Kitabı oku: «Sentry - Die Jack Schilt Saga», sayfa 9

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Auffällig blieb, es handelte sich stets um junge Menschen. Keiner der Verlorengegangenen war älter als zwanzig Jahre alt gewesen. Zudem schien sich das beängstigende Phänomen von Süd nach Nord vorzuarbeiten.

Kurze Zeit nach der Wiederbesiedlung von Willer im Jahre 578 ereigneten sich die ersten Fälle. Gab es wilde Tiere im Staten Forest oder im Zentralmassiv, von denen man nichts oder nichts mehr wusste? Blutrünstige Bestien, die im düsteren Wald ahnungslosen Sammlern oder Jägern auflauerten? Waren es gar Opreju, die bis nach Ergelad oder Otago vordrangen, um Jagd auf Menschen zu machen?

Theorien dieser Art ließen sich allerdings nicht lange halten. Die Opreju, die es nachweislich gab (wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Aotearoa) oder die imaginären Raubtiere, deren Existenz niemand beweisen konnte, hätten Spuren hinterlassen. Spätestens an dem Ort, an dem sie ihre Opfer töteten. Spuren fanden sich aber nicht.

Sieben Jahre später verschwanden die ersten Menschen aus Lake Sawyer, dann aus Van Dien und schließlich Cape Travis. Stoney Creek, die abgeschiedene Siedlung am nordwestlichen Ende Avenors, wurde zuletzt heimgesucht, zum erstenmal im Sommer des Jahres 607. Von da an mit der gleichen Regelmäßigkeit wie anderswo. Auch hier handelte es sich stets um Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene. Keiner der Fälle war je aufgeklärt worden, nie hatte es irgendwelche Zeugen gegeben, das im Grunde Beunruhigende an der ganzen Sache. Der Tod schien aus heiterem Himmel zuzuschlagen. Die Angst ging seit 607 auch in Stoney Creek um. Angst um die Söhne und Töchter der kleinen verwundbaren Siedlung.

Diese Befürchtungen gingen auch Ulla-Britt Bergmark an jenem Abend durch den Kopf. Das ganze Jahr über war Stoney Creek bisher verschont geblieben. Die Vermutung, dass es wieder einmal an der Zeit sei, lag nahe.

„Ich gehe ihn suchen“, erklärte sich Krister bereit.

„Alleine?“

„Weit kann er nicht sein. Ich finde ihn.“

Wie sich herausstellte, war Luke in der Tat nicht weit. Das halb gefüllte Weidenkörbchen in beiden zitternden Händen haltend, kauerte er unter der Weide am Entenstall. Bis auf die Haut durchnässt und mit den Zähnen klappernd fand Krister den unglücklichen und völlig verängstigten Jungen vor. Er hielt ihm die zischende und prasselnde Fackel unter die Nase. Luke schreckte vor der plötzlichen Hitze und dem grellen Licht zurück.

„Du kleiner Idiot.“ In den Worten lag mehr Mitgefühl als sie erahnen ließen.

Luke sah aus dunklen, regennassen Augen zu ihm auf.

„Komm, steh auf. Du hast genug getan für heute.“ Krister nahm ihm das Weidenkörbchen ab und zog den Jungen am rechten Arm hoch. „Hey, wo hast du all die Pilze gefunden?“

„Drüben am Eisbach.“ Lukes Zähne schepperten Mitleid erregend aufeinander.

„Das sind mehr als genug. Warum bist du nicht reingekommen? Mutter macht sich Sorgen.“ Doch Krister kannte die Antwort, noch bevor sein bebender Stiefbruder sie in Worte fasste.

Luke sah ihn wieder einmal mit den flehenden Augen eines tollpatschigen Welpen an, der wusste, einen Fehler begangen zu haben, welcher sich nicht hatte vermeiden lassen. Wie oft hatte er diesen Ausdruck schon gesehen und seinen Vater dafür verachtet!

„Ich hatte den Auftrag, den Korb ganz zu füllen“, flüsterte Luke mit gesenktem Blick.

Krister stöhnte.

„Na gut, jetzt komm ins Haus. Du bist ja halbtot vor Kälte.“

An diesem Abend hatte Krister beschlossen, nicht nur spätestens im Frühjahr mit dem Bau seiner eigenen Hütte zu beginnen, sondern auch Luke bei sich aufzunehmen. Um das Martyrium seines Stiefbruders zu erleichtern, weihte er ihn früh in diese Pläne ein. Von diesem Moment an blühte der Junge auf. Er war nicht mehr wiederzuerkennen. Egal welche Arbeiten ihm sein Stiefvater auftrug, er erledigte sie ohne Widerspruch, doch schien der herbste Stachel des Schmerzes gezogen. Innerlich wie äußerlich lächelnd ertrug er jedwede Demütigung, was Anders Bergmark zur Raserei brachte.

Zur Eskalation kam es, als Luke an einem unglückseligen Wintermorgen beim Melken einen Kübel frisch gemolkener Milch im eiskalten Viehstall umstieß. Die dicke weiße Brühe ergoss sich über den gefrorenen Stallboden wie zähflüssige Farbe. Nun verfügten die Bergmarks nur über eine einzige, zudem betagte Kuh, die nicht mehr viel Milch gab. So ließ sich der Vorfall nicht verbergen, denn so sehr er sich auch bemühte, aus dem Euter der alten Mukka bekam er keinen Tropfen mehr heraus. Auch der Versuch, bei einem Nachbarn Ersatz zu besorgen, scheiterte. Luke verfügte über nichts, was er gegen die kostbare Milch hätte eintauschen können, und mitten im Winter teilte niemand etwas, wenn es nicht unbedingt sein musste oder es keinen entsprechenden Gegenwert dafür gab.

Als der Vater abends vom Eisfischen zurückkehrte und keine Milch auf dem Tisch vorfand, nahm das Drama seinen Lauf. Zur Rede gestellt, suchte Luke einen Augenblick zu lange nach einer Entschuldigung für sein Missgeschick. Es klang wie ein Peitschenknall, als der Handrücken von Anders Bergmark quer über das Gesicht seines Stiefsohnes zog.

„Anders!“ Der entsetzte Ruf der Mutter und das unterdrückte Schluchzen seines Stiefbruders ließen in Krister etwas zerbrechen. Lukes Unterlippe war aufgeplatzt und der wimmernde Junge versuchte umständlich, das Blut mit den Fingern zurückzuhalten. Lange hatte Krister dem ganzen zugesehen, um des lieben Friedens willen kein Wort gesagt. Damit war jetzt Schluss. Er klatschte in die Hände und sagte mit tonloser Stimme: „Bravo, Vater! Gut gemacht! Wie fühlt es sich an, ein wehrloses Kind blutig zu schlagen?“

Anders Bergmark wandte sich um. Er blickte in das entschlossene Gesicht seines einzigen Sohnes, das nur eines widerspiegelte: Verachtung und Abscheu. Sie starrten einander an wie Kontrahenten, die einen letzten Anlass suchten, den Kampf zu eröffnen. Doch geschah etwas Unerwartetes. Der alte Mann verließ wortlos das Haus. Alles hätte Krister erwartet, am ehesten den gewalttätigen Versuch des Vaters, den verloren geglaubten Respekt wieder zurückzugewinnen. Doch Anders Bergmark reagierte überraschend, er wählte den Rückzug. Den Einsatz von körperlicher Gewalt gegen seinen Sohn scheuend – etwas, das Krister nicht für möglich gehalten hätte – wählte er eine andere, in seiner Konsequenz schmerzhaftere Variante. Von diesem Tage an sprach er kein Wort mehr mit seinem Sohn. Luke ließ er fortan in Frieden.

Bald nach diesem Vorfall begann Krister mit dem Bau eines eigenen Hauses. Eigentlich hatte er es in der Nähe seiner Familie errichten wollen, doch rückte er von diesen Plänen ab. Mit der uneingeschränkten Hilfe Lukes, einiger Freunde (unter ihnen auch Rob und ich) und der Familie seiner langjährigen Gefährtin Sava entstand sein eigenes kleines Haus. Wie versprochen siedelte Luke um und bezog seine erste eigene Kammer.

Kurz nach der Fertigstellung starb Anders Bergmark. Eine Aussöhnung zwischen ihm und seinem Sohn hatte es nicht mehr gegeben. Luke jedoch musste dem alten Mann verziehen haben. Bei der Beisetzung vergoss er Tränen für den Menschen, der ihm ein zweites Leben ermöglicht hatte, war es auch noch so unerträglich gewesen. Ohne die Zustimmung von Anders Bergmark, ihn bei sich aufzunehmen, wäre Luke ein Waisenjunge in Van Dien geblieben und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr am Leben.

Dank kräftigen Westwindes flog das Boot mit geblähtem Segel über die Wellen. Wir legten Meile um Meile in Nullkommanichts zurück. Doch gab uns das Wetter deutlich zu erkennen, wie jung das Jahr noch war. Der kühle Wind kroch durch die feuchte Kleidung und ließ uns frösteln. Hin und wieder lugte die Xyn durch die eine oder andere Wolkenlücke hindurch, aber es gelang ihr nicht, unsere kalten Gesichter zu wärmen.

Mit zunehmendem Wellengang steuerte ich das Boot näher an die Küste heran, nur um festzustellen, eine Landung – wenn sie denn hätte sein müssen – niemals bewerkstelligen zu können. Die steile Felsenküste, von gespenstischem Nebel eingewölkt, zeigte sich von ihrer feindlichsten Seite.

„Kennst du dich hier aus?“ fragte ich Krister irgendwann. „Gibt es irgendwo Landungsmöglichkeiten oder bleibt die Küste weiterhin so felsig?“

„Bis Kap Fol wird sich nicht viel ändern“, erwiderte er mit unbesorgter Miene.

„Kap Fol? Das erreichen wir selbst bei diesen günstigen Bedingungen erst frühestens morgen Abend, oder?“

Krister nickte. „Ja, das denke ich auch.“

Ich behielt die Küstenlinie weiterhin im Auge. Einmal entdeckte ich einen Strandabschnitt, der aussah als könnte man dort anlegen, doch war es noch zu früh für das Nachtlager. Über die Länge von gut einer Meile säumte heller Sandstrand das steile Kliff, zuweilen mit allerlei Buschwerk bewachsen. Wir zogen dicht daran vorbei. Drei Augenpaare blickten sehnsuchtsvoll hinüber. Ich musste zugeben, ich hatte das Geschaukel satt. Doch jetzt schon den Tag zu beenden – es durfte kurz nach Mittag sein – erschien nicht nur mir deutlich verfrüht.

„Na also“, sagte ich, nachdem wir vorbeigezogen waren. „Immerhin gibt es Landungsplätze. Wenn auch wenige.“

Ich beließ es zunächst dabei und packte einige Vorräte aus, zum größten Teil Reste der Yanduras vom Vorabend. Schweigend aßen wir und vertrieben wenigstens den Hunger.

Die nächsten Stunden vergingen und wir sahen nicht einen einzigen weiteren Strand. Felsenküste soweit das Auge reichte. Dunkle, tief hängende Wolken hatten begonnen, ihre feuchte Fracht abzulassen. Der Niederschlag, mehr ein Nieseln, ein Sprühen, erwies sich als nasser und ungemütlicher als richtig große Tropfen. Ich hasste es. Bei diesem Wetter machte es nicht den geringsten Spaß, auf dem Meer zu sein. Längst waren wir übereingekommen, bei der nächsten Möglichkeit anzulegen. Wenn sie sich doch endlich böte!

Luke zog in einer hilflosen Geste die vollgesogene Decke enger um seinen zitternden Körper. Seine blauen Lippen erinnerten daran, wie kalt auch mir war. Krister war es ebenso leid. Er sehnte sich ein warmes Lagerfeuer herbei, an dem wir uns wieder würden aufwärmen können. Doch sagte er keinen Ton. Er stand ganz vorne im Boot und blickte stur geradeaus. Ich wagte nicht daran zu denken, was es bedeutete, in dieser Witterung eine Nacht auf See verbringen zu müssen.

Am späten Nachmittag erlöste uns ein Ruf Kristers. Ich musste für einige Augenblicke eingenickt gewesen sein. Wie dunkel es bereits war!

„Hart steuerbord“, rief Krister und zeigte auf die Küste.

Ich tat wie geheißen und folgte erst dann mit den Augen seinem ausgestreckten Zeigefinger.

Tatsächlich!

Ein tiefer Einschnitt im Fels, der erst jetzt, als wir ihn beinahe passiert hatten, sein Geheimnis preisgab. Wiederum handelte es sich um eine Art Kanal, ähnlich jenem von gestern Nachmittag, der uns in die Yanduralagune geführt hatte. Dahinter machte ich eine kleine Bucht aus, in der Krister nicht zu Unrecht eine Landungsmöglichkeit vermutete.

Die Fahrt durch die enge Rinne stellte bei diesem Wellengang ein beinahe unkalkulierbares Wagnis dar. Doch es war mir egal. Ich wollte nur noch raus aus dem verfluchten Boot, irgendwo einen trockenen Platz finden und wenn möglich ein Feuer entfachen. Tatsächlich ging es leichter als erwartet. Auf dem Kamm einer hohen Welle segelnd, legten wir die wenigen gefährlichen Meter problemlos zurück und erreichten wohlbehalten die winzige Bucht, die gerade groß genug war, um darin unter vollem Segel zu wenden. All das erfasste ich jedoch erst später. Meine Augen sichteten ganz etwas anderes.

„Das ist der schönste Strand, den ich je gesehen habe“, jubelte ich. Es durfte wohl an der Tatsache liegen, so kurz vor Einbruch der Dunkelheit doch noch ein Plätzchen für die Nacht gefunden zu haben, weswegen meine Äußerung etwas euphorisch ausfiel. Alles war mir recht, nur endlich runter von der unruhigen See.

„Deutlich schöner als Savas Bucht“, meinte Luke.

„So weit würde ich jetzt nicht gehen.“

Hörte ich da eine Spur Missfallen in Kristers Stimme? Wenn ja, mochte sie durchaus gerechtfertigt sein. Savas Bucht war klein aber fein gewesen. Der winzige Strand hier verdiente eine Bezeichnung dieser Art eigentlich nicht. Maximal zehn Meter breit, bot er gerade genügend Platz, das Boot ordentlich an Land zu ziehen. Wir begnügten uns damit, es halb auf Grund zu fahren und an den Felsen zu vertäuen.

Luke war bereits ein paar Meter den Strand hochgestapft und was er fand, ließ mich restlos zufrieden auf eine trockene Nacht hoffen. Die Ausmaße der Höhle standen diesem zierlichen heimlichen Hafen in nichts nach. Sie bot gerade genug Platz für drei ausgelaugte Seefahrer. Zudem fand sich in ihr haufenweise trockenes Treibholz. Mit Hilfe von wie durch ein Wunder trocken gebliebenen Feuersteinen entfachte ich endlich das ersehnte Feuer. Wohltuende Wärme und eine beruhigende Mahlzeit im Magen ließen die Strapazen des vergangenen Tages im Nu vergessen. Es störte mich auch nicht mehr im Geringsten, als sich der Regen im Verlauf des Abends zu einer wahren Sintflut steigerte. Mochte es schiffen, so lange es wollte. Gepäck und Decken waren ohnehin durchnässt und würden erst wieder in der Sonne trocknen. Das Lagerfeuer spendete genügend Wärme, wir konnten ohne Decken liegen.

Irgendwann, ich war schon beinahe eingeschlafen, hörte ich Krister murmeln: „Wenn es so weiter herunterprasselt, läuft der Ozean heute Nacht über.“

Ich blickte auf. Der Widerschein des Feuers zeichnete zuckende Schatten an die Felswand. Krister lag auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Höhlendecke. „Was soll’s, uns geht es jedenfalls besser als dem Kahn da draußen.“

Für einen kurzen Moment sorgte ich mich um das Boot, doch selbst wenn es voll Regenwasser lief, konnte es kaum untergehen, lag es doch sicher auf festem Grund.

„Was sagst du als alter Wetterfrosch, wird es lange regnen?“ fragte ich.

Krister zögerte mit der Antwort.

„Schwer zu sagen“, meinte er dann. „Da die Schlechtwetterfront schnell herangekommen ist, tendiere ich dazu zu glauben, dass sie morgen früh auch wieder weg ist. Andererseits ist Dauerregen in dieser Jahreszeit keine Seltenheit.“

Sein Kopf rollte zur Seite und er sah müde herüber. „Ich hoffe auf ersteres. Hier womöglich tagelang festzusitzen trifft nicht gerade meinen Gusto.“

Damit war unsere kurze Unterhaltung beendet. Das beruhigende Geräusch des fallenden Regens ließ mich endlich hinüberdämmern.

Als ich hochschreckte, wusste ich zuerst nicht, wo ich mich befand. Ich hatte wieder wüst geträumt und ärgerte mich nicht mehr, aus dem Schlaf gerissen worden zu sein. Soweit war es also schon gekommen. Ich betrachtete meine nächtlichen Visionen bereits als normal. Natürlich stand Rob wieder im Mittelpunkt. Er war durch meinen Traum gerannt wie ein verfolgtes Tier, schwarze Tränen strömten aus seinen rot geäderten Augen.

Zuerst bewegte er sich über eine weite, grüne Ebene, driftete aber immer weiter in Richtung eines düsteren Forstes ab. Ich sah ihn rennen und spürte die Bedrohung, die von diesem Wald ausging. Warum lief er so unbeirrt darauf zu? Aus der Vogelperspektive überblickte ich die gesamte Landschaft, eine freundliche und helle Ebene, die bis an den Horizont reichte. Wieso in aller Welt verließ er sie und steuerte beharrlich auf diesen düsteren Wald zu? Ich rief ihm zu, er möge die Richtung ändern, nicht die Schatten suchen Doch je stärker sich meine warnende Stimme erhob, desto weiter entfernte ich mich von meinem Bruder wie ein von kräftigem Gegenwind zurückgeworfener Vogel, welcher sich gezwungen sah, den Kurs zu korrigieren. Ich verlor Rob aus den Augen, dann den Wald, dann die Ebene... und fand mich aus dem Traum gerissen wieder in der Realität ein.

Mein Körper zitterte vor Kälte.

Das Rauschen in den Ohren entpuppte sich als trommelnder Regen.

Ich weiß nicht, wie lange ich stumm in dieser Stellung verharrte, bis mir klar wurde, das Feuer wieder entfachen zu müssen, wollte ich nicht an Unterkühlung sterben. In der Finsternis überhaupt die Feuersteine zu finden stellte eine Herausforderung dar.

Eine Unendlichkeit später hatte ich es geschafft. Kleine Flammen züngelten hoch und machten sich gierig über einen Haufen trockener Zweige her, bevor sie sich allmählich durch dickeres Holz fraßen und endlich Wärme abgaben. Mehr und mehr Holz legte ich nach, bis die Hitze in der kleinen Höhle beinahe unerträglich wurde und auch die beiden Schlafenden nicht mehr fröstelten.

In jener Nacht tat ich kein Auge mehr zu. Ergriffen von meiner neuesten Vision, die ich nach langem Grübeln als Aufforderung wertete, Rob so schnell wie möglich aufzuspüren, bevor er sich in große Gefahr begab, saß ich hellwach neben dem Feuer und legte in regelmäßigen Abständen Holz nach.

Erst als die Dämmerung über einen bleifarbenen Horizont sickerte, schloss ich erschöpft die Augen.

Der neue Tag begann wie der alte geendet hatte. Die Sintflut der vergangenen Nacht war wieder in ein Nieseln übergegangen. In bedrückendem Einheitsgrau präsentierte sich der wolkenverhangene Himmel, was wenig auf einen baldigen Wetterwechsel hindeutete.

Als ich erwachte und das Lager verließ, brannte bereits wieder ein knisterndes Feuer. Krister und Luke waren dabei, das Boot zu kippen, das bis zur Hälfte mit Regenwasser vollgelaufen war. Ein wahrer Sturzbach ergoss sich aus unserem Gefährt. Wie stark es geschüttet haben musste!

„Guten Morgen!“ begrüßte ich meine Kameraden. Mit in die Hüften gestemmten Armen stand ich da und beobachtete das ablaufende Wasser.

„Scheiß Morgen“, erwiderte Krister, offensichtlich schlecht gelaunt. Luke sagte nichts. Er hielt das Boot ganz allein noch immer in der Schräglage.

„Ja, es regnet“, stellte ich fest.

Doch der Regen hatte nichts mit Kristers mieser Stimmung zu tun. Er war in das Kalkskelett eines im Sand verborgenen Seeigels getreten und hatte sich den rechten Fuß übel zugerichtet. Zwar war es ihm gelungen, die tückischen Stacheln aus dem Fleisch zu ziehen ohne sie abzubrechen, doch bluteten die tiefen Wunden ordentlich. Zum wiederholten Male schalt er sich einen Narren, auf Schuhwerk verzichtet zu haben.

„Kannst du laufen?“ fragte ich ihn.

Er knurrte nur etwas Unverständliches und humpelte zum Lager zurück. Bevor ich ihm folgte, half ich Luke dabei, das Boot wieder in seine normale Position zu bringen. Wohlwollend registrierte ich, wie umsichtig er alle drei Wasserbeutel bis zum Rand aufgefüllt hatte, bevor das kostbare Süßwasser auf Nimmerwiedersehen versickert war.

Während des Frühstücks sprachen wir kein Wort. Krister verarztete seine Wunde so gut wie möglich. Mit besohlten Füßen hinkte er nur noch ein wenig. Doch der angespannte Blick verriet ein wenig von den Schmerzen, die er empfinden musste.

Trotz des weiterhin fallenden Regens entschieden wir uns zum Aufbruch. Die trockene Wärme der kleinen Höhle gegen die kühle Nässe im Boot einzutauschen, bedurfte einiger Überwindung. Doch der Entschluss stand, es gab kein Zurück mehr. Wir ließen die kleine Bucht hinter uns und segelten hinaus auf die unruhige Tethys. Mit Hilfe des immer noch kräftig blasenden Westwindes nahm das Boot schnell Geschwindigkeit auf und trieb uns der nächsten Etappe entgegen: Kap Fol.

06 VAN DIEN

Im Laufe des Tages klarte es nach und nach auf. Ab Mittag fiel kein Regen mehr, und hier und da zeigte sich eine Sonne, die stetig an Kraft gewann. Ihre wärmenden Strahlen waren wie Balsam für unsere ausgekühlten Körper. Bald konnten wir uns trotz des munteren Westwinds der feuchten Klamotten entledigen. Die Stimmung an Bord hellte sich deutlich auf. Krister liebäugelte sogar wieder mit dem Auswerfen der Leinen, tat es dann aber doch nicht. Seine Hände waren vom gestrigen Kampf mit dem Karsar noch zu lädiert, um neue Herausforderungen anzunehmen.

Als wir Kap Fol passierten und Luke einen Ichthyon sichtete, Gondwanas furchterregendsten Raubfisch, hielt ich den Atem an. Groß war er, mächtig groß, schätzungsweise sechs oder gar sieben Meter lang. Und zum Glück ein gutes Stück vom Boot entfernt. Im Laufe meines Lebens hatte ich schon viele dieser grusligen Räuber der Meere gesichtet, doch war es immer wieder ein unheimliches Erlebnis. Der Anblick der dreieckigen Rückenflosse, die die Wasseroberfläche kräuselt und wie ein Messer durchschneidet, löst stets Unbehagen in meiner Magengegend aus.

Tödliche Angriffe von Ichthyonen auf Menschen kamen alle Jubeljahre vor, zumal sie vor der Küste Avenors oder auch in der December Bay verhältnismäßig selten anzutreffen sind. Dennoch gab es in Stoney Creek nicht einen einzigen Fischer, der noch nicht in Kontakt mit einem Ichthyon gekommen war. Sie tauchen immer dann auf, wenn man sie am wenigsten erwartet und können mit ihren bis zu zehn Metern Länge einem kleinen Fischerboot durchaus gefährlich werden. Unser Exemplar hier verlor schnell das Interesse und tauchte ab.

„So ein großes Tier siehst du nicht oft“, schwärmte Luke. „In Van Dien haben sie einmal einen ausgewachsenen Ichthyon harpuniert, der sich mit mehreren Booten angelegt hatte. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, auch wenn es viele Jahre zurückliegt. So etwas kriegst du nie mehr aus deinem Kopf.“

„Der hier war wohl nicht auf Ärger aus“, kommentierte Krister das Ereignis knapp. „Kap Fol liegt hinter uns. In zwei Stunden geht die Sonne unter. Schlage vor, wir halten Ausschau nach einem Landeplatz.“

Ich brachte das Boot wieder näher an die Küste heran. Bald schipperte es endlosen Sandstränden entlang, die zum Verweilen einluden. Wir zögerten auch nicht lange und nahmen das Angebot an. Für die kommende Nacht rechnete ich keineswegs mit Regen, und so schlugen wir das Lager unter freiem Himmel gleich neben dem Boot auf. Treibholz fand sich in rauen Mengen, und schon loderte ein schönes Feuer empor. Mit dem Verschwinden der Xyn kühlte es empfindlich ab. Auch der Wind frischte erneut auf. Fröstelnd legten wir die wieder trockene Kleidung an, wickelten uns nach einem ausgiebigen Mahl in die Decken und schliefen noch vor Sonnenuntergang ein. Tag vier ging ohne weitere Vorkommnisse zu Ende.

Der neue Tag begann, wie der alte geendet hatte. Strahlendblauer Himmel, kräftiger Westwind. In allen Belangen sahen wir uns vom Wetter begünstigt. Das Boot flog über die Wellen. Bei diesem Tempo mussten wir im Laufe des Nachmittags schon die Ostkante der Mooka-Halbinsel erreichen. Von dort aus lag nur noch die Moa Bay zwischen uns und Van Dien. Mit dem Anlaufen der größten Stadt Aotearoas nahmen wir zwar einen nicht unerheblichen Umweg in Kauf, sahen es jedoch als notwendig an, die Vorräte aufzustocken, bevor es ins Niemandsland ging. Für Luke bedeutete es in seine alte Heimat zurückzukehren, die er vor vielen Jahren als Kind verlassen hatte. Wenn er aufgeregt war, ließ er es sich nicht anmerken.

Zeitiger als erwartet tauchte Kap Farewell auf, jene schmale, bewaldete Landzunge, die sich wie eine lange Nadel in den weichen Bauch der Tethys bohrte. Ich traute meinen Augen kaum. Auch Krister zeigte sich überrascht.

„Wir müssen wie die Teufel gefahren sein“, rief er aus. „Kann das wahr sein? Natürlich, keine Frage, das ist unverkennbar Kap Farewell.“

„Und ob das Kap Farewell ist“, stimmte ich ein. „Jetzt schaffen wir es heute sogar noch bis Van Dien, Krister, da gehe ich jede Wette ein.“

„Wenn der Wind weiterhin so pfeift, auf jeden Fall. Das sollten wir ausnutzen, wer weiß, wie lange er uns noch so gnädig verbunden ist.“

Er blieb uns verbunden. Die Umsegelung des Kaps erforderte einiges Fingerspitzengefühl, denn die See wurde merklich rauer, und die Brise nahm Starkwindcharakter an. Hohe Wellen schlugen von achtern gegen die Bootswand. Mit geblähtem Segel fuhren wir vor dem Wind her und legten noch an Geschwindigkeit zu. Nach Umrundung des Kaps ging ich auf südlichen Kurs und wich dadurch von der Ideallinie ab, die uns in Rekordzeit an Mithanforg vorbei nach Zadar gebracht hätte. Doch dort wollten wir noch gar nicht hin. Unser Ziel hieß jetzt Van Dien. Die See beruhigte sich schlagartig. Kein Wunder, lag doch die Moa Bay, von drei Seiten vom Festland umgeben, relativ geschützt da, ein natürlicher Hafen wie man ihn sich nur wünschen konnte. An ihrem südlichsten Punkt hatten die ersten Siedler im Jahre 57 die Stadt Van Dien gegründet, welche sich bis zu ihrer Zerstörung durch die Opreju 223 Jahre später zur größten Stadt Aotearoas gemausert hatte. Nach Ende des Krieges dauerte es annähernd 150 Jahre, bis es die Menschen wieder wagten, auf den zerfallenen Ruinen eine neue Stadt aufzubauen.

Im Gegensatz zu Cape Travis, das sich sanft an die dicht bewaldeten Hügelketten des Monteskuro anschmiegt, präsentiert sich Van Dien relativ flach und eben. Nur am westlichen Stadtrand zeigt sich eine nennenswerte Erhebung, Van Diens Hausvulkan, der knapp vierhundert Meter hohe Catarakui.

Schon aus weiter Entfernung erblickten wir die vielen weiß schimmernden Häuser, die sich aneinander reihten und im Zentrum zu einem Haufen zusammenballten. Ein imposanter Anblick. Die Moa Bay in Windeseile durchquert, näherten wir uns ebenso schnell dem Festland. Erste Boote tauchten auf, Fischer wie wir, die die See mit ihren Netzen durchkämmten. Wir winkten zur Begrüßung, indessen nahm man wenig Notiz von uns, waren wir doch nur ein Boot von vielen. Niemand konnte uns ansehen, dass wir eine mehrtägige Reise hinter uns hatten und vom anderen Ende Avenors kamen.

Ich steuerte auf den Hafen zu. Anders als in Stoney Creek gab es hier eine Unmenge von Anlegeplätzen, an denen unzählige Boote vertäut lagen. Jetzt, am beginnenden Abend, herrschte reges Treiben, brachen viele Fischer zum Fangzug auf. Im Hintergrund glaubte ich die Betriebsamkeit eines Marktes zu erspähen. Die vielen Menschen, denen wir uns annäherten, entmutigten ein wenig. Als echtes Dorfkind pflegten mich Ansammlungen wie diese eher zu erschrecken als anzusprechen und entsprechend schweigsam harrte ich der Dinge, die da auf uns zukamen. Wie lange war ich schon nicht mehr in Van Dien gewesen? Es mussten über vier Jahre her sein, als Rob und ich uns dem Treck nach Osten angeschlossen hatten, um einmal die größte Stadt Aotearoas zu besuchen. Schon damals hatte sie mir nicht sonderlich gefallen, und auch heute spürte ich dieselbe Abneigung.

An einem der vielen geschäftigen Landungsstege legten wir an und gingen von Bord. Menschen wohin ich sah. Mit knapp siebentausend Einwohnern war Van Dien sogar noch bevölkerungsreicher als Cape Travis. Kein Vergleich mit meinem kleinen Fünfhundertseelendorf. Für Luke bedeutete es die erste Rückkehr in seine Heimatstadt nach über zehn Jahren. Er wirkte aber nicht im Mindesten aufgewühlt oder unruhig. Vielleicht ein wenig verunsichert. Sah so aus, als hätten jene zehn Jahre sämtliche Erinnerungen ausgelöscht. Mit großen Augen sah er sich aufmerksam um.

„Und wie fühlt es sich an wieder hier zu sein, Luke?“ erkundigte sich Krister.

Der Gefragte zuckte mit den Schultern.

„Das kann ich jetzt noch nicht sagen“, meinte er unbestimmt.

Wir ließen den Landungssteg hinter uns und fanden uns sogleich auf dem Markt wieder, den ich bereits von See aus gesichtet hatte. Hier wurde alles feilgeboten was man sich vorstellen konnte.

Hinter dem ersten Stand, der mir ins Auge fiel, saß eine betagte Frau mit schneeweißen Haaren in einem leuchtend purpurfarbenen Gewand und verkaufte warme Speisen, deren Bestandteile sich auch bei näherem Hinsehen schwer erraten ließen. Energisch wedelte sie mit einem fleckigen Tuch über die irdenen Gefäße hinweg, um die Scharen von Fliegen zu verjagen, die sich darüber hermachten.

Ein hagerer alter Mann und eine dicke Frau ähnlichen Alters zerteilten nur wenige Meter daneben eine frisch geschlachtete Ziege. Obwohl ich in meinem Leben schon unzählige Tiere zerlegt hatte, fand ich diesen Prozess immer noch abstoßend und wandte die Augen ab.

Direkt nebenan priesen zwei besonders attraktive junge Frauen mit strohgelben Haaren Obst an. Sie trugen eng anliegende Kleider mit blauen Mustern und hatten sich Leinenschürzen umgebunden. Ich blieb stehen und betrachtete die beiden reizenden Wesen, die meine Aufmerksamkeit registrierten und zu tuscheln anfingen. Die eine kicherte und hielt sich verstohlen die Hand vor den Mund. Ich grinste zurück. Jedenfalls solange, bis mich jemand am Arm ergriff und wegzog.

„Unter 'die Nacht hier verbringen' verstehe ich was anderes“, hörte ich Krister sagen. „Dich kann man wirklich nicht alleine lassen, Jack.“

Ich sah mich noch einmal um. Die beiden jungen Marktfrauen blickten lächelnd hinterher. Die kleinere deutete sogar mit dem Finger auf mich.

„Waren die nicht Zucker?“ schwärmte ich und lief direkt in einen vielleicht dreizehnjährigen Jungen hinein, der einen Handkarren mit undefinierbarem Plunder hinter sich herzog. Im letzten Moment wich er zur Seite und warf mir einen bösen Blick zu.

„Deswegen sind wir nicht hier“, erwiderte Krister knapp und ließ mich wieder los. „Und immer nach vorne sehen! Ah, ich denke, das dort könnte ein Gästehaus sein.“

Wir steuerten das alleinstehende Gebäude an, das mit jedem Meter heruntergekommener aussah und sich am Ende als Taverne entpuppte. Der Abend hatte zwar noch gar nicht begonnen, aber Männer jeden Alters saßen an den Tischen und tranken und schwatzten und ließen es sich gut gehen. In Stoney Creek gab es auch Tavernen wie diese, nur ging es dort erheblich ruhiger zu.

„Gibt es hier ein Gästehaus?“ Ich wandte mich wahllos an einen sitzenden Gast in meinem Alter, der neugierig dreinblickte.

„Wo kommt ihr her?“ fragte er zurück, unser Gepäck beäugend.

„Aus Stoney Creek“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Gerade angekommen.“

„Mit welchem Treck?“

„Mit keinem, wir sind mit dem Boot hier.“

„Ah ja?“ Seine merkwürdig grasgrünen Augen musterten mich. „Um diese Jahreszeit wagen das nicht viele. Ihr müsst in wichtiger Angelegenheit unterwegs sein.“

„Nicht unbedingt“, gab ich zur Antwort. „Wo ist denn nun das nächste Gästehaus?“