Kitabı oku: «Freie und faire Wahlen?», sayfa 2
Funktionen nicht demokratischer Wahlen 21
¿para qué sirven las elecciones? (Wozu dienen Wahlen?) lautete der spanische Titel einer schon in die Jahre gekommenen Studie über Wahlen in nicht demokratischen Systemen.22 Wahlen sind selbst in Autokratien mehr als Dekoration. Autokraten binden Wahlen in ihre Herrschaftspraktiken ein und nutzen diese, um innen- und außenpolitische Legitimationsgewinne zu erzielen, um Unterstützergruppen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu kooptieren, um die Opposition zu teilen oder in die Schranken zu weisen. Indes: die Regierungsmacht bei Wahlen abzugeben, dazu waren und sind sie für gewöhnlich nicht bereit.
1) Legitimation durch Wahlen: Autokraten gründen zwar ihre innenpolitische Legitimation nicht allein auf Wahlen, sondern gerade auch auf andere Legitimationsquellen – etwa auf persönliches Charisma oder auf traditionelle oder religiöse Herrschaftsansprüche.23 Mitunter können sie sich auch als Hüter der nationalen Einheit und Sicherheit profilieren, besonders angesichts etwaiger separatistischer Bewegungen, terroristischer Bedrohungen oder einer weitverbreiteten Kriminalität. Oder sie gerieren sich als Garanten des Wohls der Nation, des wirtschaftlichen Fortschritts oder revolutionärer Errungenschaften. Dabei können sich Wahlen in solche Legitimationsstrategien einfügen. Sie bieten findigen Autokraten die Gelegenheit, ihren Führungsanspruch eindrucksvoll zu unterstreichen. Mittels Wahlen können diese die Bevölkerung für die eigenen politischen Ziele mobilisieren und ihren – tatsächlichen oder vermeintlichen – Rückhalt in der Wählerschaft allseits verdeutlichen. Die zahlreichen Wahlen unter Aljaksandr Lukaschenka in Belarus (vor 2020) und unter dem bereits erwähnten Hugo Chávez in Venezuela sind dafür gute Beispiele. Als Legitimation stiftend wird dabei nicht nur eine hohe Zustimmung zum Amtsinhaber, sondern auch eine hohe Wahlbeteiligung angesehen. Um die Bürgerinnen und Bürger an die Wahlurnen zu bringen, bedienen sich Autokraten dabei mitunter ausgewöhnlicher Maßnahmen – so auch in Russland bei den Präsidentschaftswahlen 2018: „Im sibirischen Krasnojarsk wird ein Auto verlost, im südrussischen Krasnodar ist es ein iPhone, und in Berdsk (Westsibirien) soll das beste Selfie eine Plakatwand schmücken. Teilnahmeberechtigt ist immer nur, wer zur Wahl geht.“24 Häufig werden Aufrufe zum Wahlboykott in Autokratien zu unterbinden versucht oder sie sind, wie etwa in Belarus oder Kambodscha, sogar ausdrücklich verboten. Ob mit der Durchführung von Wahlen auch ein außenpolitischer Legitimationsgewinn einhergeht, hängt wiederum davon ab, inwieweit die Wahlen international anerkannt werden. Während Wahlbeobachtungsmissionen unabhängiger internationaler Organisationen, sofern sie eingeladen werden, Wahlen in Autokratien regelmäßig ein schlechtes Zeugnis ausstellen, sind etliche Machthaber dazu übergegangen, Wahlbeobachtungsgruppen aus befreundeten Staaten einzuladen, die dann ein gefälliges Bild der Wahlen zeichnen. Für Aserbaidschan, Zimbabwe und Venezuela sind solche Praktiken beispielsweise gut belegt.25
2) Kooptation von Unterstützergruppen: Über ihre mögliche Legitimationsfunktion hinaus können die Wahlen auch in Kooptationsstrategien eingebunden sein, von denen Unterstützergruppen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nutznießen. Wahlen bieten den Amtsinhabern die Möglichkeit, durch entsprechende Wahlaussagen und Wahlversprechen den „Herrschaftspakt“ mit den sie unterstützenden militärischen, wirtschaftlichen, religiösen und/oder gesellschaftlichen Eliten zu bekräftigen. Darüber hinaus sorgen die politische Besetzung von Ämtern und ihre Austauschbarkeit bei oder nach Wahlen tendenziell für regimetreues Verhalten zumindest derjenigen Personen, die hiervon profitieren oder zu profitieren hoffen. Gerade in Ländern mit ausgeprägten klientelistischen Strukturen neigen viele Wahlberechtigte dazu, die Amtsinhaber zu unterstützen.26 Salopp ausgedrückt, möchten viele Menschen zu den Wahlsiegern gehören, zumal dann, wenn diese etwas zu verteilen haben. Solche Praktiken lassen sich zwar zur Genüge auch in Demokratien finden, sie sind aber gerade auch Teil autoritärer Machtsicherung. Zugleich bieten dortige Wahlen die Möglichkeit zu Re-Arrangements im autoritären Machtapparat, die ihrerseits zur Systemstabilisierung beitragen können. Mittels Wahlen können die jeweiligen Machthaber – anhand von Wahlkampfverhalten, Wahlteilnahme und Stimmenpräferenzen – die Wirksamkeit ihres Kontrollapparats überprüfen, Schwachpunkte in den eigenen Reihen aufdecken und zugleich das oppositionelle Spektrum ausleuchten.
3) Kooptation, Unterdrückung und Diskreditierung der Opposition: Kooptieren lassen sich bei Wahlen gegebenenfalls auch (gemäßigte) Teile der Opposition, indem sie etwa Parlamentsmandate erhalten und ihnen gewisse Organisations- und Handlungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Geradezu institutionalisiert ist die Kooptation beispielsweise, wenn im Rahmen von Prämienwahlsystemen die Parlamentsmandate, ganz unabhängig vom konkreten Wahlergebnis, zwischen Mehrheits- und Minderheitspartei(en) nach einem festen Schlüssel verteilt werden, wie dies etwa während der Somoza-Diktatur in Nicaragua lange Zeit der Fall war.27 Der Kooptation dienen beispielsweise auch die neun Mandate (ohne Wahlkreis), die in Singapur der Präsident an unterlegene Oppositionskandidaten vergibt.28
Hingegen werden jene Oppositionsgruppen, die der Regierung gefährlich werden können, in Autokratien oft ausgegrenzt oder verfolgt. Autokraten können der Opposition so zugleich die Grenzen dessen aufzeigen, was sie noch zu dulden bereit sind. Dies kann zum Ausschluss von Parteien und Personen sowie zur regelrechten Tabuisierung bestimmter Themen bei Wahlen führen und einen Anpassungsdruck auf diejenigen Oppositionsparteien ausüben, die in dem engen legalen institutionellen Rahmen agieren wollen. Sofern Oppositionelle solche „roten Linien“ überschreiten, werden sie dann verfolgt, eingeschüchtert oder auch nur mittels bürokratischer Auflagen gehindert, für ihre politischen Ansichten zu werben. Die geringe Sichtbarkeit der Opposition kontrastiert dabei für gewöhnlich stark mit der Allgegenwart der Amtsinhaber in der Öffentlichkeit und in den von ihnen kontrollierten Medien.
Oppositionsgruppen müssen sich daher stets entscheiden, ob sie sich auf einen unfairen Wahlwettbewerb einlassen wollen, der ihnen ein beschränktes Maß an politischen Betätigungsmöglichkeiten erlaubt, oder ob sie den Wahlen fernbleiben sollen, um diesen keine Legitimation zu verleihen. Oft sind sich die Oppositionsgruppen nicht einig, zumal, wenn die Regierung sie getreu dem Prinzip „Teile und herrsche“ (divide et impera) gegeneinander ausspielt. Einige Parteien boykottieren dann die Wahlen, andere nehmen daran teil. Mitunter kommt es aber zu einem allgemeinen Wahlboykott der Opposition – so geschehen etwa bei den Wahlen in Venezuela 2017 oder, um ein weniger bekanntes Beispiel zu nennen, in Dschibuti 2018. Aus Sicht der Machthaber wiederum ergibt sich bei unfairen Wahlen die Möglichkeit, die Opposition als schwach darzustellen oder diese gar zu diskreditieren. Der Nachweis einer angeblichen Bedeutungslosigkeit der Opposition ist Teil der Wahlstrategie von Autokraten. Umgekehrt kann ein Wahlboykott die Opposition auch in die Bedeutungslosigkeit führen, weil bar einer parlamentarischen Repräsentation die Möglichkeiten, im legal-institutionellen Rahmen (ein wenig) Oppositionspolitik zu betreiben, stark eingeschränkt sind.
Das übergreifende Merkmal von Wahlen in Autokratien besteht letztlich darin, dass sie in Funktion der Sicherung und eben nicht der Infragestellung der Herrschaft stehen. Aus Sicht der Herrschenden steht die politische Macht nicht wirklich zur Disposition. Mitunter wird dies auch gar nicht erwartet, etwa, wenn der gewählte Präsident als „Vater der Nation“ wahrgenommen wird und in Teilen der Bevölkerung eine untertänig geprägte und fürsorgeorientierte politische Kultur vorherrscht. Eine solche glaubte Mikit Merzlou etwa noch 2019 in Belarus zu erkennen29, bevor 2020 dann dort jedoch Massenproteste gegen Wahlbetrug ausbrachen. In einigen Ländern werden zudem von vornherein nur Mandate für nachgeordnete politische Ämter vergeben, während die eigentlichen Machtzentren außerhalb der gewählten Institutionen verbleiben. Selbst dort, wo gewählte nationale Parlamente bestehen, kann deren politische Macht, wie etwa noch vor Kurzem in der Monarchie Marokkos, gering sein.
Gelegentlich behalten sich Autokratien auch vor, einen Teil der Mandate im Parlament ohne Wahlen zu besetzen, so beispielsweise in Myanmar. In Thailand wiederum geht zwar das 500-köpfige Unterhaus inzwischen wieder aus allgemeinen Wahlen hervor, doch wurden die 250 Senatoren der politisch bedeutsamen zweiten Kammer des Parlaments durch einen „Nationalen Rat zur Erhaltung des Friedens“ und damit durch das Militär und ihre Verbündeten bestellt. Streng genommen handelt es sich dort um ein Militärregime hinter einer demokratischen Fassade.30 Vor allem aber nutzen Autokraten vielfältige Praktiken der Wahlmanipulation, um sicherzustellen, dass ihre politische Macht durch Mehrparteienwahlen nicht ernsthaft gefährdet wird.31 Dabei gilt es nicht nur, den Wahltag in den Blick zu nehmen, sondern den gesamten Wahlprozess und den übergreifenden Wahlkontext.
Trotz aller Kontrolle bergen Mehrparteienwahlen dennoch ein gewisses „Risiko“ für Autokraten, da der damit verbundene Wahlwettbewerb doch in beschränktem Maße politische Räume für Dissens eröffnet und eine Eigendynamik auslösen kann. Bruchstellen ergeben sich beispielsweise dann, wenn die autoritären Machthaber ihren Rückhalt in der Bevölkerung überschätzen oder ihre Fähigkeit, den Wahlprozess hinreichend zu kontrollieren. Bestenfalls können oppositionelle Gruppen – zumal dann, wenn sie vereint auftreten – die Wahlen nutzen, um sich als Regimealternative anzubieten. Gelegentlich gelingt es der Opposition, auch unter autoritären Bedingungen die Wahlen zu gewinnen – und die Amtsinhaber akzeptieren auf innergesellschaftlichen oder außenpolitischen Druck hin sogar das Wahlergebnis. In der jüngeren Vergangenheit gibt es einige Beispiele für solche „öffnenden Wahlen“ (opening elections), etwa in Lateinamerika in den 1980er Jahren.32 Besonders spektakulär waren in Chile das Verfassungsreferendum 1988 gegen eine weitere Amtsperiode von Augusto Pinochet sowie die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 1989, aus denen die Opposition als Sieger hervorging. In Afrika ließen sich die Wahlen des Jahres 1991 in Benin, Kap Verde und Sambia nennen. Ein jüngeres Beispiel ist Gambia, wo der langjährige Amtsinhaber Yahya Jammeh die Präsidentschaftswahl des Jahrs 2016 verlor. Auf nationalen und internationalen Druck, auch seitens der Economic Community of West African States (ECOWAS), trat er schließlich zurück und ging ins Exil nach Äquatorialguinea.
Meist dominieren Autokraten jedoch den Wahlprozess und greifen gegebenenfalls auf Wahlbetrug zurück, um eine Wahlniederlage zu vermeiden oder sich eine eindrucksvolle Stimmenmehrheit zu schaffen. Allzu unverblümter Wahlbetrug kann jedoch Anlass für Massenproteste sein. Über solche Proteste stürzten beispielsweise die Regierungen in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgistan (2005). Auch in der DDR verlieh der offenkundige Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen des Jahrs 1989 der Protestbewegung Auftrieb. Oft bleiben aber selbst Massenproteste erfolglos, wie etwa im Iran 2009, in Russland 2012 oder in Kasachstan 2019. In Belarus wurden Wahlproteste bereits mehrfach gewaltsam unterdrückt, besonders brutal nach den Präsidentschaftswahlen von 2006 und 2010. 33 So lange anhaltend wie 2020 waren die Proteste aber noch nie.
2 Als Autokratien werden in der Politikwissenschaft alle nicht demokratischen Systeme verstanden, also sowohl autoritäre als auch totalitäre politische Systeme.
3 Zu den Wahlen in verschiedenen Weltregionen im 20. Jahrhundert siehe: Nohlen 1993 und 2005, Nohlen/Krennerich/Thibaut 1999, Nohlen/Grotz/Hartmann 2003, Nohlen/Stöver 2010.
4 Vgl. die entsprechenden Beiträge von Richard Rose, Michael Bratton, Mark P. Jones und Stephen White zu Founding Elections in verschiedenen Weltregionen in: Rose 2000: 104 – 116.
5 Im Zusammenhang mit der dritten Demokratisierungswelle bezeichnet der Begriff „Transition“ den Übergang von einem autoritären Regime zu einer politischen Demokratie. Er war begriffsbildend für die politikwissenschaftliche „Transitionsforschung“, die sich mit den Ursachen, dem Verlauf und den Bestandsaussichten demokratischer Übergänge zunächst in Südeuropa und Lateinamerika beschäftigte. Der Begriff der „Transformation“ ist umfassender, bezieht sich allgemein auf Systemwandel und gewann im Kontext der tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche nach dem Niedergang der realsozialistischen Regime vor allem in Bezug auf Ost(mittel)europa an Bedeutung.
6 So der Titel eines älteren Beitrags des Autors zu Wahlen in Lateinamerika: Krennerich 1999.
7 Neben den demokratischen Frühentwicklern Botsuana und Mauritius zählen dazu etwa Ghana, Kap Verde, Namibia, Säo Tomé und Principe, Südafrika sowie bis 2019 auch Benin und Senegal.
8 Neben Japan und Indien gehören Südkorea, die Mongolei, Taiwan und Timor-Leste zu den Ländern, die dort 2019 das beste demokratische Profil aufwiesen. Auch die südpazifischen Staaten werden mehrheitlich demokratisch regiert.
9 Vgl. etwa: Rose/Massawir 1967, Nohlen 1978 und 2014, Harrop/Miller 1987, van der Eijk 1993, Powell 2000, Rosenberger/Seeber 2008, Behnke/Grotz/Hartmann 2017.
10 Vgl. etwa Gyimah-Boadi 2019.
11 Siehe etwa die überzogene Pauschalkritik von Paul Collier (2008) an Wahlen in Afrika (kritisch hierzu: Krennerich 2009a). Vgl. stattdessen etwa Bleck/van de Walle 2019: 15 oder bereits Bratton/van de Walle 1997, Lindberg 2006.
12 Im Unterschied zu präsidentiellen und semi-präsidentiellen Regierungssystemen entscheiden in parlamentarischen Regierungssystemen nationale Wahlen nur über die Zusammensetzung des Parlaments, das seinerseits dann die Regierungschefin oder den Regierungschef wählt.
13 Damit sind alle drei wesentlichen Legitimationsobjekte der klassischen politischen Systemtheorie benannt: politische Amtsinhaber, politische Ordnung und politische Gemeinschaft.
14 Vgl. auch Behnke/Grotz/Hartmann 2017: 14.
15 Siehe die Kapitel zur Repräsentation von Frauen und von Minderheiten.
16 Vgl. auch Rosenberger/Seeber 2008: 19.
17 Sartori 1992: 95.
18 So brachte Dieter Nohlen (2014: 34) radikal-demokratische Kritiken an Wahlen auf den Punkt.
19 Söderberg Kovacs 2018: 3.
20 So hat Kai-Olaf Lang (2015) das politische System in Ungarn beschrieben. Er stufte es seinerzeit ausdrücklich noch nicht als autoritäres Regime ein.
21 Das Kapitel beruht in Teilen auf Krennerich 2017b.
22 Hermet/Rouquié/Linz 1986 (1978).
23 Damit sind drei klassische Legitimationsquellen angesprochen, die bereits Max Weber benannt hat.
24 Katzenberger, Paul: Abstimmung über Präsidenten. Was Sie über die Wahl in Russland wissen müssen, in: Süddeutsche Zeitung, Artikel v. 17. März 2018. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/abstimmung-ueber-praesidenten-was-sie-ueber-die-wahl-in-russland-wissen-muessen-1.3910353.
25 Vgl. Merloe 2016, Cooley 2015.
26 Vgl. auch Gandhi/Lust-Okar 2009: 412.
27 Vgl. Krennerich 1996a: 36 f., 1997.
28 Siehe das Kapitel zu Wahlsystemen.
29 Vgl. Merzlou 2019: 2.
30 So auch Thompson 2019.
31 Vgl. auch Schedler 2002a.
32 Vgl. Nohlen 2014: 39.
33 Vgl. Legal Transformation Center 2012.
2.
WAS SIND „FREIE UND FAIRE“ WAHLEN?
Mit der Zunahme von Mehrparteienwahlen in Demokratien wie Autokratien stellt sich die Frage, wann Wahlen „kompetitiv“ oder „frei und fair“ sind. Versteht man „Kompetitivität“ nicht nur im engeren Sinne als reine Parteienkonkurrenz, sondern umfassender als Merkmal von Wahlen in Demokratien,34 dann sind die beiden Konzepte nahezu deckungsgleich und nicht einfach mit Mehrparteienwahlen gleichzusetzen. In beiden Fällen geht es darum, dass das allgemeine aktive und passive Wahlrecht sowie Vereinigungs-, Versammlungs-, Meinungsund Pressefreiheit rechtlich wie faktisch gewährleistet werden und dass die Kontrahentinnen und Kontrahenten gleichberechtigt und möglichst chancengleich um Wählerstimmen werben können. Auch müssen die Wahlberechtigten tatsächlich frei entscheiden können. Dazu muss die Stimmabgabe geheim sein und es darf im Vorfeld oder bei den Wahlen kein unzulässiger Druck auf die Wählerschaft ausgeübt werden. Eine korrekte, transparente und überparteiliche Organisation der Stimmabgabe, Stimmenauszählung und Dokumentation der Wahlergebnisse soll weiterhin sicherstellen, dass keine der kandidierenden Personen und Parteien bevorteilt oder benachteiligt werden. Wahlbeschwerden wiederum müssen neutral geprüft und geahndet werden. Auch ist wichtig, dass es sich um eine Wahlentscheidung auf Zeit handelt und das Wahlsystem nicht die Wählerentscheidung „auf den Kopf stellt“.
An solchen Kriterien für freie und faire Wahlen richten sich mehr oder minder deutlich auch die internationalen Standards aus, wie sie beispielsweise die Europäische Union (EU), der Europarat (CoE), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit dem Office for Democratic Institutions and Human Rights (OSZE/ODIHR), die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die Afrikanische Union (AU) sowie die Vereinten Nationen (VN) an Wahlen anlegen. Entsprechende Prüffragen finden sich in Handbüchern zur Wahlbeobachtung internationaler Organisationen sowie in den Materialien vieler nicht staatlicher Organisationen, die wahlberatend tätig sind oder Wahlen beobachten.35 Sie betreffen den gesamten Wahlprozess – angefangen vom Wahlrecht und der Registrierung der Wahlberechtigten und der kandidierenden Personen und Parteien über den Wahlkampf bis zur Stimmenabgabe und -auszählung sowie der Behandlung etwaiger Wahlbeschwerden. Allerdings sprechen Wahlbeobachterinnen und -beobachter meist nicht mehr von „freien und fairen“, sondern von Wahlen, die internationalen (demokratischen) Standards genügen.
Freie und faire Wahlen
Frei | Fair |
Vor dem Wahltag | |
Informations- und Meinungsfreiheit Versammlungsfreiheit Vereinigungsfreiheit Allgemeines aktives und passives Wahlrecht Allgemeine Registrierung der Wahlberechtigten Freie Registrierung von Parteien und Kandidatinnen und Kandidaten | Keine Bevorteilung oder Benachteiligung von Wahlkontrahenten im Wahlrecht Unabhängige, transparente und neutrale Wahladministration Unparteiische Wahlkreiseinteilung Unparteiische Wahlinformationen Unparteiische Registrierung der Wahlberechtigten Unparteiische Registrierung von Parteien und Kandidatinnen und Kandidaten Neutrale Haltung staatlicher Stellen gegenüber kandidierenden Personen und Parteien Gleichberechtigter Zugang für kandidierende Personen und Parteien zu öffentlichen Medien Gleicher Zugang für Wählerinnen und Wähler zu politischen und wahlbezogenen Informationen Kein Missbrauch staatlicher Ressourcen für Wahlkampfzwecke Unparteiische und transparente Parteien- und Wahlkampffinanzierung |
Am Wahltag | |
Möglichkeit für alle Wahlberechtigten, tatsächlich an den Wahlen teilzunehmen Geheime Stimmabgabe Keine unzulässige Einflussnahme auf oder Einschüchterung von Wahlberechtigten Friedliches Wahlklima | Möglichkeit zur Wahlbeobachtung Verständliche und neutrale Gestaltung der Stimmzettel Neutrale Hilfestellung für Wahlberechtigte, falls nötig Korrekte und transparente Ermittlung, Aggregierung, Dokumentation und Veröffentlichung des Wahlergebnisses Sicherer Transport von Wahlmaterial (Stimmzettel, Wahlurnen etc.) |
Nach dem Wahltag | |
legale und tatsächliche Möglichkeiten der Beschwerden gegen Wahlunregelmäßigkeiten, Manipulationen und Wahlbetrug | Unparteiische und rasche Prüfung von Wahlbeschwerden Komplette und detaillierte Veröffentlichung der offiziellen Wahlergebnisse Untersuchungen und Ahndung von Wahlrechtsverstößen |
Quelle: Krennerich 2004, angelehnt an Elklit/Svensson 1996, Elklit 2000a
Trotz aller Unterschiede im Detail besteht indes bemerkenswerter Konsens über die Kriterien bzw. Standards, die an demokratische Wahlen angelegt werden. Unterschiede treten eher bei der konkreten Beurteilung einzelner Wahlen auf. Besonders schwierig ist es, etwaige Unregelmäßigkeiten in den verschiedenen Phasen des Wahlprozesses zu gewichten und diese zu einer schlüssigen Gesamtbewertung der konkreten Wahl zusammenzuführen, die auch dem übergeordneten Wahlumfeld Rechnung trägt und etwaige Betrugsabsichten aufdeckt. Darüber hinaus gibt es gravierende Unterschiede dahingehend, wie deutlich die Kritik an den Wahlen formuliert werden soll. Die Präsidentschaftswahlen in Uganda 2016 wurden beispielsweise von Wahlbeobachtungsmissionen der Europäischen Union und des Commonwealth offen kritisiert. Die Kritik der Afrikanischen Union war bereits verhaltener. Kaum Versäumnisse monierten hingegen Wahlbeobachtungsteams einiger Regionalorganisationen wie der East African Community.
Während Fort- und Rückschritte in Bezug auf das jeweilige Land häufig benannt werden, verzichten selbst kritische Wahlbeobachtungsberichte bewusst darauf, Wahlen verschiedener Länder miteinander zu vergleichen. Dies ist politisch auch angebracht, um nicht ein Land gegen ein anderes auszuspielen, zumal die Staaten oft unter sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen Wahlen durchführen. Vor Vielländervergleichen und Rankings keine Scheu haben hingegen die Sozialwissenschaften, bei denen Indizes ohnehin hoch im Kurs stehen. Der Election Integrity Perception Index beispielsweise überträgt qualitative Einschätzungen von Expertinnen und Experten zu den jeweiligen Wahlen in numerische Werte. Die befragten Sachverständigen werden gebeten, jeweils Punkte auf insgesamt 49 Aspekte zu vergeben, welche die Wahlgesetze, das Wahlprozedere, die Wahlkreise, die Wählerregistrierung, die Parteien- und Kandidatenregistrierung, die Medienkampagnen, die Wahlkampffinanzierung, die Stimmabgabe, die Stimmenverrechnung, die Ergebnisse sowie die Wahlbehörden betreffen. Maximal 100 Punkte lassen sich erreichen. Die numerische Bewertung wiederum bildet die Grundlage für eine Fünferskala, die zwischen einer „sehr hohen“, „hohen“, „gemäßigten“, „niedrigen“ oder „sehr niedrigen“ Integrität des Wahlprozesses aus Sicht der Expertinnen und Experten unterscheidet.
Die nachfolgende Tabelle bildet das kumulative Ergebnis der Bewertung in 166 Staaten ab, dem insgesamt 3.861 Einschätzungen für 337 nationale Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zwischen dem 1. Juli 2012 und dem 31. Dezember 2018 zugrunde liegen. Nicht berücksichtigt wurden Kleinstaaten mit weniger als 100.000 Einwohnern, was eine Reihe europäischer Länder (Andorra, Liechtenstein, Monaco, San Marino) oder auch pazifischer Inselstaaten (Fidschi, Kiribati, Samoa, Vanuatu etc.) ausschließt, in denen kompetitive Wahlen durchgeführt werden. Außen vor bleiben weiterhin Staaten, die entweder keine allgemeinen und direkten Wahlen zum Parlament vorsehen (z. B. Brunei, China, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate), zumindest im Untersuchungszeitraum keine durchgeführt haben (z. B. Eritrea, Somalia, Südsudan) oder in denen keine Mehrparteienwahlen stattfinden, da nur die Regimepartei antritt. Auch sind einige Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen aus technischen Gründen noch nicht in die Erhebung aufgenommen worden (wie etwa die Demokratische Republik Kongo).36
Integritätsindex von Wahlen weltweit
Integrität | Länder (Punkte, Maximum: 100) |
Sehr hoch | Dänemark (86), Finnland (85), Norwegen, Schweden (beide 83), Island (82), Deutschland, Niederlande (beide 81), Costa Rica, Estland, Schweiz (alle 79), Litauen, Österreich, Slowenien (alle 77), Luxemburg, Tschechische Republik (beide 76), Frankreich, Kanada, Neuseeland, Portugal, Uruguay (alle 75), Israel, Polen, Slowakei (alle 74), Irland, Lettland, Südkorea, Taiwan (alle 73), Belgien, Chile, Kap Verde (alle 71), Australien, Benin (beide 70). |
Hoch | Spanien, Zypern (beide 69), Italien, Japan, Tunesien (alle 68), Jamaika (67), Bhutan, Griechenland, Großbritannien (alle 66), Argentinien, Barbados, Ghana, Kroatien, Malta (alle 65), Brasilien, Mauritius, Mongolei, Timor-Leste, Tonga (alle 64), Republik Südafrika (63), Lesotho, Peru, Vanuatu (alle 62), Grenada, Oman, Panama, USA (alle 61), Kolumbien, Namibia (beide 60). |
Mittel | Indien, Mikronesien (beide 59), Botsuana, Bulgarien, Georgien, Ruanda (alle 58), Indonesien, Marokko, Salomon-Inseln (alle 57), Bolivien, Nepal, Republik Moldau (alle 56), Armenien, Fidschi, Rumänien (alle 55), Albanien, Bahamas, Guinea-Bissau, Kuwait, Liberia, Myanmar, Ungarn (alle 54), Belize, Burkina Faso, Guyana, Kirgistan, Nigeria, Sierra Leone, Zentralafrikanische Republik (alle 53), Malediven, Montenegro, Niger, Säo Tomé und Príncipe, Sri Lanka (alle 52), Suriname, Ukraine (beide 51), Ecuador, Paraguay, Philippinen (50). |
Niedrig | Iran, Jordanien, Serbien (alle 49), Antigua und Barbuda, Guatemala, Laos, Malawi, (Nord-)Mazedonien (alle 48), Pakistan, Russische Föderation (beide 47), Bosnien und Herzegowina (46), Kasachstan, Sambia, Türkei (alle 45), Dominikanische Republik, Tansania (beide 44), Algerien, Kenia, Mali, Senegal, Sudan (alle 43), Guinea, Libanon, Madagaskar, Swasiland (alle 42), Aserbaidschan, Venezuela (beide 41), Ägypten, Bahrain, Belarus, Kamerun (alle 40) |
Sehr niedrig | Angola (39), Bangladesch, Irak, Mauretanien, Togo, Usbekistan, Zimbabwe (alle 38), Honduras, Uganda (beide 37), Aserbaidschan, Nicaragua, Turkmenistan (36), Malaysia, Mosambik, Tadschikistan (alle 35), Afghanistan, Papua-Neuguinea, Vietnam (alle 34), Haiti (32), Dschibuti, Tschad (beide 31), Kambodscha, Kongo (beide 30), Rep. Kongo (29), Äquatorialguinea, Äthiopien, Burundi, Syrien (alle 24) |
Quelle: eigene Zusammenstellung auf Grundlage von: www.ElectoralIntegrityProject.com (Mai 2019)
Der Index zeigt in vielerlei Hinsicht zu erwartende Ergebnisse auf: Den etablierten Demokratien in Nord-, West- und Südeuropa beispielsweise wird durchweg eine sehr hohe oder hohe Integrität bescheinigt. Am besten schneiden dort die nordischen Staaten Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden und Island ab, gefolgt von Deutschland und den Niederlanden. Vergleichsweise niedrig ist allerdings für westliche Demokratien die Punktebewertung von Griechenland, Großbritannien und Malta. Durchwachsener ist das Bild in den Staaten Mittel-und Osteuropas. Dort wird die Integrität der Wahlen nur in einigen Ländern als sehr hoch (Estland, Litauen, Slowenien, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Polen) oder als hoch (Kroatien) eingeschätzt, während die Wahlen in etlichen anderen Ländern nur ein „gemäßigt“ erhalten. Schlusslicht ist dort, wenig erstaunlich, Belarus. Unter den Staaten des Kaukasus und Zentralasiens fallen die Mongolei und mit Einschränkungen Kirgistan vergleichsweise positiv auf, während Usbekistan, Aserbaidschan, Turkmenistan und Tadschikistan besonders schlecht abschneiden. Im restlichen Asien und im Pazifikraum gehören Bangladesch, Malaysia, Papua-Neuguinea, Afghanistan, Vietnam und Kambodscha zu den Schlusslichtern, während Neuseeland, Südkorea, Taiwan und Australien eine sehr hohe Wahlintegrität bescheinigt wird. Im Nahen Osten stechen die Wahlen in Israel als der einzigen Demokratie in der Region positiv hervor, in Nordafrika jene in Tunesien, einem Land, dessen demokratische Entwicklung allerdings nicht abgeschlossen ist. Vielschichtig ist auch das Bild in Afrika südlich der Sahara, das von bemerkenswert demokratischen bis hin zu offen gefälschten Wahlen reicht: Dem Index zufolge weisen die Wahlen in Capo Verde und Benin im Untersuchungszeitraum (noch) eine sehr hohe Integrität auf und die Wahlen in Ghana, der Republik Südafrika, Lesotho und Namibia immerhin eine hohe. Hingegen schneiden Burundi, Äquatorialguinea und Äthiopien äußerst schlecht ab. In Amerika bekommen die Wahlen in Costa Rica und Uruguay sowie in Kanada sehr gute Bewertungen, ganz im Unterschied zu den Wahlen in Venezuela, Honduras, Nicaragua und Haiti. Die USA fallen im Vergleich zu anderen Demokratien ab.