Kitabı oku: «Sentry - Die Jack Schilt Saga», sayfa 11

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„Gut gemacht, Luke!“ sagte ich erleichtert. „Wie hast du das nur gemacht? Ich hätte den Kahn in dieser Dunkelheit beim besten Willen nicht mehr gefunden.“

Kristers Stiefbruder stand mit dem Rücken zum Meer, sein Gesicht lag in tiefem Schatten, doch sah ich zwei Reihen schneeweißer Zähne schimmern. Ganz klar, er grinste über beide Backen.

„Schön, dass ich mich nützlich machen kann“, sagte er und sprang an Bord. Krister und ich folgten. Es war, als käme ich zuhause an, alles schien wieder vertraut. Die tausendfach eingeübten Handgriffe saßen auch bei schlechten Lichtverhältnissen. Das Segel war in Nullkommanichts gesetzt, und wir legten ab.

Keine Minute zu früh.

Von der Straße her näherten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit flackernde Lichter, ein wahrer Fackelzug. Noch konnte ich keine Einzelheiten ausmachen, aber es mussten wohl an die zwanzig Mann sein, die zu den Landungsstegen eilten.

„Krister, schau dir das an!“ zischte ich.

„So etwas Ähnliches habe ich erwartet. Wären wir im Mataki geblieben, hätte uns der Mob vermutlich schon gelyncht. Die haben wirklich keine Zeit verloren!“

Ich schluckte hart. Jetzt erst wurde mir richtig bewusst, in welcher Gefahr wir geschwebt hatten. Nicht auszudenken, was passiert wäre, würde Luke nicht über die Augen einer Eule verfügen! Naheliegend, dass uns der aufgebrachte Pöbel an Ort und Stelle ohne mit der Wimper zu zucken erschlagen hätte. Dabei waren wir unschuldig in diese Situation geraten. Doch das zählte nicht. Der Fremde ist stets der Verdächtige, der Täter. Womöglich hätte ich daheim in Stoney Creek ähnlich reagiert. Schuldig bis zum Beweis der Unschuld. Ob Zeit geblieben wäre, selbige zu beweisen, durfte bezweifelt werden.

Einer Eingebung folgend griff ich zu den Rudern, um das Boot zu beschleunigen, doch Krister hielt mich zurück.

„Besser nicht. Wir verziehen uns lieber so lautlos wie möglich.“

„Sie werden uns sehen, wenn sie sich am Ende irgendeines Stegs postieren. Wir haben nicht genug Fahrt, der Wind ist zu schwach.“

„Nein, das würde die Aufmerksamkeit nur auf uns ziehen, Jack. Los, geht auf Tauchstation! Unsere sauberen Fackelträger werden nach einem Boot mit drei Leuten Ausschau halten, warum sollten wir ihnen den Gefallen tun?“

Luke und ich befolgten diesen Rat und legten uns flach auf die Planken, während Krister der Meute den Rücken zuwandte.

In diesem Augenblick schob sich eine freundliche schwarze Wolke vor den aufgehenden Ebrod. Von Sekunde zu Sekunde nahm das Licht ab. Unsere Verfolger näherten sich. Aufgebrachte Stimmen zerrissen die Stille der Nacht. Einige wenig Gutes versprechende Satzfetzen drangen über das Wasser bis an meine Ohren. Im Schutz der Dunkelheit trieben wir langsam aber stetig immer weiter aufs Meer hinaus.

Als die wenigen flackernden Lichter Van Diens am Horizont verschwammen, gingen wir davon aus, nicht mehr in Gefahr zu schweben. Selbst wenn einige Boote die Verfolgung aufnähmen, jetzt in der Nacht standen unsere Chancen bestens, nicht mehr entdeckt zu werden. Die Aufregung an Bord legte sich.

„Aus dem Vorräte aufstocken wird jetzt wohl nichts mehr“, resümierte ich sarkastisch. „Der ganze Umweg war für die Katz!“

„Ich halte es für keine gute Idee, noch einmal umzudrehen und wegen ein paar Laiben Brot mein Leben zu riskieren. Ich denke, ich muss dir nicht extra verbieten, Van Dien bei der Rückfahrt anzulaufen, Luke, nicht wahr?“

Ich sah Lukes Gesicht aufgrund der Dunkelheit zwar nicht, war mir aber seines breiten Grinsens sicher, als er antwortete: „Ich gedenke nicht nur das Boot sondern auch mich heil und gesund wieder nach Stoney Creek zu bringen.“

„Gutes Tier!“ Damit war dieses Thema für Krister beendet.

Nun stellte sich die Frage, wie wir die Nacht verbringen wollten. Es wäre nicht die erste, die ich auf einem Boot verbrächte. Das Festland lag freilich nicht weit entfernt in östlicher Richtung, doch mitten in der Nacht zu versuchen, an einer unbekannten Küste zu landen, grenzte an Wahnsinn. Die See versprach ruhig zu bleiben. Auch der Himmel sah nicht so aus, als wollte er in den kommenden Stunden ein Unwetter ausbrüten. Also wählten wir die unter diesen Umständen einfachste Lösung: eine Nacht auf dem offenen Meer. Das versprach nicht sehr bequem zu werden.

Um das Boot zu sichern, war es unerlässlich, Wache zu halten. Ich erklärte mich bereit, die erste zu übernehmen, da ich aufgrund der vorangegangenen Ereignisse sowieso nur wenig Müdigkeit verspürte. Luke und Krister legten sich auf die Planken und schliefen ein. Mit dem Ruder fest in der Rechten blieb ich auf nordöstlichem Kurs. Der Wind ließ noch weiter nach, was ich gleichwohl begrüßte.

Meine Gedanken schweiften ab. Ich fragte mich irgendwann, warum der letzte Kontakt zu anderen Menschen ein derart feindseliger gewesen war. Hatten wir uns falsch verhalten? Musste ich mir etwas vorwerfen? Ich erkannte jedoch keine eigenen Fehler. Sich zur Wehr zu setzen durfte uns niemand vorwerfen.

Mit einem Ruck schreckte ich hoch. Irgendetwas Großes war mit der Unterseite des Bootes in Kontakt gekommen. Leichtes Raunen ging durch die Querspanten, als sich der Kahn für einen Moment sacht nach steuerbord neigte. Hatte uns eine einsame Woge längsseits gestreift? Unwahrscheinlich, die Meeresoberfläche schimmerte wie ein glatter Spiegel im Mondlicht. Ich tippte auf einen neugierigen Ichthyon und lauschte aufmerksam. Aber alles war wieder ruhig.

Kurz bevor mich die Müdigkeit zu übermannen drohte, weckte ich Krister, der ohne zu murren die nächste Wache übernahm. Todmüde legte ich mich nieder und schlief noch in der Bewegung ein.

So endete ein langer Tag, der eigentlich in der sicheren Obhut eines einladenden Gasthauses in einem weichen Bett hätte ausklingen sollen, auf den harten Planken unseres Bootes, das sanft durch die Weiten der Moa Bay in Richtung offene Tethys schaukelte.

07 ERGELAD

Der neue Tag empfing uns Reisende von seiner freundlichsten Seite. Kein Wölkchen trübte den nahezu pathetisch strahlend blauen Himmel. Die blendende Sonnenscheibe schickte schon vom frühen Morgen an wärmende Strahlen, die unsere ausgekühlten Körper mit neuem Leben erfüllten.

Als ich die Augen aufschlug, lag Krister noch schlafend neben mir. Über uns flatterte das Hauptsegel leise raunend im Wind. Luke saß achtern und hielt, die geschlossenen Augen himmelwärts gerichtet, das Ruder fest in der Rechten. Ich beobachtete ihn eine Weile. Er schien zu träumen, ein kleines zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen. Ich kam nicht umhin ihn für einen Moment zu bewundern. Uns trennten nur wenige Jahre, doch hatte ich mich ihm bisher als der Ältere, der ich nun einmal war, stets überlegen gefühlt. Aber stimmte das wirklich? Ich bemerkte, ihn um seine vorbehaltlose Verbundenheit mit der Natur zu beneiden. Ohne Frage liebte auch ich sie, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Luke indessen schien eine Einheit mir ihr gefunden zu haben, die mir bisher verschlossen blieb. Abermals stellte ich fest, mich ihm einen weiteren Schritt anzunähern. Welch eine Veränderung innerhalb der wenigen Tage, die wir drei auf diesem Boot verbracht hatten! Mich aus der Decke schälend stand ich auf und streckte ausgiebig meine von der Nachtruhe noch steifen Glieder.

„Guten Morgen!“ kam es von achtern.

Ich warf Luke einen brüderlichen Blick zu und erwiderte lächelnd seinen Gruß. Er schien die positive Veränderung in mir zu bemerken und grinste zurück.

„Das war eine Nacht, was? Junge Junge, mit euch zusammen wird es wirklich nicht langweilig. Schade, dass unsere gemeinsame Reise bald zu Ende sein wird. Ich gewöhne mich schon an all die Aufregungen.“

Ich wusste nichts darauf zu sagen. Erwartete er am Ende womöglich ein Angebot meinerseits, ihn in Hyperion doch nicht wieder wie ausgemacht heimzuschicken? So weit ging meine erwachende Sympathie dann doch nicht.

Bei der ersten Gelegenheit legten wir an. Nach Kristers Einschätzung befanden wir uns bereits nahe am östlichen Eingang des Zadarkanals, auch wenn sich Zadar, die große Barriereinsel, weiterhin verborgen hielt. Wir waren zwar noch mindestens zwei Tagesreisen von der Mündung des Skelettflusses entfernt, dennoch ließ sich die Aufregung vor dem Unbekannten nicht mehr leugnen. Wir näherten uns langsam aber stetig verbotenem Land.

Die Küste nordöstlich Van Diens erwies sich freundlicher und einladender als noch die Tage vorher. Die schroffen Felsen wichen langen, ausgedehnten Sandstränden und weitläufigen Dünen. Auch vom Boot aus entgingen uns die Mamoras nicht, die sich träge an der Küste im dunklen Sand wälzten und die Sonne auf den Pelz scheinen ließen. Als wir uns annäherten, zogen sie es allerdings vor, das trockene Element zu verlassen und zielstrebig ins sicherere Nass zu flüchten. Mamoras fürchten den Menschen nicht zu Unrecht. Er stellt neben dem Ichthyon ihren größten Feind dar. Die erfolgreiche Jagd auf diese imponierende Reptilienart bedarf großer Erfahrung und wie so oft einer Portion Glück. Ich fragte mich, ob sie sich jenseits des Skeleton River zutraulicher zeigen würden.

Nach erfolgreicher Landung machten wir uns sogleich an die Arbeit. Krister warf die Angelschnüre aus, Luke klaubte trockenes Feuerholz zusammen und ich, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, suchte mein Glück auf der Jagd. Eine Stunde später brutzelten auf dem offenen Feuer zwei dicke Barsche und ein säuberlich gehäutetes und ausgenommenes Rotkaninchen. Der Tag fing gut an.

„Was ist das denn?“ Angewidert zeigte Krister auf eine undefinierbare schwarze Masse, die am äußersten Rand der Glut schmorte. „Sieht aus wie Mamorascheiße.“

„Ist es nicht. Ich frage mich, wie du darauf kommst. Hier liegt genug Mamorascheiße herum, du solltest allmählich wissen, wie sie aussieht.“

Gut pariert! Grinsend beschloss ich, Partei für Luke zu ergreifen. Natürlich nicht zu offensichtlich.

„Und was ist es nun?“ erkundigte ich mich, natürlich nicht zu interessiert. „Sieht nach Seetang aus.“

„Richtig erkannt, Jack. Ja, es ist Seetang. Kurz angebraten schmeckt er ganz gut.“

Kristers unwilliger Gesichtsausdruck ließ mich auflachen, eine Reaktion, die ich schnell bereute. Der eisige Blick, den mir Luke zuwarf, verfehlte sein Ziel nicht.

„Spotte nur, Krister“, versuchte ich die Situation zu retten. „Du als ausschließlicher Fleischfresser findest dafür zweifelsohne kein Verständnis. Ich für meinen Teil werde auf jeden Fall davon kosten.“

Nicht wissend wie weit meine Fürsorge für Luke gehen durfte, ohne selbst Schaden zu nehmen, ließ ich mir eine winzig kleine Portion Seetang reichen. Krister hatte Recht. In gekochtem Zustand sah das Zeug Mamorascheiße noch ähnlicher. Ja, zum Verwechseln ähnlich. Und es klebte auch exakt so an den Fingern.

Seetang wurde auch in Stoney Creek verzehrt, dessen war ich mir wohl bewusst. Als einen Freund dieser Nahrungsquelle durfte ich mich jedoch nicht bezeichnen. Sogar Rob, der im Grunde alles aß was irgendwann einmal gelebt hatte, konnte ihr wenig abgewinnen. Gab es eigentlich irgendjemanden, der diesen Glibber mit Genuss schluckte?

„Na dann!“ spornte ich mich selber an und stopfte die lauwarme Masse in den Mund. Gequält lächelnd begann ich zu kauen und versuchte dabei nicht an Exkremente zu denken, was mir schwer fiel, denn genau so mussten sie schmecken.

Krister probierte grinsend den fast garen Fisch.

„Jetzt tut es mir richtig leid, das Fischgedärm schon entfernt zu haben. Es war voll leckerer Scheiße, die hättet ihr schön anbraten und fein würzen können. Hätte euch beiden Feinschmeckern sicherlich vorzüglich gemundet.“

In erwachender Einigkeit wussten Luke und ich, was nun zu tun war. Einen Wimpernschlag später klebte halbgarer Seetang in Kristers verdutztem Gesicht. Er benötigte einen langen Augenblick, um in unser Gelächter einzustimmen, aber dann johlten wir alle, bis uns die Bäuche weh taten. Ich bin mir heute noch nicht sicher, ob es Luke wirklich entgangen war, wie ich währenddessen meine Portion Seetang ausgespuckt und verstohlen mit Sand bedeckt hatte.

Um nicht in die Sawyer Bay zu geraten, was einen zu großen Umweg bedeutet hätte, nahmen wir nach Verlassen der Moa Bay Kurs offene See. Mich am Sonnenstand orientierend, hielt ich den Kahn in streng östlicher Richtung. Gegen Mittag frischte der Westwind wieder auf, was unserer Reisegeschwindigkeit wie schon am gestrigen Tag sehr zuträglich war. Alles klappte wie am Schnürchen. Noch weit vor Sonnenuntergang tauchten sie aus dem dunstigen Horizont auf, die Gestade Zadars, der großen Barriereinsel. Wie ein vorgelagerter Schutzschild zog sie sich annähernd dreihundert Meilen entlang der nordöstlichen Küste des Kontinents hin und schirmte das dahinterliegende Land von der offenen Tethys ab. Ziemlich genau in der Mitte, einer gedachten Verlängerung des Skelettflusses folgend, lag die historische Grenze zwischen Aotearoa und Laurussia. Nach dem Krieg zeigten sich die Menschen diesseits des Skeleton nur noch wenig interessiert an „ihrem“ Anteil Zadars, der sich eindeutig zu nahe an Feindesland befand und zudem keine schützende natürliche Grenze aufwies. Obendrein wurden auf der mit Abstand größten Insel Gondwanalands die Opreju vermutet, ein weiterer Grund, ohne Bedauern zu verzichten.

Alten Erzählungen nach war Zadar einst an ihrem östlichen Ende durch eine schmale Landzunge mit Travorsa verbunden, der drittgrößten Insel Gondwanalands. Manche behaupten, sie sei sogar die zweitgrößte. Ich für meinen Teil verwies Travorsa eher auf Platz vier. Den eindrucksvollen Landkarten, die sich unter den Aufzeichnungen von Radan befanden, galt mein vollstes Vertrauen. Tief im Süden, jenseits des Landes Nepondria, zeigten sie eine weitere beachtliche Insel mit dem Namen Irndo, eindeutig größer eingezeichnet als Travorsa. Und ewig weit im Westen Gondwanalands, am anderen Ende der gewaltigen Landmasse, die sich vom Großen Barrieregebirge bis hin zur westlichen Tethys zog, lag die stattliche Vulkaninsel Araka, die es meiner Meinung nach durchaus mit Travorsa aufnehmen konnte. Es war an der Zeit wieder einmal einen Blick auf die vergilbte Karte zu werfen, die ich im Rucksack verwahrt mit mir führte.

Welche natürlichen Prozesse zum Verschwinden der Landbrücke zwischen den beiden Inseln geführt hatten, Seebeben oder vulkanische Aktivitäten, wusste niemand. Gegenwärtig trennt der nur wenige Kilometer breite und nicht unbedingt tiefe Travorsakanal die beiden Inseln voneinander.

Travorsa, die auch die Toteninsel genannt wird, gilt seit Menschengedenken als Wiege der Opreju. Auf ihr soll der Legende nach der Ursprung dieser sagenumwobenen Lebensform zu finden sein. Gerüchte, nach denen bei extremem Niedrigwasser die beiden Nachbarinseln hin und wieder kurzzeitig eins werden, taten ihr weiteres, um das Interesse an einer Besiedlung Zadars zu dämpfen. Dieser Insel näherten wir uns nun, mit der Absicht, die Nacht darauf zu verbringen. Bei dem Gedanken daran gruselte es mich ein wenig. Es konnte bedeuten, zum ersten Mal auf Opreju zu treffen, auch wenn ich nicht recht daran glauben wollte. Früher oder später hätten auch wir Hinterwäldler in Stoney Creek davon erfahren, sollten auf Zadar die Opreju sitzen.

„Was ist das?“ Lukes Ruf ließ unsere Blicke automatisch seinem ausgestreckten Zeigefinger folgen, der nach Nordwesten und damit von der Insel weg zeigte.

Ich konnte nichts entdecken. Krister erging es ähnlich.

„Ich sehe nichts“, meinte er. „Wo soll es denn sein?“

„Na dort! Seid ihr blind? Es ist ein Boot. Ziemlich weit weg, aber immerhin ein Boot!“

So sehr ich mir auch die Augen aus dem Kopf schaute, es gelang nicht, irgendetwas anderes auszumachen als unzählige mit Schaumkronen verzierte Wellen und Scharen fischender Seevögel.

„Du musst dich irren“, meinte Krister schließlich.

„Nun sehe ich es auch nicht mehr.“ Luke zeigte sich einigermaßen enttäuscht, uns seine Entdeckung nicht vermittelt haben zu können. „Aber es war ein Boot. Das Segel war unverkennbar!“

„Vielleicht ein auf der Stelle schwebender Vogel?“ mutmaßte ich. „Die Entfernung gaukelt einem schon manchmal ein Trugbild vor.“

Luke sah mich entrüstet an. „Glaubst du etwa, ich kann einen Vogel nicht von einem Segel unterscheiden?“

„Selbst wenn es ein Boot war...“, begann Krister.

„Es war ein Boot!“ beharrte Luke eisern.

„Wie dem auch sei. Nicht unbedingt ungewöhnlich. Wir befinden uns kaum eine Tagesreise entfernt von Van Dien. Warum sollten wir die einzigen sein, die in dieser Gegend herumschippern? Womöglich sind hier gute Fischfanggründe.“

Ich nickte zustimmend. „Im Grunde wundert es mich mehr, noch niemandem begegnet zu sein. Schließlich gehören diese Gewässer zu Aotearoa und liegen zudem vor der Haustür seiner größten Stadt.“

„Ein gutes Zeichen“, schloss Krister. „Damit sind meine letzten Zweifel an einer Landung auf Zadar beseitigt.“

„Ach, hattest du welche?“

„Du etwa nicht, Jack?“

„Einige wenige vielleicht. Aber da merkt man doch, wie tief sich die Ammenmärchen unserer Kindheit ins Gedächtnis gebrannt haben. Die unmittelbare Nähe zur Toteninsel lässt einen sofort an Geister und andere Ungeheuer denken.“

„Und an Opreju“, erinnerte Luke.

„Auch nichts anderes als Gespenster“, winkte Krister ab. „Ich habe noch nie an sie geglaubt. Und zu deiner Information, Jack: Die Toteninsel liegt gute vierhundert Meilen in dieser Richtung.“ Er zeigte nach Südosten. „Von ‚unmittelbarer Nähe’ kann keine Rede sein.“

„Ja, jetzt noch nicht. Wir werden sehen, wie du in ein paar Tagen darüber denkst.“

Bei Ebbe setzten wir das Boot mit einem kräftigen Ruck auf Grund. Dies geschah nicht unerwartet, hatten wir die stetig abnehmende Wassertiefe doch genauestens im Auge behalten und das Segel beizeiten eingeholt. Die See hatte sich weit zurückgezogen und entblößte ihr Bett aus schmutzig grauem Schlick, das wenig dazu einlud, den Kahn an den schätzungsweise fünfhundert Meter entfernten Strand hoch zu schleppen.

„Wann ist eigentlich Flut?“ fragte ich in die Runde und erntete allgemeines Achselzucken. Wir konnten schlecht an Land waten und das Gefährt alleine zurücklassen. Also beförderte Krister kurzerhand seinen Stiefbruder zum Kommandanten und übertrug ihm die volle Verantwortung für das Boot, was im Kern nichts anderes bedeutete, als auf das irgendwann eintreffende Hochwasser zu warten. Luke freundete sich damit schnell an. Selbstsicher nahm er am Ruder Platz und beobachtete uns gähnend beim Marsch durch den zähen Schlick.

Während der Wattwanderung fielen mir die zahlreichen handtellergroßen Krebse auf, die sich eingebuddelt im lockeren Schlamm in Sicherheit wiegten. Ihre stattlichen, fremdartig bläulich schimmernden Scheren ragten hier und da abwehrbereit hervor. Mit dem Eisenstab hebelte ich ein wahrhaft monströses Exemplar aus seinem glitschigen Versteck, pinnte es auf den Rücken und nahm die beeindruckenden, unfügsam auf- und zuschnappenden Verteidigungswerkzeuge in Augenschein. Zwei bis drei Dutzend Scheren würden für eine Mahlzeit ausreichen, schätzte ich.

Kurze Zeit später brieten auch schon sechs ansehnliche Exemplare im Feuer vor sich hin. Ich hatte mir die Freiheit herausgenommen, sie nach der Größe ihrer Scheren auszuwählen, die mir so bereitwillig entgegengestreckt wurden. Nachschub sollte kein Problem darstellen, so dachte ich. Es wimmelte geradezu von ihnen. Aber die erstaunlich schnell zurückkehrende See machte einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Wieder in ihrem natürlichen Element, begnügten sich die Krebse nicht mehr damit, sich dem hinter ihnen herjagenden Schatten durch flinkes Eingraben zu entziehen. Mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit, die ich ihnen niemals zugetraut hätte, nahmen sie stattdessen auf munteren sechs Beinen Kurs offene See Reißaus. So blieb uns der ersehnte Nachschlag süßen Fleisches trotz allen guten Willens und ebensolcher Hartnäckigkeit verwehrt.

Wir gaben es schließlich auf.

Nicht so Luke. Er hatte sich, wie es aussah erfolgreich, nach Alternativen umgesehen. Die Hosentaschen gefüllt mit walnussgroßen Mollusken watete er an den Strand zurück. Krister beobachtete ihn skeptisch.

„Sieht so aus, als will er uns diesmal endgültig vergiften“, mutmaßte er argwöhnisch. „Es wird wohl besser sein, die Angeln auszuwerfen, wenn wir nicht all zu hungrig schlafen gehen wollen.“

Das Jagdglück blieb ihm dieses Mal allerdings verwehrt. Der erfolgsverwöhnte Jäger kehrte nach Einbruch der Dunkelheit mit leeren Händen zurück. Kein Fisch. Auch in den Rucksäcken fand sich nichts mehr Verwertbares. Alle Vorräte von zu Hause waren unwiderruflich aufgebraucht. Indessen schälte Luke geschäftig mit Hilfe seines Messers die in ihren Gehäusen gekochten Seeschnecken heraus.

„Du machst das nicht das erstemal, hab ich Recht?“

„Da liegst du ganz richtig, Jack.“ Mehr als einen Happen machte der an der Messerspitze hängende graue Klumpen nicht aus. Im nächsten Moment führte ihn Luke an den Mund und begann auch schon genüsslich zu kauen. Aus sicherer Entfernung fragte ich erkennbar angewidert: „Es gibt nicht viel, wovor du dich ekelst, stimmt’s?“

„Da liegst du wieder richtig“, kaute Luke. Seine wachen Augen beobachteten mich genauestens. „Willst du probieren?“

„Besser nicht“, wehrte ich ab. „Lass dich nicht bei deiner Mahlzeit stören.“ Nach kurzer Pause und einer weiteren verspeisten Molluske konnte ich mir nicht verkneifen ihn zu fragen: „Was würdest du eigentlich noch alles essen, wenn es sein müsste?“

Luke musste zu meinem Schrecken nicht großartig nachdenken. „Raupen sind gut. In Honig gekocht. Oder geröstete Heupferde. Die würde ich auch ohne Zwang essen.“ Er lachte, als er mein ablehnendes Gesicht sah. „Mutter Natur versorgt dich mit allem nötigen. Die Krebse vorhin hast du doch auch mit Genuss verspeist.“

„Krebse sind etwas ganz anderes!“

„Wenn du meinst.“ Und aß Schnecke Nummer drei, ohne mich aus den Augen zu lassen. In der Tat hatte mich Luke zum Nachdenken angeregt. Bestimmt würde irgendwann der Tag kommen, an dem kein Fleisch auf unserem Feuer landete. War es nicht falsch, ja geradezu töricht, aus einem simplen Vorurteil heraus Alternativen auszuschließen? Luke sah jedenfalls ganz so aus, als genoss er sein Mahl. Und er schien Gedanken lesen zu können.

„Interesse?“ Schon hielt er mir Schnecke Nummer vier unter die Nase. Aus der Nähe betrachtet sah sie gar nicht mehr so widerlich aus. Die üble Erfahrung mit dem gestrigen Seetang ließ mich weiterhin zögern. „Nimm schon!“

„Gut, aber nur um dir zu zeigen, dass ich Neuem sehr wohl aufgeschlossen bin.“ Und hungrig wie ein eingesperrtes Tier. Mit Daumen und Zeigefinger nahm ich die Molluske von Lukes Messer und stopfte sie endlich zwischen die Zähne. Und siehe da! Niemals hätte ich vermutet, dass ein auf dem Meeresboden herumkriechendes Schleimtier so vortrefflich schmeckte. Zart wie Geflügel, aber längst nicht so faserig.

„Und?“ erkundigte sich Luke, Schnecke Nummer fünf aus der Schale pulend.

Ich zwinkerte kameradschaftlich. „Lass mir noch was übrig, okay?“

Das Eis begann merklich zu tauen.

Später löschte Krister das Feuer. Diese Vorsichtsmaßnahme galt der Anwesenheit möglicher Gefahren. Ich fühlte mich zwar relativ sicher, dennoch durften wir uns die Sorglosigkeit der vergangenen Nächte nicht mehr erlauben. Immerhin gehörte Zadar streng genommen bereits zum Reich der Opreju, auch wenn der Eroberer in mir dies vehement ablehnte. Unsere Augen gewöhnten sich rasch an das klare Sternenlicht. Nun stand einem Standortwechsel nichts mehr im Wege. Das Boot im knietiefen Wasser hinter uns her ziehend wanderten wir los in Richtung Osten, Entfernung zwischen uns und die verräterische Feuerstelle bringend.

Am Rand einer kleinen Bucht ließen wir uns im tiefschwarzen Schatten einer Baumgruppe zum Schlafen nieder. Wir losten aus, wer die erste Wache zu übernehmen hatte. Diese Prozedur sollte in den kommenden Wochen zur Routine werden. Für heute Nacht traf es Krister. Luke und ich wickelten uns in die Decken und schliefen rasch ein. Ohne zu murren trat ich Stunden später meinen Teil der Wache an. Die See hatte sich wieder weit zurückgezogen, das Boot lag weit zur Seite geneigt auf dem Trockenen und schien ebenfalls tief und fest zu schlummern. Von weit her drang gedämpftes Meeresrauschen. Die Ebbe musste ihren tiefsten Stand erreicht haben. Schlaf gut, Rob, wo immer du auch sein magst. Ich werde dich finden. Verlass dich drauf!

Das dürftige Abendessen und ein komplett ausgefallenes Frühstück sorgten anderntags für schlechte Laune. Die Reise führte uns den ganzen Vormittag entlang der Küste Zadars. Kristers Fangleinen erschienen den Fischen wohl ebenso unattraktiv wie uns die eintönig vorbeiziehende Küstenlandschaft. Das Innere Zadars bestand offensichtlich nur aus Dünen. Eine langgestreckte Wüste am Rande des Kontinents. Wir mussten bald etwas Nahrhaftes auftreiben. Schon rächte es sich, in Van Dien nicht zum Aufstocken der Vorräte gekommen zu sein. Warum nur die Fische nicht anbissen! Wenigstens Wind und Wetter spielten uns in die Hände.

Zum x-ten Male überprüfte Krister die Angelhaken. „Schau dir das an!“ knurrte er resignierend. „Jetzt ist auch der letzte Köder bis auf die Gräten abgenagt. Mit einem blanken Haken kann ich nichts ausrichten.“

Ich nickte teilnahmsvoll. „Das Trinkwasser geht auch bald zur Neige. Was hältst du von einem kleinen Jagdausflug?“

„Davon halte ich ganz viel. Je eher desto besser.“

Die zweite Landung auf der Großen Barriereinsel erfolgte bei Flut und entsprechend unkomplizierter. Luke versprach in der Nähe des Bootes zu verweilen, während Krister und ich ins Innere der Insel vorzudringen gedachten, um etwas Essbares und Wasser zu finden. Zu diesem Zweck füllte ich die Reste aus drei Wasserbeuteln in einen um, den ich Luke in die Hand drückte.

„Bei Gefahr schnappst du dir den Kahn und bringst ihn in Sicherheit!“ sagte ich zu ihm. „Das Boot ist unser kostbarstes Gut. Wenn es verloren geht, kommen wir hier nie wieder weg.“

„Verstanden. Und was ist mit euch?“

„Mach dir um uns keine Sorgen!“ sagte Krister. „Natürlich kann es etwas dauern, bis wir wieder hier sind, hängt davon ab, wie hold uns das Jagdglück ist. Du kannst jedoch davon ausgehen, dass wir nicht mit leeren Händen zurückkommen werden.“

Ich legte den Köcher mit den Pfeilen an und prüfte die Sehne des Bogens. Krister nahm den Eisenstab an sich. Dann rückten zwei hungrige Jäger in das Innere Zadars vor. Das ebene, nur spärlich mit niederer Vegetation bewachsene Gelände stellte keine Herausforderung dar. Nach einer guten halben Stunde Marschierens änderte sich die Situation jedoch. Der Boden versandete zusehends. Buschwerk zog sich zurück. Schon von weitem erblickten wir jene hohen Dünen, die mir schon vom Meer aus aufgefallen waren. Mit jedem Meter, den wir uns näherten, schienen sie noch an Größe zuzulegen. Die Existenz von Sandbergen dieser Kategorie entzog sich bisher meiner Kenntnis.

„Nicht schlecht“, meinte ich, auf die Wand aus Sand vor uns deutend. „Und ich dachte immer, die Dünen von Aiutaia hielten den Rekord. Man lernt doch immer etwas Neues dazu.“

Krister nickte nur. Ihm war genau so klar wie mir, diese Barriere nur mit großer Anstrengung überwinden zu können. Eine Anstrengung, die wahrscheinlich nicht lohnen würde. Enorm steil ging es nach oben, dreißig Meter, wie ich schätzte. Zu meiner Überraschung sagte Krister unvermittelt: „Ich sehe mir das mal an“, und machte sich ohne ein weiteres Wort an den Aufstieg.

„Du willst da hoch?“ fragte ich ungläubig.

„Ja, ich will wissen, wie es dahinter weitergeht. Hier, fang!“ Er warf mir den Eisenstab zu. Breitbeinig und unter Zuhilfenahme von Armen und Händen grub sich Krister in die bröckelnde Wand und begann mit dem Aufstieg. Er machte das richtig gut, stellte ich neidlos fest. Die kraftvollen Bewegungen wirkten mühelos, es sah kinderleicht aus. Nur der Schweiß auf seinem im gleißenden Sonnenlicht glänzenden Rücken zeugte von der Schufterei, der er sich so bereitwillig hingab. Endlich oben angelangt wandte er sich um und winkte, bevor er aus meinem Sichtfeld verschwand. Da stand ich nun und glotzte dümmlich in die Höhe.

„Was siehst du?“ rief ich endlich.

Keine Antwort.

„Krister?“ Geduld zählte eindeutig nicht zu meinen Stärken. Als zehn Sekunden später immer noch keine Antwort kam, war es um meine Beherrschung geschehen. Ebenso kraftvoll aber sicherlich weniger geschickt hastete ich die Sanddüne hoch, wobei Kristers tiefe Spuren nicht unerheblich Hilfestellung leisteten.

Auf halber Höhe hielt ich inne und lauschte. Hatte da jemand meinen Namen gerufen? Mein Pulsschlag beschleunigte nochmals, auch wenn das unter den gegebenen Umständen kaum möglich war.

Die restlichen Meter hetzte ich regelrecht hinauf. Da lag Krister. Auf dem Bauch. Alle viere von sich gestreckt. Einen Sekundenbruchteil später kniete ich tief besorgt neben ihm. Ein Blick in sein zu einem breiten Grinsen verzogenes Gesicht bedeutete mir jedoch sogleich, ihm wieder einmal auf den Leim gegangen zu sein. Seine zuweilen derben Scherze enstprachen nicht jedermanns Geschmack. Für einen Moment verspürte ich gewaltige Lust, ihn zu verprügeln.

„Du enttäuschst mich nicht, Jack.“ Seine von der Sonne gebleichten Locken wehten verspielt im Wind. „Rekordzeit. Ich hätte dich eine halbe Minute später erwartet. Kompliment!“

„Wahnsinnig ulkig, du schwachsinniger Esel!“ Ich stand auf und wandte mich demonstrativ der Umgebung zu.

„Tolle Aussicht, was?“ Schon lehnte Krister an mir, versöhnlich einen schweren Arm um meine Schultern gelegt. Von unserer Warte aus bot sich ein eindrucksvoller Fernblick auf eine ausgedehnte Dünenlandschaft, die in drei Himmelsrichtungen bis zum Horizont reichte. In unserem Rücken lag die See. Wir entdeckten sogar das auf den Strand hochgezogene Boot.

„Schöne Gegend, fürwahr“, konnte ich nur bestätigen. „Diese Wüstenei wird unsere Mägen allerdings nicht füllen. Und nach Wasser sieht es hier auch nicht aus.“