Kitabı oku: «Sentry - Die Jack Schilt Saga», sayfa 8

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„Wir müssen vorsichtig sein“, warnte Krister. „Die Passage ist an manchen Stellen außerordentlich schmal und ab und an herrscht kräftige Strömung. Wir müssen rudern und das Boot wenn nötig mit Hilfe der Paddel von den Felsen fernhalten.“

Ich ergriff das zweite Ruder und machte mich an die Arbeit. Luke stand am Bug und hielt Ausschau nach tückischen Unterwasserfelsen. Wir ruderten vorsichtig in den Kanal hinein. Das Donnern der Brandung nahm zu. Auch das ohrenbetäubende Geschrei der Seevögel steigerte sich zu einem wahren Stakkato. Das Boot begann hin und her zu schaukeln.

„Nach Backbord!“ rief Luke plötzlich. „Felsen voraus!“

Mit einigen kräftigen Ruderschlägen manövrierten wir das Boot wie geheißen und näherten uns gefährlich nahe der schroffen Wand des Schildkrötenfelsens. Nur drei Meter – wenn nicht weniger – schmatzendes und gurgelndes Wasser befanden sich zwischen ihm und einer Kollision mit ungewissem Ausgang. Ich spürte kalten Schweiß auf der Stirn.

„Die Stelle kenne ich“, meinte Krister mit ruhiger Stimme. „Aber keine Sorge, wir haben Flut, der Kanal ist tief genug.“

Ich lächelte schwach, vertraute ihm jedoch voll und ganz. Wäre die Durchfahrt zu problematisch, würde Krister sie niemals angehen. Dennoch wurde meine Zuversicht wenig später erschüttert.

Den gefährlichen Felsen, der nur wenige Zentimeter aus dem Wasser geragt hatte hinter uns lassend, versuchten wir wieder in die Mitte des Kanals zu gelangen, als eine kräftige Welle das Boot unerwartet anhob. Das Heck brach sofort nach backbord aus, und schon stellten wir uns inmitten des engen Kanals quer. Fluchend steuerten Krister und ich gegen, doch war es bereits zu spät. Bösartig knirschend schlug das Heck gegen die Felsen. Holz splitterte. Zudem schrammte die Unterseite irgendwo entlang. Das schleifende Geräusch tat mir körperlich weh. Ich hakte das Ruder waagrecht in den Fels und drückte mit aller Kraft dagegen, um wieder Abstand zu gewinnen. Ächzend und stöhnend und mit Hilfe einer neuen Woge hob sich das Boot, gewann an Auftrieb und glitt in die Kanalmitte zurück.

„Das war knapp“, keuchte ich. „So etwas darf nicht noch einmal passieren!“

Natürlich traf niemanden die Schuld an dieser Kollision, die glücklicherweise folgenlos blieb. Es erwies sich weiterhin als ein mühsames Geschäft, durch den langen Kanal hindurch zu navigieren. Verschieden starke Strömungen zogen das Boot mal nach links, dann wieder nach rechts, doch gelang es uns, ein zweites Rendezvous mit den Felsen zu verhindern.

„Dort vorne ist die Lagune“, hörte ich Luke endlich rufen. Der Kanal verbreiterte sich nun zusehends. Die Sonne brach durch die Wolken. In allen vorstellbaren Türkistönen schimmerte das ruhige Wasser der Lagune, und als das Boot in sie hinein glitt, sprang Krister auf die Füße und setzte das Segel. Während ich beide Ruder einholte, übernahm er flink das Steuer und drehte nach backbord ab. Wohin es nun ging, wusste nur er. Bald steuerten wir auf eine winzig kleine, mit schneeweißem Sand gesäumte Bucht zu.

„Da ist sie!“ hörte ich Krister mit entrückter Stimme sagen. „Savas Bucht.“

Ich war bestürzt. Er war also schon einmal mit ihr hier gewesen! Ich musste ihn so merkwürdig angesehen haben, dass er meinen Gedanken erriet. „Keine Sorge, Jack, ich habe die Bucht nur nach ihr benannt, sie selbst hierher zu bringen, hätte ich nie gewagt.“

Warum mich diese Worte erleichterten, begriff ich selbst nicht.

Wir warfen alles Gepäck in den strahlend weißen Muschelkalk, der die kleine Bucht säumte. Hier würde es sich vorzüglich schlafen lassen! Kaum ruhte das Boot sicher und fest, begann Krister im Schatten einer der wenigen Bäume, die hier Wurzeln zu schlagen wagten, zu graben. Wenig später brachte er eine eiserne Harpune zu Tage, die er mir stolz in die Hand drückte. Sie maß anderthalb Meter, und ich erstarrte, als ich den kalten Stahl in den Händen spürte.

„Sie ist aus Eisen!“ Ich sah ihn mit offenem Mund an. „Wo hast du sie her?“ Die Kunst des Eisengießens war im Großen Krieg verloren gegangen, eine Fähigkeit, die die Menschen erst seit kurzem wieder zu erlernen begannen. Eisenerz kam in Avenor nicht vor. Man fand es jedoch sehr wohl in den sogenannten Kupferbergen, die das nordöstliche Ende des Zentralmassivs bildeten, nahe der Grenze zwischen Aotearoa und Laurussia, dort, wo das Gebiet der Opreju begann. Unter normalen Umständen wagte sich niemand dorthin. Das wenige Eisen, das in Avenor kursierte, wurde zum größten Teil durch Einschmelzen alter Waffen aus dem Großen Krieg gewonnen, die sich immer wieder auf den ehemaligen Schlachtfeldern fanden. Aber auch das Verarbeiten von qualitativ schlechterem Sumpferz war weit verbreitet.

„Wo hast du sie her?“ fragte ich.

Krister grinste breit. „Ich fand sie vor vielen Jahren in einem Wrack an der Mündung des Sawyer. Ein uraltes Wrack, wohlgemerkt. Keines aus unserer Zeit. Ein Handelsschiff aus Van Dien, wie ich annehme. Vielleicht eines der Schiffe, die Lake Sawyer und die alte Hauptstadt miteinander verband. Wie auch immer, als ich das Wrack zufällig fand, musste ich natürlich hinuntertauchen.“

„Mit wem warst du dort?“ fragte ich. Mir war sofort klar, dass er niemals alleine in ein unbekanntes Wrack tauchen würde. Ich traute Krister zwar sehr viel zu – vielleicht zu viel – aber eines war er bestimmt nicht, sträflich leichtsinnig.

„Mit Rob natürlich“, erwiderte Krister.

„Er hat mir nie etwas davon erzählt“, murmelte ich und fühlte mich betrogen.

„Es gibt so manches, was du nicht weißt. Ich tauchte also hinunter, ein altes Wrack, halb im Schlamm versunken. Es lag tief und mir blieb nicht viel Zeit. Ich wühlte ein wenig hier und ein wenig da und fand diese eiserne Harpune. Mit ihr habe ich der Yandurakolonie hier schon das Fürchten gelehrt. Das Eisen geht durch ihre Panzer hindurch wie nichts.“

„Da kannst du drauf wetten.“ Die Waffe wog schwer in meinen Händen. „Ihr tatet gut daran, sie hier zu verstecken. Zuhause hätten sie sie euch sofort abgenommen.“

„Ja klar, und irgendeinen Scheiß daraus gegossen für die Landwirtschaft oder was weiß ich was“, argwöhnte Krister angewidert. „So etwas Edles darf man einfach nicht zerstören.“ Er nahm mir die Harpune wieder ab und prüfte die Schärfe der Spitze. Augenblicklich floss Blut. „Gut, sie ist noch messerscharf. Na dann, ich kann es kaum erwarten. Kümmert ihr euch ums Feuer?“ Und schon lief er los. Wohin konnte ich nur ahnen. Wohl zu den nur ihm und Rob bekannten Fanggründen.

„Vergiss es“, erwiderte ich sofort. „Ich komme natürlich mit.“

„Ja, geht nur“, gab Luke von sich, der der kostbaren Harpune wenig abgewinnen konnte. Er wirkte beinahe froh ob der Aussicht, uns für eine gewisse Zeit loszuwerden.

Krister und ich kraxelten das Kliff hinauf, das uns über eine Art Grat steil nach oben führte. Von dort aus blickten wir zurück auf Savas Bucht, auf das kleine Boot, das im Sand ruhte. Krister winkte Luke zu, der sich, soweit ich das sehen konnte, ganz und gar dem Sammeln von Treibholz hingab.

„Der Träumer hört und sieht jetzt nichts mehr“, sagte Krister kopfschüttelnd. „Ist wieder mal eins mit seiner geliebten Natur. Aber wenigstens tut er, was man ihm sagt, darauf kommt es an. Und er tut es gewissenhaft. Ah, siehst du? Hier drüben ist schon die Nachbarbucht, wir haben sie einst Krisberts Bucht getauft.“

„Krisbert?“ Ich erriet die Umstände der Namensgebung und fand sie überaus albern.

„Ja, ein toller Name, nicht wahr?“

„Ja, echt toll.“ Entweder nahm Krister meinen Spott nicht wahr oder bevorzugte es schlicht und einfach ihn zu überhören. Auf flinken Beinen arbeitete er sich das Kliff hinunter. Ich folgte dicht hinterdrein.

„Krisberts“ Bucht besaß keinen Strand. Merkwürdig geformte Felsen, die wie zerklüftete monströse Backenzähne aussahen, ersetzten den weißen Sand, der Savas Bucht ein so anmutiges Aussehen verlieh. Ein kleines Rinnsal sickerte gurgelnd das Kliff hinab und bildete hier und da kleine Pools. Süßwasser! Hier konnten wir also unseren Vorrat an Trinkwasser auffüllen. Das bedeutete mir mehr als eine Yandura zum Abendbrot.

Krister hatte bereits das Ufer erreicht und untersuchte die zahlreichen Spalten im Fels, die wie kleine Kanäle aussahen und jetzt bei Hochwasser geflutet waren. Später, wenn die Ebbe einsetzte, würde sich das Meer zurückziehen und aus den Kanälen isolierte Wasserlöcher formen, in denen allerlei Getier Zuflucht fand. Krebse und kleinere Fische ließen sich dann leicht erbeuten, doch waren wir deswegen nicht hierher gekommen. Unsere Jagd galt einer anderen Spezies.

Yanduras ähneln in ihrem Aussehen den von den ersten Siedlern eingeführten Langusten, einer – wie ich aus den Aufzeichnungen von Radan gelernt hatte – Tiergattung Vestans, die sich jedoch in der Tethys nicht behaupten konnte und wieder verschwand. Die Lagune wimmelte nach Kristers Erzählungen nur so von Yanduras. Es handelte sich hier offenbar um einen bevorzugten Laichgrund. Jetzt so früh im Jahr durfte es noch nicht so weit sein und ich fragte mich gerade, ob Krister nicht sehr enttäuscht mit ein paar auf dem offenen Feuer gebratenen Krebsen Vorlieb nehmen musste, als ich ihn auch schon die Harpune schleudern sah.

Die Waffe verschwand geräuschlos in einem der größeren, bereits vom offenen Meer abgetrennten Wasserlöcher. Von meiner Warte aus gesehen handelte es sich um ein beträchtlich tiefes Wasserloch und tatsächlich hörte ich Krister triumphierend schreien, als er sich die Schuhe abstreifte und kopfüber in den Pool sprang. Kurz darauf tauchte er wieder auf, die Harpune in der Rechten haltend, an deren Spitze eine wild zappelnde Yandura steckte. Ich sprang hinunter und half ihm beim Sichern seiner Beute, während er wieder aus dem Wasserloch herauskletterte.

„Ein Prachtexemplar“, sagte ich bewundernd.

Die Yandura war einen guten halben Meter lang. Ihr schuppiger Schwanz rollte sich frenetisch auf und wieder ein, vier Beinpaare strampelten wie verrückt, zwei furchterregend lange, fingerdicke Fühler schlugen wie Peitschen um sich. Die Harpune hatte das unglückliche Tier genau an der Stelle zwischen Kopf und Rumpf durchbohrt, an der beide Panzerglieder aufeinander trafen und eine verräterische Lücke aufwiesen. Krister hätte die Yandura aber auch überall treffen können, der natürliche Schutz des Tieres hätte dem kalten Eisen der Harpune nichts entgegensetzen können, auch nicht an seiner mächtigsten Stelle.

„Nummer eins!“ Der erfolgreiche Jäger taxierte seine Beute. „Schön fett und schwer. Noch zwei weitere und wir haben genug zu essen heute Abend.“

„Bei deinem Tempo sind wir ja in wenigen Minuten fertig“, sagte ich anerkennend.

„Nun ja, hier ist jetzt erst mal nichts mehr zu holen. Die anderen in dem Pool sind gewarnt und werden bis zum Einbruch der Dunkelheit die Köpfe einziehen. Aber das hier ist ja nicht das einzige Wasserloch weit und breit.“

Während Krister wieder in seine Stiefel schlüpfte und die noch immer zuckende Yandura von der Harpune nahm, fragte ich mich, wie um alles in der Welt es mir gelingen sollte, auch etwas zu erbeuten. Mit meinem Messer würde es niemals gelingen. Ich müsste es in einen Speer umfunktionieren, verspürte aber keine große Lust darauf. Warum sich diese Mühe machen, wenn Krister bereits über eine perfekte Waffe verfügte?

Ich kletterte ans Wasser hinunter, dort wo das Meer träge an Land rollte. Die Sonne verzog sich wieder hinter Wolken und schon sah es um uns herum nicht mehr ganz so perfekt aus. Das Türkis des Wassers verblasste zu schmutzigem Blaugrün, die leuchtenden Farben der Natur überzogen sich mit einem Grauschleier.

Ich beschloss, die Jagd ganz und gar in Kristers geschundenen Händen zu belassen, kniete nieder und tauchte die erhitzten Hände in kühles Seewasser, als mich dieses riesige Auge anstarrte.

Reflexartig zuckte ich zurück.

Was war das gewesen?

Mit klopfendem Herzen wagte ich mich wieder einige Schritte voran und riskierte einen neuerlichen Blick.

Ja, es war noch da.

Ein riesiges Auge, vielleicht anderthalb Meter unter der Wasseroberfläche!

Es lag regungslos da und starrte mich an. Wie gewaltig es war! Dreißig Zentimeter im Durchmesser? Ja, das kam dem ganzen ziemlich nahe. Schließlich nahm ich die Tentakeln und den pfeilförmigen Kopf wahr, in dem das riesige Auge ruhte. Es handelte sich zweifellos um ein Luvium, einen riesigen Oktopoden, einer Kopffüßerart, die an den Küsten Avenors selten geworden war. Stamarinas gab es noch zur Genüge, man musste nur wissen wo. Mir selbst war noch kein Luvium untergekommen, aber ich war überzeugt, hier vor einem Vertreter seiner Art zu kauern.

Vorsichtig zog ich mich zurück. Mein Jagdtrieb flammte auf, welcher sich mindestens ebenso schwer unterdrücken ließ wie Kristers. Ich brauchte die Harpune! Unbedingt!

Zurück am Pool fand ich die inzwischen reglose Yarunda in einer hellrosa Pfütze aus ihren eigenen Körpersäften liegend, aber keine Spur von Krister. Ich rief nach ihm.

„Was ist?“ Er tauchte hinter einem der vielen Backenzahnfelsen auf, die Harpune fest in der Rechten.

„Frag nicht!“ Ich lief zu ihm hinüber. „Gib mir die Harpune und ich besorge uns ein Abendessen, das du nie mehr vergisst.“

Krister zog die Harpune aus meiner Reichweite. „Später“, meinte er kurz angebunden.

Mein aufgebrachter Blick überzeugte ihn dann doch und er reichte mir die Waffe, wenn auch zögerlich. „Wozu brauchst du sie?“

„Wenn mich nicht alles täuscht, liegt dort unten am Strand ein Luvium“, sagte ich aufgeregt. „Es ist riesig, allein das Auge ist so groß wie mein Kopf.“

„Ein Luvium? Bist du sicher? Ich habe noch nie eines gesehen. Sind sie nicht ausgestorben?“

„In der Bay of Islands mit Sicherheit. Aber hier, wo kein Mensch normalerweise einen Fuß hinsetzt, gibt es sie anscheinend noch.“

„Wo ist es?“

„Ja, das könnte dir so passen. Nein, mein Freund, das ist mein Luvium, ich habe es zuerst gesehen. Und ich werde es erlegen.“ Damit schnappte ich die Harpune und rannte zurück. Krister folgte dicht auf den Fersen. Langsam pirschten wir uns an die Stelle heran, an der ich das riesige Tier zuletzt gesehen hatte.

„Mit der Harpune werden wir es wohl kaum töten können“, gab Krister zu bedenken. „Selbst wenn du es triffst, wird es in Richtung offenes Meer abhauen und dort verrecken.“

Daran wagte ich nicht einmal zu denken. Wahrscheinlich war das Vieh sowieso längst fort. Nach allem was ich über das Luvium wusste, handelte es sich um eine besonders wachsame Spezies, die den Menschen wie die Pest mied. Aber ich sah mich eines besseren belehrt. Es war noch da und hatte sich allem Anschein nach auch keinen Zentimeter bewegt. Kristers Atem kam stoßweise. Ich wusste, was in seinem Kopf vorging, und er wagte es auch noch in Worte zu fassen.

„Gib mir die Harpune. Du triffst ja doch nicht!“

„Vergiss es!“

„Du musst es genau ins Auge treffen, hörst du? Schlag mit aller Kraft zu, vielleicht gelingt es dir, das Biest festzupinnen! Meine Güte, wie riesig es ist. Hast du die Fangarme schon gesehen? Die sind meterlang.“

Krister ignorierend holte ich weit aus und zielte auf das Auge, das mich weiterhin nichtsahnend und unschuldig anstarrte. Wie kam er dazu, mir zu sagen, was ich tun sollte? Als würde ich das nicht selbst wissen!

In dem Moment, als ich die Harpune schleuderte, explodierte das Wasser um uns herum. Ein halbes Dutzend Tentakel schossen aus der seichten Brühe auf uns zu. Der folgende Schlag ins Gesicht warf mich um. Unsanft landete ich auf scharfen Felskanten und schlug mir Ellenbogen und Rücken blutig. Einen Sekundenbruchteil später stand ich aber auch schon wieder auf den Füßen und stürzte auf das Luvium zu.

Doch es war weg. Die Harpune steckte im Fels. Auf ihrer tödlichen Reise hatte sie jedoch einen Fangarm abgetrennt.

„Du hättest es mich machen lassen müssen!“ hörte ich Krister klagen. „Ich hätte das Vieh erlegt, sauber und schnell.“

Ich sah ihn gereizt an.

„Immerhin haben wir einen Fangarm. Sieh nur, er ist bestimmt zwei Meter lang!“

Ich ging in die Knie und ergriff den armdicken Tentakel mit beiden Händen.

Ein Fehler.

Wie eine Würgeschlange – und mindestens genau so schnell – wickelte sich das amputierte Körperteil um meinen rechten Arm und saugte sich augenblicklich fest. Von Sekunde zu Sekunde steigerte sich der Schmerz, bis ich laut schrie.

Krister reagierte geistesgegenwärtig. Er zog sein Messer, verbat es mir, mich zu bewegen (was unter den gegebenen Umständen beinahe unmöglich war) und schnitt an mehreren Stellen tief in den Tentakel hinein, bis dieser die mörderische Umklammerung aufgab. Der Schmerz ebbte ab. Dafür begann ich am ganzen Körper zu zittern.

„Du sollst dich nicht bewegen!“ Kristers ungeduldige Worte ließen mich zur Salzsäule erstarren. Mit der scharfen Klinge hob er die Saugnäpfe ab, welche sich wie Stanzen in meine blaurot verfärbte Haut gegraben hatten. Zurück blieben kreisförmige Wundmale von gut fünf Zentimetern Durchmesser, die sich allmählich mit Blut füllten.

Ich starrte auf die Blessuren, unfähig, ein Wort von mir zu geben. Die Tatsache, dass es dem Biest gelungen war zu entwischen, schmerzte allerdings am meisten.

Krister resümierte nur lakonisch: „Lektion Nummer eins: Trau keinem Luvium, nicht mal einem Teil von ihm.“

Damit ließ er mich stehen und machte sich unerschüttert wieder auf die Jagd nach Yanduras.

Als wir Luke später von dem riesigen Oktopoden erzählten, befiel ihn eine eigenartige Aufregung. Er wollte es gar nicht glauben, doch überzeugte ihn meine Trophäe restlos. Ehrfurchtsvoll untersuchte er den Tentakel von allen Seiten. Auch meine inzwischen dunkelblau angelaufenen Wundmale nahm er mehrfach in Augenschein.

„Dieses Tier muss wahrhaftig gigantisch groß gewesen sein, wenn sein Auge wirklich so riesig war, wie du sagst. Ich tippe auf eine Körperlänge von zehn bis fünfzehn Metern.“

„Möglich“, gab ich knapp von mir, immer noch an der Tatsache knabbernd, den Fang meines Lebens vergeigt zu haben.

Zusammen mit den Yanduras brieten wir auch den Fangarm in der offenen Glut. Das geröstete Muskelfleisch erwies sich deutlich zäher als jenes der Stamarinas, doch gab es keinen echten Grund, seine Qualität anzuzweifeln. Dennoch blieb der weitaus größte Teil ungegessen liegen, kein Wunder, nicht einmal uns drei hungrigen Wölfen gelang es beim besten Willen, die zwei Meter Luvium zu vertilgen, zumal sich die im Feuer gegrillten Krustentiere als eindeutig schmackhafter erwiesen. Ihr zartes Fleisch, schneeweiß und feinfasrig, mundete vortrefflich. Eine Delikatesse vom Feinsten, schon fast ein Frevel, es wie Tiere mit puren Klauen aus den geknackten Schalen herauszupulen und in den Mund zu stopfen.

Gesättigt und ermüdet wusch ich meine Wunden ein weiteres Mal mit Salzwasser aus, um einer Infektion vorzubeugen. Weder Krister noch ich hatten irgendeinen Gedanken an Heilmittel oder Wundsalben verschwendet. Es sorgte mich jedoch herzlich wenig. Aus heutiger Sicht beneide ich die Jugend um ihre gesegnete Sorglosigkeit, um diese glückselige Überzeugung, unbesiegbar und unvergänglich zu sein. Eigenschaften, die sie unerschrocken auch schier Unvorstellbares meistern lässt. Ich sehne mich heute, alt und vom Leben längst gebeugt, oftmals zurück in diese unwiederbringlich verlorene Zeit, die so kurz währte und doch die kostbarste gewesen ist.

Die Ostseite der Halbinsel Longreach lag vor uns, als sich die Xyn am östlichen Horizont aus der feuerroten Tethys erhob. Die See hatte sich über Nacht mitnichten beruhigt, es versprach ein weiterer unruhiger Tag zu werden.

Schon bei der Fahrt durch den engen Kanal hinaus aus der Lagune fiel uns der deutlich stärkere Wellengang auf. Wir meisterten diese Herausforderung diesmal jedoch problemlos. Ein kreischendes Meer aus Seevögeln auf der Jagd nach Fisch für die Brut umschwirrte uns wie Motten das Kerzenlicht. Sehr zu Lukes Verdruss schlug Krister hin und wieder mit dem Paddel nach einem seiner Meinung nach zu aufdringlichen Vogel, doch gelang ihm kein Treffer. Dann erwischte er überraschenderweise ein dunkelgraues Federvieh mit schlangenförmigem Hals und überproportional großen Schwimmfüßen, das nach erfolgreichem Fang auf erstaunlich stummelhaften Flügeln umständlich aus dem Meer abhob und ihm dabei beinahe mitten ins Gesicht geflattert wäre. Mit dem Paddel fegte er das schrill aufschreiende Tier zur Seite, das wieder ins Wasser stürzte und spurlos verschwand.

„Sinnloses Töten ist ein barbarischer Akt“, hatte sich Luke erregt, erntete jedoch nur Spott in Form eines obszönen Geräusches, das Krister mit der Zunge erzeugte.

„Quatsch nicht herum, so einfach sind die Viecher nicht totzukriegen“, wies er seinen Stiefbruder zurecht.

Luke sagte nichts mehr darauf, schien sich aber für die nächsten Stunden noch weiter in sich zurückzuziehen. Ich bemerkte, mich ein Stück weiter für ihn zu öffnen. Seine durchaus anerkennenswerte Liebe zur Natur schien nicht zu diesem in sich zurückgezogenen, verletzlich wirkenden Jungen zu passen, der bereits im Körper eines wehrhaften, ausgewachsenen Mannes wohnte, was wiederum ein Kuriosum in sich darstellte. Ein Schaf im Wolfspelz. Ein äußeres Erscheinungsbild, das so gar nicht mit dem dazugehörigen Innenleben einhergehen wollte. Ich wusste nicht, ob mich diese merkwürdige Mischung abstieß oder eher anzog, nahm mir jedoch vor, Luke nicht mehr ganz so schroff anzugehen. Womöglich hatte es noch nie jemanden wirklich interessiert, wie er unter dem Tod seiner leiblichen Eltern gelitten hatte, wie sehr er wahrscheinlich heute noch daran krankte. Zum ersten Mal überhaupt begann ich mich für seine Geschichte zu interessieren.

Was wusste ich eigentlich wirklich über ihn? Schon die Umstände seiner Ankunft in Stoney Creek, wie ich mir ins Gedächtnis rief, waren von meiner Seite aus weitgehend unbeachtet geblieben. Die Tatsache, dass den alten Anders Bergmark, Kristers Vater, mit Lukes Mutter eine wenn auch weit entfernte Verwandtschaft verband, lieferte wohl den Grund, den Waisenknaben aufzunehmen. Ich weiß noch wie Krister Rob und mir an einem dieser ersten heißen Frühlingstage vor acht Jahren – ja, es mussten wohl jetzt acht Jahre her sein – davon berichtete. In einem Nebensatz. Völlig beiläufig.

„Es wird höchste Zeit, mein eigenes Haus zu bauen“, hatte er uns eröffnet. „Zuhause bleibt langsam keine Luft mehr zum Atmen. Glaubt ihr das? Jetzt nehmen sie auch noch einen Waisenjungen auf. Als verfügte das Haus über unbegrenzten Raum. Ich fasse es nicht!“

„Einen Waisenjungen?“ fragte Rob, seine Arbeit für einen Augenblick unterbrechend. Sintflutartige Regenfälle in den letzten Tagen hatten den befestigten Weg vom Dorf hinunter zur Küste fortgewaschen und nun lag es an uns, diesen wieder einigermaßen instand zu setzen. Zu diesem Zweck hatten wir Kies in rauen Mengen zusammengetragen.

„Unglaublich, nicht wahr? Es wird wirklich höchste Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich muss da raus.“

„Wer ist es?“ wollte Rob wissen. Es war zwar nicht so, als kannten wir uns bestens mit der Bevölkerung der Siedlung aus, aber auch meines Wissens nach gab es keine Waisenkinder in Stoney Creek.

„Ach, irgend so ein Bübchen aus der fernen Verwandtschaft. Er ist gestern mit dem Treck aus Cape Travis angekommen. Seine Mutter und mein Vater sind über viele Ecken miteinander verwandt. Na ja, Lukas’ Eltern sind gestorben, ganz kurz hintereinander. Die in Van Dien wussten nicht, wohin mit ihm.“

„Van Dien? Sagtest du nicht, er käme aus Cape Travis?“

„Ja, ursprünglich kommt er aus Van Dien, Jack.“

Zwischen Stoney Creek, Cape Travis, Van Dien, Lake Sawyer und Willer, den fünf letzten von Menschen noch besiedelten Ortschaften, bestanden lockere Handelsverbindungen. Man handelte mit Salzfisch, Pökelware, Häuten und Fellen, Bauholz, Molkereiprodukten, Tee, Wein und manch anderen Erzeugnissen, die in einer Ecke Aotearoas rar waren, in einer anderen dafür im Überfluss vorkamen. In den letzten Jahren war dieser Handel wieder stark aufgeblüht, vor allem als mit der erfolgreichen Wiederbesiedelung von Willer die Menschen wieder Zugang zu einem großen Binnengewässer bekamen. Die Nachfrage nach delikaten Süßwasserfischen, Flusskrebsen, Chigalon und vielerlei anderen im Norden des Landes nicht oder nur selten zu erwerbenden Produkten stieg sprunghaft an. So schlossen sich Kaufleute und Händler zu einem Treck zusammen, der in unregelmäßigen Abständen zwischen den fünf Siedlungen hin und her pendelte. Da auf Gondwana keine Pferde mehr existierten (sie waren im Großen Krieg so stark dezimiert worden, dass die Art wenig später ausstarb), wurden nun Ochsen vor die Wagen gespannt.

Mit dem ersten Treck im Frühling des Jahres 614 erreichte der damals zehnjährige Lukas Eastley seine neue Heimat, das kleine Fischerdorf Stoney Creek am nordwestlichen Ende Avenors. Seinem entfernt verwandten Onkel, Kristers Vater, war dies von Anfang an nicht recht. Er sah sich gezwungen, den Jungen bei sich aufzunehmen und ließ seinen Unmut darüber bei jeder sich bietenden Möglichkeit an ihm aus.

Luke blieb nicht viel Zeit, sich in sich zu vergraben und den Tod seiner Eltern zu betrauern. Von der ersten Sekunde an sah er sich mit Arbeit überhäuft. Unmittelbar nach der Ankunft fand er sich bereits auf den Feldern beim Umgraben und Beackern des (teilweise noch gefrorenen) Bodens wieder. Schwere körperliche Arbeiten wie das Fahren mit dem Kuhgespann (anfangs noch unter Kristers Aufsicht) und das Beladen des Wagens gehörten schon früh zu seinen Aufgaben. Schon im ersten Herbst wurde ihm das Mahlen von Korn aufgetragen, eine überaus anstrengende Arbeit für einen noch nicht einmal elfjährigen Knaben. Steine fahren, Roden, Pflügen, Ernten und das Vieh hüten waren ebenso Teil seiner unerschöpflichen Pflichten wie das Umgraben von Torfmoor auf der Suche nach Sumpferz, das zu Roheisen geschmolzen wurde, einem überaus kostbaren und weit begehrten Material, das vor allem für die Produktion von Nägeln, Nieten und Werkzeugen Verwendung fand. Wahrscheinlich hätte der alte Anders Bergmark seinen ungewollten und ungeliebten jungen Anverwandten zu Tode schuften lassen, würden nicht hin und wieder Krister und dessen Mutter mäßigend eingegriffen haben.

Eines Abends im Spätherbst kehrte der Junge nicht nach Hause zurück. Die Nächte waren bereits empfindlich kalt, und als die Familie zum Abendessen zusammenkam, blieb Lukes Platz leer.

„Wo ist Lukas?“ erkundigte sich Kristers Mutter.

Es gehörte zu Anders Bergmarks Eigenschaften, die Fragen seiner Frau geflissentlich zu ignorieren, auch wenn sie wie in diesem Fall eindeutig an ihn gerichtet waren. Es bedurfte eines gewissen Nachbohrens, bevor aus ihm etwas herauszubekommen war.

„Was weiß ich, Ulla-Britt!“ knurrte er endlich genervt, einen frischen Brotlaib mit den Händen brechend.

„Hast du ihn nicht heute Vormittag zum Pilze sammeln losgeschickt?“ meldete sich Britt-Marie, Kristers jüngere Schwester, etwa in Lukes Alter.

Du redest, wenn du gefragt wirst!“ Die autoritäre Stimme des Vaters und sein drohend auf sie gerichteter Zeigefinger ließen das Mädchen augenblicklich verstummen.

Krister, damals bereits ein erwachsener Mann von zweiundzwanzig Jahren, wagte es nicht, seinen Vater zur Rede zu stellen, zu angespannt hatte sich ihr Verhältnis in der letzten Zeit entwickelt. Jedes Gespräch schien unausweichlich in einem Streit zu enden. Vater und Sohn gingen sich daher aus dem Weg so gut es ging. Krister spielte mit dem Gedanken, in Bälde eine eigene Hütte zu bauen, ein Vorhaben, das der Vater zwar äußerlich begrüßte, im Innern aber nicht zu verwinden schien.

„Heute Vormittag?“ Die Mutter suchte vergeblich den Blick ihres Sohnes. „Dann ist er ja schon viele Stunden draußen. Bei dem Wetter.“ Es hatte am späten Nachmittag zu regnen begonnen, der teilweise in Graupel übergegangen war.

Krister nickte und zuckte dann hilflos mit den Achseln.

„Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?“

Anders Bergmark ließ den Löffel in die geleerte Suppenschale fallen. „Pah, der Junge ist alt genug. Was soll ihm denn zustoßen? Und wenn – wen interessiert es wirklich? Ein unnützer Esser weniger!“

Die Tatsache, dass sich Luke sein Essen schwer verdiente, fiel nicht sonderlich ins Gewicht. Die Familie aß weiter, als sei nichts geschehen. Nach der Mahlzeit jedoch zögerte Ulla-Britt Bergmark nicht länger. Sie nahm ihren Ältesten zur Seite.

„Ich gehe jede Wette ein, dein Vater hat ihm befohlen, es nicht zu wagen, mit leeren Händen heimzukommen. Jetzt noch Pilze zu finden, grenzt fast an ein Wunder. Ich habe Angst um Lukas. Ich will nicht, dass ihm etwas zustößt wie der armen Augusta Johansson.“

Der tragische Verlust der vierzehnjährigen Augusta im letzten Herbst reihte sich nahtlos in die Liste der inzwischen dreiundzwanzig Menschen ein, die in den vergangenen Jahrzehnten auf mysteriöse Weise spurlos aus Aotearoa verschwunden waren. Meistens handelte es sich um Kinder oder Halbwüchsige, die aus unerfindlichen Gründen nicht mehr nach Hause zurückkehrten. Nicht einer der Verschwundenen war je wieder aufgetaucht oder irgendwo gesehen worden. Sie waren fort, als hätte die Erde sie verschluckt. Groß angelegte Suchaktionen blieben erfolglos. Nun existieren in Aotearoa keine wilden Landtiere, die einem Menschen hätten gefährlich werden können und denen man die Schuld zuweisen konnte.

Mit jedem Verschwinden steigerte sich die Fassungslosigkeit in der Bevölkerung, legte sich aber letzten Endes wieder. Irgendwann gewöhnte sich Aotearoa daran, ein bis zweimal pro Jahr den Verlust eines jungen Menschen beklagen zu müssen.

Beunruhigend blieb die unheimliche Regelmäßigkeit, mit der das Unfassbare zuschlug. Selbst bewaffnete und wehrhafte junge Männer wie der im Spätsommer 620 bei Cape Travis verschwundene, siebzehnjährige Annachie Brennain, tauchten nie wieder auf. Lediglich seine Jagdwaffe, einen Skinner, fand man auf dem feuchten Waldboden einer Lichtung am Nordhang des Monteskuro. Keine Spuren eines Kampfes oder einer Auseinandersetzung, kein Blut, nichts. Der Vater des Verschwundenen beharrte darauf, dass sein Sohn sich niemals freiwillig von seinem Messer getrennt hätte. Es musste ihm also körperliche Gewalt angetan worden sein. So sehr der Vater auch suchte, er fand seinen Sohn nicht wieder.