Kitabı oku: «Rattentanz», sayfa 6

Yazı tipi:

Er hat uns gefunden, gefunden, gefunden!!!

Vielleicht sind das unsere Retter? Vielleicht aber auch nicht. Hätten wir die Treppe genommen, wie ich gesagt habe, dann …

Komm, Tommy, hihi, rufe, so laut du nur kannst! Sag ihnen, dass wir hier auf unser Ende warten! Los, Tommy, los! Rufe. Los, ruf doch endlich!

Nein! Bleib, wo du bist, sonst bringst du uns alle in Gefahr!

Denk an deine Kraft! Nur du kannst dich retten, nur du kannst deine Kraft finden und entfalten!

Jetzt ruf doch! Biiiitte!

»Halleluja, wenigstens einer, den wir nicht ruinieren müssen!«, rief da eine Männerstimme. Es folgte ein Klatschen gegen die Kabinentür, dann entfernten sich Schritte.

Thomas blieb lange sitzen. Er zitterte und sein Puls raste durch seinen Körper. Er hielt sich weiter die Fäuste an die Ohren und erwartete jeden Moment neue Donnerschläge, neues Weinen, Schreie, Hilferufe und quietschendes Metall.

Aber diesmal hielt die Stille an, war es eine ehrliche Ruhe, wenn es die denn gibt. Aber, da es eine trügerische Ruhe gab, musste Ruhe auch ehrlich sein können. So, wie diese Ruhe.

Nach Sekunden, Minuten oder nach Stunden, er hatte jegliches Zeit gefühl in der Dunkelheit verloren, kehrte sein Leben zu ihm zurück. Und mit ihm Hunger. Und Durst. Quälender, brennender Durst!

11

10:21 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Haupteingang

Der geräumige Eingangsbereich der Klinik hatte sich währenddessen in eine Hexenküche verwandelt. Immer mehr Leicht- und Schwerverletzte kamen aus der Stadt und der nahen Umgebung. Es kamen Patienten, die sich bei dem Versuch, die offensichtlich defekten Wasser- und Stromanschlüsse zu reparieren, verletzt hatten, Menschen, denen der abrupte Verlust ihrer gewohnten Lebensumstände (kein Radio, kein Fernsehen, keine Telefon- und Internetverbindungen, keine funktionierende Kaffeemaschine, keine Mikrowelle, kein Licht) der maßen zusetzte, dass sie von Angehörigen mit Herzrasen oder Atemnot eingeliefert wurden. Bei der Mehrzahl der Kranken handelte es sich allerdings um Unfallopfer.

Ausgefallene Ampelanlagen waren zwar die einzige direkte Auswirkung des nunmehr schon dreistündigen Stromausfalls, jedoch führten Verunsicherung und Angst dazu, dass Verkehrsregeln plötzlich nicht mehr anerkannt wurden, die Autofahrer unkonzentriert fuh ren oder aber ein Verhalten zeigten, das ihnen im Normalfall völlig fremd gewesen wäre. Die sich schnell herumsprechende Nachricht von den abgestürzten Flugzeugen tat ein Übriges, um aus Ordnung Chaos und aus dem antrainierten Miteinander einer funktionierenden Gesellschaft ein egoistisches Gegeneinander zu machen.

Der große Wartebereich am Haupteingang hatte sich mit Leichtverletzten, vor allem aber mit Angehörigen gefüllt, die sich aus Sorge um ihre Kranken und abgeschnitten von jeder Kommunikationsmöglichkeit auf den Weg gemacht hatten, in der Klinik nach ihrem Mann, der Frau, einem Elternteil oder Kind zu sehen. Erschienen zuerst nur wenige Menschen, so strömten jetzt immer mehr in das Haus, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen. Als nun das Stimmen gewirr immer lauter und ungeduldiger wurde, sah sich der Klinikleiter genötigt einzugreifen. Verwaltungsleiter Tröndle stieg auf einen niedrigen Tisch, von dem man eilig die Blumenkübel geräumt hatte, und versuchte Ordnung in das zunehmende Chaos zu bringen. Obwohl er nach mittlerweile fünfzehn Jahren in verschiedenen leitenden Positionen gewohnt war, vor größeren Menschenansammlungen zu sprechen, kam er sich doch seltsam vor. Er war mittelgroß, schlank und die grauen Haare, die der Endvierziger vermehrt bei sich entdeckte, hatte er letztens tönen lassen. Wie immer trug Tröndle einen tadellos sitzenden dunklen Anzug. Nur die grellgelbe Krawatte, von seiner Frau ausgesucht, wirkte dem Ernst der Lage nicht angemessen.

»Hören Sie!«, probierte er, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Hören Sie bitte! Wir haben alles im Griff!« Die Gespräche verstummten. »Ihren Angehörigen geht es gut. Der Klinikbetrieb läuft dank unserer Notstromaggregate reibungslos weiter. Auch die Versorgung unserer Kranken ist gesichert.« Das Pochen in seinen Schläfen ließ nach. Allmählich fühlte er sich wieder Herr der Lage. »Im Haus befinden sich Medikamente und Nahrung, die, sollte nicht bald alles wieder beim Alten sein, mehrere Tage reichen werden. Bitte«, er zeigte auf vier im Hintergrund stehende Krankenschwestern, »bitte, wenn Sie Angehörige besuchen wollen, wenden Sie sich an die Schwes tern. Kranke oder Verletzte warten bitte hier. Wie Sie sehen«, Tröndles Blick wanderte durch den Raum, dann hatte er gefunden, wonach er suchte, »wie Sie sehen, kümmern sich hier zwei unserer erfahrenen Ärzte um die leichter Verletzten und sorgen für eine schnelle Aufnahme Schwerverletzter.« Aus den Reihen der Wartenden antwortete unzufriedenes Murmeln.

»Haben Sie auch Wasser?«, wollte eine junge Frau wissen, die mit ihrer kleinen Tochter an der Hand darauf wartete, dass man sie zu ih rem gestern am Blinddarm operierten Mann ließ.

Wasser – das bedeutete, dessen war sich der Klinikleiter bewusst, das wirkliche Problem in der momentanen Situation. Im Wirtschaftshof der Klinik befand sich zwar noch ein Vorrat von etwa fünfhundert Flaschen Mineralwasser, womit man die etwa einhundertachtzig Patienten des Hauses sicher zwei, drei Tage mit dem notwendigen Minimum an Flüssigkeit versorgen konnte. Aber was war mit den Toiletten? Diese waren jetzt schon ein Problem, da die Patienten sie zwar weiterhin benutzten, aber nicht mehr spülen konnten. Aus dem zweiten Stock wurden bisher vier, aus dem ersten zwei verstopfte Toiletten gemeldet und überall ekelten sich Patienten davor, den Exkremen ten des vorigen Benutzers die eigenen Ausscheidungen hinzuzufügen.

»Die Versorgung unserer Patienten mit ausreichend Flüssigkeit ist kein Problem!«, antwortete Tröndle. »Fließend Wasser haben zwar auch wir nicht, aber ich denke, dass sich die Situation bald wieder normalisieren wird und …«

»Wissen Sie, was überhaupt los ist?«, wurde er unterbrochen. Er war dem Fragesteller fast dankbar. »Wissen Sie, warum nichts mehr funktioniert? Und stimmt das, was man erzählt – das mit den Flugzeugen?« Die Fragen kamen von einem älteren Mann mit verbundener Hand. Seine tiefe Schnittwunde am linken Zeigefinger, die er sich gegen acht Uhr bei dem vergeblichen Versuch zugezogen hatte, nach Großvätersitte eine Scheibe Brot abzuschneiden, hatte man gerade genäht.

»Ja«, antwortete Tröndle »das mit den Flugzeugen scheint wahr zu sein. Es sind inzwischen zwei Überlebende schwer verletzt eingeliefert worden, deren Maschine bei Blumberg zerschellte. Sie werden gerade operiert. Und auf Ihre andere Frage: nein, wir wissen nicht, was los ist. Wir wissen leider auch nicht mehr als Sie. Es tut mir leid.« Er klang hilflos.

In diesem Moment hörten alle einen gellenden Schrei. Das Gemur mel der vielen erstarb schlagartig und man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können.

Dann ein zweiter Schrei, länger anhaltend, der in haltloses Schluchzen überging und schnell näher kam.

Tröndle, noch immer auf seiner erhöhten Position, sah fragend zu einem Mann aus der Finanzabteilung seiner Klinik, der am Ausgang zum Treppenhaus stand. Der zuckte nur die Schultern, als von den Las tenaufzügen her Schreie schnell näher kamen. Eine Frau stürzte in den Wartebereich und fiel einem der Ärzte in den Arm.

»Da, da«, schluchzte sie und zitterte wie ein Blatt im Wind, »da hinten!«

»Ganz ruhig«, sagte der Arzt. »Ganz ruhig. Atmen Sie tief und langsam und beruhigen Sie sich.«

Die Umstehenden vergaßen für einen Moment ihre Sorgen und warum sie hier waren und rückten näher. Der hinzugekommene Tröndle, die weinende Frau und der Arzt waren bald von einem dichten Ring neugieriger Gesichter umschlossen.

10:36 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2

Der Schrei einer Frau sprang ihn völlig unvermittelt und aus heiterem Himmel an. Thomas Bachmann hatte den Worten seiner Nummer eins geglaubt (Es ist vorbei, Thomas! Das Böse ist weg!) und die vermeintliche Sicherheit der kalten Aufzugecke verlassen. Es hatte ihn unsägliche Mühe und Überwindung gekostet, die Fäuste von den Ohren zu nehmen und sich zur Tür der Kabine vorzutasten, wo seine schwarze Aktentasche auf ihn wartete. Er hatte Durst, so großen Durst und in seiner Tasche lag die silberne Thermoskanne, ohne die er niemals irgendwohin ging. Die Kanne war gefüllt mit heißem Melissentee. »Trinken Sie regelmäßig Melissentee«, hatten sie ihm in der Psychiatrie geraten. »Der wird Ihnen Ruhe geben.«

Gerade berührten seine Finger die vertraute Oberfläche der Tasche. Sie fühlte sich schwarz an, also war es seine Tasche, denn Nummer zwei war der Meinung, dass in der Dunkelheit der Kabine die Tasche vielleicht ausgetauscht worden sei.

Thomas’ Fingerspitzen wanderten über das weiche Leder. Es erschien ihm warm und etwas rau, genau so, wie sich schwarz anfühlt.

Dann gellte ohne jegliche Vorwarnung der Schrei. Von weiter oben, aber nicht sehr weit entfernt schrie eine Stimme voller Entsetzen. Dann schnelle Schritte und noch ein Schrei!

Thomas’ Finger zuckten von der Aktentasche zurück als hätten sie sich verbrannt. Er presste seine beiden Fäuste wieder gegen die Ohren und krabbelte in seine Ecke zurück. Mit dem Gesicht zur Wand und angezogenen Knien versteckte er sich.

Schließlich verfiel er in jammerndes, leises Stöhnen und bewegte dazu den Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, wie in Trance. Vor und zurück.

Die Frau war im Treppenhaus einmal falsch abgebogen und so vor der halb offenen Aufzugtür gelandet, von wo aus sie einen vollkommen unvorbereiteten Blick in die etwas tiefer stehende Kabine werfen konnte. Dort saß Anton Banholzer tot in seinem Bett. Die Techniker hatten vor die gewaltsam zur Hälfte geöffnete Tür ein Band geklebt und den Hinweis »Außer Betrieb« angebracht. Auch hatte man die Leiche mit einem Bettlaken abgedeckt. Da keiner wusste, wie man mit dem Toten weiter verfahren sollte, die aufgelöst weinende Krankenschwes ter beruhigt werden musste sowie ein weiterer stecken gebliebe ner Aufzug und immer mehr Kranke und Besucher nach den Techni kern und dem Arzt verlangten, hatte man Anton Banholzers herun terhängende Beine unter die Decke gesteckt, ein Laken über ihm ausgebreitet und besagten Hinweis angebracht.

Das Laken war vom Gesicht des aufrecht im Bett Sitzenden herabgerutscht. Seine Gesichtszüge hatten sich entspannt, aber aus den weit aufgerissenen Augen sprachen noch immer Todesangst und Entsetzen und sprangen, als die Frau in die halb offene Tür trat, in ihre Augen über. Sein Kopf war nach rechts auf seine Schulter gerutscht, sodass eine dünne Speichelspur aus seinem Mundwinkel auf die Brust getropft war und dort langsam trocknete. Seine Zunge, ebenfalls nach rechts verrutscht, sah inzwischen trocken und aufgequollen aus.

»Da liegt ein Toter im Aufzug!« Sie wirkte verwirrt, als sie mit dem Arzt sprach. Die Umstehenden saugten jedes Wort begierig auf. »Er sitzt im Aufzug in einem Bett und seine Augen …« Die Frau schluchz te hemmungslos. »Die Augen haben mich angesehen!«

12

11:23 Uhr, Donaueschingen, Polizeirevier

Viel schneller, als pessimistischste Soziologen wohl jemals vermutet hätten, brachen die gesellschaftlichen Klammern, die das tägliche Leben ordneten. Dass alles so schnell ging, war mit einiger Sicherheit den diversen Flugzeugabstürzen zuzuschreiben.

Das Zusammentreffen des totalen Strom- und Wasserausfalls, verbunden mit dem Verlust sämtlicher Kommunikationsmöglichkeiten allein wäre wohl nicht in der Lage gewesen, innerhalb weniger Stunden dieses Bild vollkommener Anarchie zu malen. Die vom Himmel stürzenden Maschinen aber, die hautnah erlebten Katastrophen, bei denen Hunderte Menschen in gleißenden Feuerbällen verbrannten, das Gefühl der Ohnmacht beim Versuch, Hilfe zu rufen oder selbst zu leisten, all das führte selbst unverbesserlichen Optimisten und obrigkeitstreuen Befehlsempfängern (im Normalfall die Letzten, die ein Desaster zugaben) vor Augen, um was es sich handelte: um eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes!

Polizeihauptmeister Joachim Beck stolperte kurz nach halb elf mit gebrochener Nase ins Polizeirevier der Stadt. Sein Atem ging laut und rasselte wie eine zum Angriff bereite Klapperschlange. Er verriegelte die Tür, lehnte sich mit dem trügerischen Gefühl der Sicherheit gegen sie und schloss endlich die Augen. Becks Nase saß, im Gegenteil zu heute morgen, als alles noch seine anatomische Richtigkeit hatte, etwas schief im Gesicht des Achtundzwanzigjährigen. Und sie nahm langsam die Form einer blutigen Kartoffel an. Das rechte Auge war rot unterlaufen und halb zugeschwollen.

Joachim Becks Motivation, in den Polizeidienst einzutreten, war profaner Art, familiärer Natur kann man sagen. Als jüngstes von drei Kindern war er für seinen älteren Bruder kaum existent. Elf Jahre lagen zwischen ihnen und das einzige gemeinsame Spiel, an das Beck sich noch erinnern konnte, war »Cowboy und Indianer«. Natürlich waren sein Bruder und dessen Freunde die siegreichen Eroberer. Ihm steckten sie ein paar Hühnerfedern ins Haar, malten mit Schlamm braune Streifen auf seine Wangen, banden ihm die Hände auf den Rücken und zerrten ihn nackt bis auf die Windeln, die er damals noch immer trug, zu einem Kirschbaum. Hier sollte der kleine Wilde hängen. Noch heute spürte er das derbe Seil, das sie ihm um den Hals legten und hätte ihn damals jemand gefragt, er hätte Stein und Bein geschworen, dass es das schon wieder war mit dem Leben. Aber sie hatten ihn nicht aufgeknüpft, nur gemeinsam über seine randvolle Windel gelacht.

Ganz anders Manuela, seine Schwester. Vor ihr hatte er Angst und sie war der eigentliche Grund für Becks Polizistenkarriere. Manuela war bei seiner Geburt acht Jahre alt gewesen. Der kleine Bruder kam einem Mädchen, welchem die abgeliebten Babypuppen bereits zu kindisch und ein eigenes Baby noch versagt waren, wie gerufen. Manuela nahm ihn mit der Selbstverständlichkeit einer Frühreifen in Besitz. Er hatte ihre Mutterinstinkte geweckt und fortan kaum mehr Gelegenheit, diesen zu entkommen. Sie schob ihn spazieren und präsentierte ihn stolz ihren Freundinnen. Jede durfte ihn anfassen und später auch seine Windeln wechseln. Manuela degradierte ihren kleinen Bruder zu einem Spielzeug; einem besonderen Spielzeug, einem lebenden Spielzeug.

Mit dreizehn, vierzehn begann sie sich langsam zu verformen. Sie bekam Brüste, groß wie Melonen, und ihre Hüften wurden breit und immer breiter. Es war, als habe sich der Körper des Mädchens den Vorgaben ihres Charakters entsprechend verändert und zu einer mütterlichen Glucke wie ihr gehörten die Rundungen einer reifen Matrone. Sie klemmte sich den kleinen Bruder zwischen die wogenden Brüste und liebkoste ihn ohne Rücksicht auf die drohende Erstickung. Mit sechzehn war er immer noch ihr Baby, ihr Kleiner, ihr Süßer. Tatsächlich war sie fast einen halben Kopf größer als er – keine Kunst, wenn man selbst nicht einmal einssiebzig misst.

Joachim Beck bewarb sich gegen den Willen seiner großen Schwester zum Polizeidienst. In seinen Augen war dies der einzige Weg, sich von ihr zu lösen, sie von sich zu lösen. Weder Recht noch Ordnung, weder Demokratie oder Waffen oder, wie viele seiner Kameraden damals vermuteten, Autoritätsgier waren maßgebend. Der einzige Grund war Manuela, seine viel zu große Schwester.

Heute hörte er nur noch selten von ihr. Sie hatte, nachdem er das Elternhaus endgültig verlassen hatte, geheiratet und schnell hintereinander drei Kinder in ihre Welt gesetzt. Diese durften jetzt ihre Mütterlichkeit genießen.

Bei seinen Kollegen war er angesehen. Die anfänglichen Witze über den abgebrochenen Riesen mit dem dünnen Bärtchen, der wie ein halb fertiger Rahmen den Mund einschloss, waren verstummt. Alle akzeptierten ihn. Er hatte sich freigeschwommen.

Von der Straße her drangen wütende Rufe in das Gebäude.

»Mein Gott, was ist mit dir passiert? Wo sind di Sario, Wegmann und Meinhoff?« Kommissar Storm, durchtrainierter Endvierziger mit kahlgeschorenem Schädel, betrachtete entsetzt das Gesicht seines Untergebenen. Sein Blick wanderte über die zerrissene Uniform zu den Füßen Becks, an denen ein Schuh fehlte. Die Mütze des Polizisten konnte er ebenfalls nicht entdecken.

»Wo ist deine Waffe?« Das dunkelbraune Lederhalfter unter Becks linker Achsel war leer. Beck schüttelte stumm den Kopf, was er aber sofort bereute. Er erstarrte mitten in der Bewegung, hoffte, so die durch seinen Schädel polternden Schmerzen zu beruhigen.

»Haben wir noch irgendwo Eis?«, fragte er zurück und zeigte auf seinen Kopf.

Storm, Kommissar und an diesem Vormittag Dienstgruppenleiter des Donaueschinger Reviers, brachte aus dem kleinen Kühlschrank im Aufenthaltsraum eine letzte Handvoll schmelzender Eiswürfel, eingewickelt in einen Plastikbeutel. In der Pfütze vor dem Kühlschrank rutschte er aus und konnte seinen Sturz nur dadurch verhindern, dass er sich an einem Regal festhielt, das daraufhin bedrohlich schwankte, sich neugierig nach vorn beugte, es sich letztendlich dann aber doch anders überlegte und in seine alte Position zurückkehrte. Dabei schüttelte es die alte Kaffeemaschine ab, deren Kanne zerplatzte wie ein überreifer Pickel.

»Mist!«, fluchte der Kommissar.

In diesem Moment, Beck lehnte weiter mit dem Rücken an der Tür und streckte gerade die Hand nach dem Eisbeutel aus, den ihm der Revierleiter entgegenhielt, zerbarst eine der vergitterten Fensterscheiben. Scherben tanzten über den Boden und reflektierten das Sonnenlicht. Ein faustgroßer quadratischer Pflasterstein rollte aus und blieb in der Mitte des Raumes liegen. Fast im selben Augenblick wurde ge gen die Tür des Reviers gehämmert und getreten. Die Tür zitterte und bebte und Beck sprang von ihr weg, als habe er sich den Rücken verbrannt.

»Ist hinten alles zu?« Beck meinte den zweiten Eingang ins Gebäu de, eine Doppeltür, die vom Hinterhof, auf dem die meisten hier ihre Autos und Fahrräder abstellten, durch einen schmalen Flur mit dem Revier verbunden war.

Storm drehte sich ohne eine Antwort zu geben um und rannte zum Hintereingang. Als er den kühlen Flur betrat, der zum Hintereingang führte, sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Durch die seltsamerweise weit offen stehende Tür zum Hinterhof fielen Sonnenstrahlen. Staub tanzte in dem aufgefächerten Lichtkegel und am Boden lag eine Eisenstange. Storms Hand ging automatisch zum Halfter. Er versuchte zu erkennen, was die Bewegung verursacht hatte und wich einen Schritt zurück, aber die kühle Hauswand hielt ihn auf. Aus dem Dunkeln traf ein Faustschlag den Kommissar präzise am Kinn. Storms Kopf knallte mit einem hohlen Geräusch gegen die Wand. Augenblicklich wurde es dunkel um ihn, seine Knie gaben nach und langsam rutschte er auf den kalten Boden. Sein Hinterkopf hinterließ eine dünne Blutspur.

Drei Stunden vorher

Nach dem konzertierten Strom-, Telefon- und Computerausfall hatte Revierleiter Frederik Salm, seines Zeichens Erster Polizeihauptkommissar, seine Mitarbeiter am Morgen zusammengerufen. Als Erstes hatte er seine Sekretärin angebrüllt, die wohl einen Tick zu lange gebraucht hatte, die Unterlagen herauszusuchen, welche Anweisungen für Stromausfallsituationen gaben. Den gewichtigen Aktenordner mit den Instruktionen hatte er ihr aus der Hand gerissen und vor sich auf den Tisch geknallt.

Insgesamt arbeiteten achtundfünfzig Polizisten in fünf Schichten im Streifendienst. Von den zwölf Frauen und Männern, die an diesem Morgen Dienst taten, befanden sich noch acht im Revier, der Rest war bereits auf Streife, bei Verkehrskontrollen und einem Einsatz in Hüfingen, wo kurz vor sieben die Haushälterin des Pfarrers die Ordnungs hüter angerufen hatte, da die Kirche nun schon zum dritten Mal in diesem Frühjahr mit riesigen Graffiti verunstaltet worden war. Die acht Polizisten, fünf Schreibkräfte und vier weitere Innendienstmitarbeiter waren dem unüberhörbaren Ruf ihres cholerischen Chefs gefolgt und hatten sich im Besprechungsraum versammelt. Mit hochrotem Kopf hatte der übergewichtige und permanent schwitzende Salm in den Unterlagen gewühlt und schließlich eine seitenlange Anweisung hervorgekramt, die die Verkehrslenkung als oberste Priorität in solchen Fällen vorschrieb.

»Storm«, hatte er den Dienstgruppenleiter angefahren und dabei, wie immer, wenn er unter Stress stand, den Dienstgrad unterschlagen, »holen Sie einen Stadtplan. An allen großen Ampelkreuzungen will ich zwei Leute haben.«

»Was ist mit den Leuten, die schon draußen sind? Funktionieren die Handys inzwischen wieder?«

Die Sekretärin, Fräulein Meyer, hatte den Kopf geschüttelt.

»Sie bleiben hier im Revier, Storm, und teilen die, die zurückkommen, neu ein. Außerdem will ich«, er hatte sich den Innendienstmitarbeitern zugewandt, »dass Sie sich zum Rathaus, zur Feuerwehr, ins Krankenhaus und zum Bahnhof aufmachen. Wenn jemand etwas über dieses Chaos heute Morgen rausbekommt oder irgendwo Hilfe benötigt wird: herkommen! Fräulein Meyer, Sie setzen sich in Ihren Wagen und klappern alle Kollegen ab, die heute frei haben. Auch die, die erst zur Spät- oder Nachtschicht erscheinen müssten. Jeder, der nicht gerade tot im Bett liegt, soll sofort hier aufkreuzen. Verstanden?«

Die Sekretärin hatte genickt und wollte sich schon auf den Weg machen.

»Vergessen Sie Ihre Adressliste nicht oder wissen Sie aus dem Kopf, wo jeder wohnt?«

»Was ist mit Streife?« Kommissar Storm hatte die Anweisungen seines Chefs auf einem Zettel notiert und sah ihn dann fragend an.

»Sollten wir nicht wenigstens eine Streife rausschicken, die die Geschäfte der Innenstadt und die Banken kontrolliert?«

»Sehr gut, Storm. Aber ihr fahrt heute zu viert. Zwei Leute sind zu wenig, wenn man nicht in der Lage ist, Unterstützung zu rufen.«

So hatte jeder eine Aufgabe erhalten und machte sich mit dem Gefühl auf den Weg, noch immer Herr der Lage zu sein oder wenigstens bald wieder werden zu können.

Hauptmeister Joachim Beck wurde zusammen mit Sarah di Sario, Werner Meinhoff und Christian Wegmann zur Streife eingeteilt. Als sie den Hof des Reviers verlassen hatten, war es bereits kurz vor neun gewesen und die meisten Hauptausfallstraßen der Stadt schon heillos verstopft. Richtung Innenstadt ging es ebenfalls nur langsam voran. Menschen standen in kleineren und größeren Gruppen zusammen. In haber größerer Geschäfte oder solcher mit besonders wertvollen Auslagen hatte die Sorge um ihren Besitz schon früh in die nun ungesicherten Läden getrieben. Nach und nach waren Mitarbeiter und Passanten eingetroffen, aber keiner wusste das Warum der Katastrophe, keiner, wie es weitergehen sollte.

Der Streifenwagen wurde schon von der ersten Menschengruppe angehalten, auf die er traf. Es waren Anwohner und zwei, drei Ladenbesitzer. Beim Anblick der Uniformierten schöpften sie Hoffnung. Als ihnen aber klar wurde, dass die Gesetzeshüter genauso unwissend waren wie sie selbst, schlug die erwartungsvolle Freundlichkeit schnell in Zorn um, der sich in Beschimpfungen entlud: »Was fahrt ihr denn hier spazieren, wenn ihr von nichts Ahnung habt? Kümmert euch lieber um die Stromversorgung und die Telefone! Oder seht zu, dass die Straßen wieder frei werden, man kommt ja kaum noch irgendwohin!«

Beck und seine Kollegen fuhren weiter. Aber schon nach der nächsten Straßenbiegung wiederholte sich das Spiel. Sie wurden angehalten, zuckten bedauernd die Schultern und mussten erneut als Blitzableiter für die Angst und Wut der Menschen herhalten.

In Sichtweite wartete bereits die nächste Gruppe und aus einem der drei- und vierstöckigen Häuser, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden waren und die Straßen der Innenstadt nahtlos säumten, hatte ihnen eine alte Frau zugewunken. »Hilfe!«, schrie sie. »Ich bin überfallen worden!« und dabei wedelte sie mit beiden Armen aus einem Fenster unterm Dach und lehnte sich weit vor.

»Wenn die so weitermacht, flattert sie gleich los«, hatte Meinhoff leise gespottet. Dann, lauter und gut hörbar, hatte er der verständnislos blickenden Frau erklärt, dass sie einen anderen Auftrag hätten, dass aber, sobald alles wieder funktionieren würde, jemand vom Revier vorbeikäme.

Verfolgt von den Hilferufen und den Verwünschungen der alten Frau waren sie weitergefahren und vor der Filiale der Deutschen Bank ausgestiegen. Vor dem Haupteingang hatten sich gut zwei Dutzend Männer und Frauen versammelt, die vergebens versuchten, eingelassen zu werden. Hinter einer abgeschlossenen Glastür standen zwei Män ner im Anzug und hatten nur mit dem Kopf geschüttelt.

»Die lassen uns nicht rein!«, schimpfte ein älterer Herr und drohte mit seiner knorrigen Faust Richtung Eingang. »Nicht mal an den Geld automaten lassen die uns ran.«

Obermeister Werner Meinhoff, Leiter der Streife, hatte an die Glastür geklopft, während Beck, di Sario und Wegmann die Leute vorsichtig von der Tür abgedrängt und dabei beruhigend auf sie eingeredet hatten. So hatten sie es im Deeskalationsseminar gelernt. Mein hoff war inzwischen von den beiden Bankern eingelassen worden.

»Wir können die Bank nicht öffnen«, erklärten die Männer. »Abgesehen davon, dass wir ganz allein hier sind, können wir keinerlei Buchungen vornehmen. Die Computer streiken und wir haben keine Möglichkeit, den Saldo irgendeines Kontos abzufragen. Woher sollen wir wissen, ob die Leute überhaupt was abzuheben haben?«

»Davon ganz abgesehen kommen wir an keinen einzigen Euro ran. Im Kellertresorn liegt zwar reichlich Bargeld, aber die elektronischen Schlösser blockieren die Verriegelung. Ohne Strom und funktionierenden Computer können wir hier gar nichts unternehmen, selbst wenn wir wollten.«

Den Polizisten leuchteten die Argumente der Banker ein, nicht aber den Passanten auf der Straße. Den vielen Älteren unter ihnen, die während des Zweiten Weltkrieges und in den Hungerjahren danach aufgewachsen waren, steckte diese Kindheitserfahrung zu tief in den Knochen. Sie konnten nicht einfach nur dastehen und ruhig und im Vertrauen auf das Funktionieren der gewohnten Ordnung die weitere Entwicklung abwarten. Ihre erste Intuition war, das Eigentum zu sichern und die Vorräte zu kontrollieren. In einem Land, in dem alles zu jeder Zeit käuflich erwerbbar war, beschränkten sich die Vorräte zu Hause im Allgemeinen auf den Bedarf der kommenden zwei, drei Tage.

»Ich habe fünfunddreißigtausend Euro auf dieser Bank liegen und jetzt«, eine Frau kramte ihren Geldbeutel aus der Handtasche und hielt den Polizisten die fast leeren Fächer unter die Nasen, »jetzt habe ich nicht mal Geld, um ein Brot und Butter zu kaufen, so lange es noch etwas gibt.«

Vor der Volksbank war das Problem das gleiche, ebenso bei der kleinen Innenstadtfiliale der Sparkasse. Hier allerdings war die Lage beim Eintreffen der vier Beamten ein klein wenig anders. Eine Menschentraube von vielleicht vierzig Personen drängte gegen den Eingang, der im Gegensatz zu den anderen Banken weit offen stand. Als am Morgen der Strom ausgefallen war, hatten sich zwei Angestellte der Filiale im Tresorraum befunden. Eine der Frauen wollte, als das Licht ausging und ein leises Zischen der offen stehenden Tür das automatische Schließen ankündigte, schnell noch den Tresor verlassen. Sie war im Dunkeln Richtung Tür gerannt und hätte es fast geschafft, als sie über die Geldkassette stolperte, die sie selbst vor wenigen Minuten, zum Abtransport bereit, vor die Tür gestellt hatte. Sie rutschte über den glatten Steinboden wie eine gefallene Eiskunstläuferin und blieb genau im Türrahmen liegen. Ein leises Zischen der sich schließenden Tür, dann wurde ihr Brustkorb eingeklemmt. Das Knacken der brechenden Rippen ging in den gellenden Schreien der Frau unter, die von den eisernen kalten Wänden des Tresorraumes zurückgeworfen wurden. Sie schrie hoch und unvorstellbar laut, schrie in Todesangst und von niemals erwarteten Schmerzen gepeinigt. Rippen durch spießten die Lungen, die Tür drückte weiter. Die Schreie wurden schwächer, dann löste sie verzweifeltes Japsen ab.

Ihre Kollegin hatte noch versucht, die Frau zu retten. Sie stemmte sich gegen die Stahltür, aber umsonst – die am Boden Liegende wurde langsam zerquetscht, so aber auch das völlige Schließen des schweren stählernen Monstrums verhindert. Die Blutungen in ihrem Brustkorb und die unvorstellbaren Schmerzen ließen sie nach wenigen Minuten bewusstlos werden. Zwanzig nach sieben, in dem Moment, als der Leiter dieser kleinen Filiale das Gebäude betrat, war sie tot.

Der Filialleiter, vom verzweifelten Rufen der eingeschlossenen Mitarbeiterin in den Keller gelockt, mühte sich einige Minuten vergeblich, die Tür zu öffnen. Außer Atem und mit Schweißperlen auf der Stirn versuchte er telefonisch, Hilfe zu rufen. Schließlich wusste er sich nicht anders zu helfen, als die Kunden, die bereits vor der Bank warteten und an die Glastüren klopften, um Hilfe zu bitten. Er erwartete zwar noch einen weiteren Mitarbeiter, war sich aber sicher, dass sie ge meinsam immer noch zu schwach wären, die schwere Tür zu öffnen und die Frauen zu befreien. Was der Filialleiter nicht wusste war, dass sein verspäteter Mitarbeiter mit seinem Wagen einen kleinen Unfall hatte und deshalb diesen Tag gedachte, mit seinem Überstundenkonto zu verrechnen.

Zu siebt hatten sie es bis halb neun endlich geschafft, die Tür so weit aufzuhebeln, dass die Eingeschlossene den Tresorraum verlassen und die Leiche herausgezogen werden konnte. Danach überschlugen sich die Ereignisse in der kleinen Filiale.

Während der Filialleiter das Gesicht der Toten mit seinem Jackett zudeckte, war den Kunden der Inhalt des kleinen Raumes hinter der Stahltür aufgefallen. Im Lichtkegel der Taschenlampe, die der Leiter mit in den Keller gebracht hatte, sahen sie Geldpakete, Hartgeldrollen und einige kleine Goldbarren.

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