher schon länger dort lebenden Germanen, von denen wir gottlob nicht abstammen, viel höher war und seitdem disruptiv, aber kontinuierlich sinkt. Messerattacken gehören jedenfalls zu Deutschland wie das Oktoberfest und der Damenbart.
Liebe Kinder, jetzt alle zusammen: Messerattacken gehören zu Deutschland!
Das Ergebnis: Von September 2017 bis März 2018 haben in Nordrhein-Westfalen sogenannte Täter 572mal auf andere eingestochen, die nur durch Zufall nicht von der Gesellschaft zu Tätern gemacht wurden. Im Schnitt sind das gerade mal etwas mehr als drei Messerangriffe pro Tag; die Wahrscheinlichkeit, im Haushalt verletzt zu werden, ist ungleich höher, sogar wenn man nicht verheiratet ist. Minister Reul, Vater dreier Töchter und gelernter Soziologe oder umgekehrt, ließ sich denn auch nicht ins Bockshorn jagen und erläuterte im ZDF: »Polizisten schützen wir dadurch, dass wir sie mit Schutzwesten ausstatten, und Bürgerinnen und Bürger werden einfach sensibler sein müssen. Man muss nicht unbedingt Menschen nah an sich ranlassen.« Wer nicht genau weiß, wie er (oder sie) das bewerkstelligen soll, einfach den ersten Kampf von Ali gegen Sonny Liston anschauen, Ali konnte das vorbildlich!
Gerüchte, denen zufolge die gesamte Bevölkerung mit Schutzwesten ausgestattet werden soll, gehen vermutlich auf russische Hacker zurück.
21. März
»Was weiß die Zigarre über Männer und Frauen?« Mit dieser Frage, die sich explizit nicht auf jene Zigarre bezieht, deren Genuss sich Monica Lewinsky und Bill Clinton im Oral Office geteilt haben sollen, eröffnet der Tagesspiegel einen Tusch zum 80. Wiegenfest der Historikerin Karin Hausen. Die Dame wird als eine Pionierin der Frauen- und Geschlechterforschung gewürdigt (ein historisches Gebiet, das bestimmt genau so spannend ist wie die Geschichte der Arbeiterbewegung). Frau Hausen ist Feministin, aber Gendersternchen, Unterstriche und auch den Terminus »Gender« mag sie nicht recht: »Ich bevorzuge das deutsche Wort Geschlecht. Es ist so hinreißend vieldeutig, Menschengeschlecht, Adelsgeschlecht, Geschlechtskrankheiten …« (Wobei: Genderkrankheiten …?) Vielleicht ist sie Wissenschaftlerin genug, um den Unterschied zwischen Begriffen, mit denen sich sinnvoll arbeiten lässt, und ideologischen Konstrukten zu erfassen, vielleicht ist sie auch nur zu früh geboren, um schon richtig brainwashed zu sein, vielleicht beides zusammen.
Aber was hat es mit der Zigarre auf sich? Am Beispiel der Tabakwickel lasse sich zeigen, referiert der Tagesspiegel eine These der Historikerin, »wie im 19. Jahrhundert die Handlungsund Spielräume von Männern und Frauen neu definiert wurden. Männer rauchten Zigarren, Frauen nicht, und wenn eine Frau es doch tat, wie etwa die Französin George Sand, so wurde das als ein demonstratives Überschreiten der Geschlechterordnung von vielen – Männern wie Frauen – abgelehnt.« Eine weit eindrucksvollere und exzessivere Zigarrenraucherin als die Chopin-Dulcinea war übrigens die letzte Favoritin von Liszt, die aus Polen stammende Fürstin Caroline Sayn-Wittgenstein, Ehefrau des Prinzen Nikolaus zu Sayn-Wittgenstein, der als Sohn eines in russischen Diensten stehenden Generalfeldmarschalls zu den wahrlich Begüterten gehörte. Sie war Liszt in Kiew begegnet und hatte ihren Gatten und ihre 30 000 Leibeigenen verlassen, um fortan nur ihm zu huldigen. Zuvor hatte sie sich durch einen Grundstücksverkauf eine Million Rubel beschafft. Sie muss eine sehr eindrucksvolle Person gewesen sein, nicht nur was ihre Art der Partnerwahl, ihren Zigarrenkonsum und ihre geistig-literarischen Neigungen betraf, sondern auch habituell. Einer Anekdote zufolge soll sie den logorrhöischen Egozentriker Richard Wagner derart zusammengefaltet haben, dass der wie ein Kind verstummte; kaum einem Sterblichen ist das je gelungen. Aber Sand und Sayn-Wittgenstein, das waren Exzentrikerinnen und Heroinen, deren Art zu sein auch heute vom Mainstream problematisiert würde.
Da nur Männer Zigarren oder Pfeife rauchten und sich zum Rauchen in separate Räume zurückzogen, interpretiert Hausen das Tabakrauchen als eine »bedeutungsvolle Grenzmarkierung«. Ein gewisses Maß an Geschlechtertrennung ist freilich der Normalzustand in sämtlichen Weltkulturen; einzig der Westen hat es fertiggebracht, Männer und Frauen nicht nur gleichzustellen, sondern Frauen buchstäblich jedes männliche Refugium zu öffnen. Die Holden können, wenn sie denn wollen, zur Armee gehen, boxen, Eishockey spielen, Pfeife rauchen, Physikerinnen oder, wahrscheinlicher, Politikerinnen werden und sich bei den Wiener Philharmonikern einklagen. Nichts soll mehr exklusiv männlich oder weiblich sein, auch nicht der Kreißsaal und die Fankurve. Sogar in den öffentlichen Toiletten hat man damit angefangen, die Geschlechter zusammenzuführen. Die Frage, ob das im beispielsweise ästhetischen Sinne wünschenswert ist, stellt sich nicht mehr, denn wir haben ja individuelle Wahlfreiheit. Aber alle Möglichkeiten der partiellen Männerdomäneneroberung oder Vermännlichung sind für die meisten Frauen bis heute vollkommen uninteressant. Ich kenne beispielsweise Dutzende Frauen, die von der Zigarre einen Probezug begehrten, aber keine einzige, die sie je bis zu Ende rauchen wollte.
Das wirklich Rätselhafte, ja dialektisch Tückische an dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass der Westen durch die, nein, nehmen wir die Kausalität heraus: parallel zur Gleichstellung der Frauen wehrlos geworden ist, auch und speziell gegenüber denjenigen, für die eine Ungleichbehandlung der Geschlechter die Grundvoraussetzung eines gottgefälligen Lebens ist. Die individuelle Wahlfreiheit hat ihren Zenit erreicht; wir erleben nurmehr noch ihre späten Irrlichtereien. Noch ein paar Jahrzehnte, dann werden womöglich Verhältnisse hergestellt sein, bei denen nicht viel von dieser Art Emanzipation übrig bleibt. Der an Kopfzahl unentwegt zulegende Rest der Welt kennt sie ohnehin nicht.