Kitabı oku: «Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller», sayfa 3

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Rosa sah reichlich mitgenommen aus. Sie musste sich wohl erst von der Flucht erholen. Er lehnte sie an eine Hauswand und betrachtete sie. Selbst jetzt, wo sie so erschöpft wirkte, war sie wunderschön. Ihr Atem verlangsamte sich. Gerade als Jacob sie küssen wollte, atmete sie wieder zunehmend schneller. Sie drehte sich von ihm weg und erbrach sich vor die Hauswand.

Na prima, dachte Jacob. So hatte er sich den Ausgang des Abends nun wirklich nicht vorgestellt.

Jacob öffnete die Eingangstür zur Schenke und ein muffiger, abgestandener Geruch schlug ihm entgegen. Dabei waren gerade mal eine Handvoll Männer anwesend. Wie würde es hier erst in ein paar Stunden riechen, wenn literweise Bier geflossen war und die Trinkenden ihre Ausdünstungen verbreitet hatten?

Er sah sich kurz um, entdeckte seinen Bruder nirgendwo und setzte sich auf einen der Hocker an der Theke. Der Wirt nickte ihm grüßend zu und kam einen Moment später herbei. Jacob bestellte ein Bier. Schon wieder ein Starkbier, dachte er. Das letzte hatte er vor nur einer Woche, auf dieser missglückten Tanzveranstaltung. Kurz überlegte er, wie es um den Inhalt seines Geldbeutels stand. Musste er aufpassen, dass er nicht über seine Verhältnisse lebte? Nein, er hatte vor zwei Wochen erst seinen Lohn von Herold erhalten und seitdem nicht viel davon ausgegeben. Vielleicht sollte er für Herold auch ein Bier bestellen. Dann konnten sie sofort anstoßen, wenn er gleich eintraf. Doch wer wusste schon, wann sein Bruder kam? Sie waren zwar in dieser Minute verabredet, aber er war so in die Arbeit in und an der Mühle vernarrt, dass er mitunter dabei die Zeit vergaß. Es konnte also sein, dass Jacob länger warten musste, und dann wäre es zu schade, wenn das Gebräu schal würde.

Seine Gedanken versanken in die Geschichte, die er gerade schrieb. Die Umgebung nahm er kaum noch wahr, während er sich den Fortgang der Handlung überlegte, verschiedene Wendungen erwog und darüber nachdachte, wohin sie führen würden. Ab und zu nippte er an dem Bier, das er aber kaum schmeckte.

Nach einer Weile ließ ein Gast die Eingangstür zuknallen, was Jacob aus seine Gedanken wieder herausriss. Er hob den Krug zum Mund, doch der war mittlerweile leer getrunken. Auf dem Hocker drehte er sich zum Gastraum und stellte fest, dass der sich inzwischen gefüllt hatte. Er sollte einen Tisch für sich und Herold besetzen, bevor es zu spät dafür war. In der hintersten Ecke war noch einer frei.

Gerade als er aufstehen und sich dorthin begeben wollte, merkte er, dass die zwei Männer vom Nebentisch direkt zu ihm herüberstarrten. Jacob musste kurz überlegen, dann fiel ihm ein, woher er sie kannte: Es waren die beiden Kerle, die auf dieser Tanzveranstaltung so wütend auf ihn waren, Rosas Bruder und dessen Freund. Heute sahen sie genauso wütend aus, wie vor einer Woche. Was musste das für ein bemitleidenswertes Leben sein, in dem sie ständig schlecht gelaunt waren.

Jacob grinste sie an und nickte zum Gruß mit dem Kopf. Das schien ihre Launen nicht zu verbessern, denn sie wirkten noch wütender. Sie sahen sich kurz an, erhoben sich und kamen mit finsteren Mienen zu Jacob an die Theke.

Was wollen die denn nun schon wieder von mir, dachte er, grinste ihnen aber weiterhin entgegen.

Sie bauten sich vor ihm auf, doch obwohl Jacob oftmals allen Grund dazu hatte, war er niemand, der sich leicht einschüchtern ließ.

»Seid gegrüßt«, sagte er fröhlich. »Wie ich sehe, habt ihr heute wieder die beste Laune. Wie schmeckt euch das Bier?«

Sie sahen sich erneut kurz an.

»Lass Rosa in Ruhe«, knurrte dann ihr Bruder.

Der tat ja gerade so, als würde Jacob jeden Abend unter ihrem Fenster stehen und ihr ein Ständchen bringen. Dabei hatte er sie seit der Tanzveranstaltung nicht wieder gesehen.

»Ja, lass die Finger von ihr«, stimmte der Freund des Bruders ein.

Jacob hatte zwar nicht mehr an sie gedacht, seit er die betrunkene Schönheit an jenem Abend sicher vor ihrem Haus zurückgelassen hatte. Trotzdem ließ er sich nicht gerne etwas vorschreiben, egal von wem. Er schob sein Kinn vor.

»Und wenn ich es nicht tue?«

Rosas Bruder kam so nahe an Jacob heran, dass sich ihre Nasen fast berührten.

»Dann brechen wir dir jeden Knochen, den du im Leibe hast«, zischte er durch zusammengebissene Zähne.

Ganz weit hinten in Jacobs Kopf flüsterte eine Stimme, dass er klein beigeben sollte. Sie sprach ihm zu, dass diese Angelegenheit keine besondere Bedeutung für ihn hatte, und er einfach sagen könnte, dass er Rosa fortan in Ruhe lassen würde. Die beiden großen und viel stärkeren Männer würden dann von ihm lassen und die Sache wäre erledigt. Jacob war geneigt auf diese Stimme zu hören. Aber da war noch eine andere Stimme. Diese schrie, dass er sich das nicht bieten lassen konnte, dass die Männer ihm gar nichts zu sagen hatten.

»Genau«, sagte da der andere Mann. »Wir werden dir deinen Verstand aus deinem hübschen Köpfchen herausprügeln, du dämlicher Müllerjunge.«

Dieser Hornochse nannte ihn Müllerjunge? Die laute Stimme in Jacobs Kopf gewann.

»Oh, nein«, entgegnete er in übertriebenem Tonfall. »Dann werde ich ja ein so hässlicher Strohkopf wie du.«

Dem Mann war förmlich anzusehen, wie die Wut ihn übermannte. Sein ohnehin nicht freundliches Gesicht verwandelte sich in eine Hassfratze. Er packte Jacob am Kragen, hob ihn wie einen Jungen vom Hocker und schleuderte ihn gegen einen Pfeiler, der sich wenige Schritte von der Theke befand. Der Schmerz explodierte in Jacobs Rücken und er bekam für einen Moment keine Luft. Rosas Bruder setzte sogleich hinterher, dicht gefolgt von seinem Freund, und packte Jacob erneut am Kragen. Jacob wollte um Hilfe rufen, doch gerade als er dachte, er hätte wieder den Atem dafür, rammte ihm der andere die Faust in den Magen. Wiederum blieb Jacob so sehr die Luft weg, dass er dachte, er müsste sterben.

Nun drängte sich der Freund nach vorne. Offenbar wollte auch er seinen Anteil beitragen. Jacob sah noch, dass er weit ausholte, während Rosas Bruder ihn festhielt, dann schloss er die Augen und wartete auf sein Ende.

Doch es kam anders. Er hörte ein Ächzen und als er die Augen wieder öffnete, kniete der Freund von Rosas Bruder vor seinem Bruder. Herold hielt die Faust, mit der der andere gerade noch ausgeholt hatte, in seiner Hand und quetschte sie dermaßen zusammen, dass dem anderen Tränen über das schmerzverzerrte Gesicht liefen. Dann schlug Herold mit seiner freien Faust zu, woraufhin der Mann sofort in sich zusammensackte.

Rosas Bruder hielt Jacob immer noch am Kragen, aber jetzt kam Herold auf ihn zu. Er ließ Jacob los, richtete sich auf und nun war ersichtlich, dass Herold ihn um Haupteslänge überragte. Er ging auf Jacobs Peiniger zu und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

»Scher dich weg«, fuhr er ihn an.

Er machte rückwärts einige Schritte zum Ausgang, drehte sich dann um und rannte los. Aber kurz vor der Tür blieb er stehen und wandte sich zu Jacob und Herold.

»Das werdet ihr noch bereuen«, schrie er. »Das wenige, was euch geblieben ist, werden wir euch auch noch nehmen.«

Dann machte er kehrt und floh aus der Tür.

Herold rieb sich die Faust und sah ihm hinterher. Jacob rappelte sich hoch. Sein Rücken fühlte sich an, als wäre er gebrochen, und sein Magen, als hätten sie ihm alle Eingeweide zerquetscht.

Herold drehte sich zu ihm um und packte ihn am Kragen, so wie es der Andere gerade gemacht hatte.

»Was hatte das zu bedeuten?«, fuhr er ihn an. »Das hatte doch bestimmt wieder mit Weibern und deiner vorlauten Klappe zu tun.«

Jacob ging nicht darauf ein, denn die Worte des Geflohenen kamen ihm eigenartig vor.

»Wie hat er das gerade gemeint? Was ist uns wovon geblieben?«

Herold sah eben noch wütend aus, doch jetzt änderte sich sein Gesichtsausdruck unvermittelt. Es schien Jacob, als wäre er verlegen. Und dann wurde er wieder ärgerlich, schüttelte den Kopf und machte eine abweisende Handbewegung.

»Ach, woher soll ich wissen, wie dieser Dummkopf das gemeint hat?«

Er dreht sich um und verließ die Schenke, wobei er einen Mann, der nicht schnell genug ausweichen konnte, unsanft zur Seite stieß.

Jacob blickte mit gefurchten Brauen die Tür an, die Herold hinter sich zugeschlagen hatte. Erst die eigenartige Bemerkung von Rosas Bruder und dann diese merkwürdige Reaktion seines Bruders. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.

Als er schließlich den Blick von der Tür abwandte, bemerkte er, dass die eine Hälfte der Gäste ihn anstarrte und die andere den Bewusstlosen.

Vielleicht sollte er sich lieber davon machen, bevor der aufwachte.

Im schwachen Schein der Straßenlaternen musste Jacob aufpassen, dass er nicht in eine der Pfützen oder Schlammansammlungen trat. So gut das löchrige Straßenpflaster es zuließ, umkreiste er die betreffenden Stellen. In den letzten zwei Tagen hatte es häufig geregnet und durch die Außenwälle flutete in solchen Zeiten immer viel Wasser in das Innere der Stadt und brachte Schmutz und Schlamm mit sich.

Mittlerweile war er bei einem der beiden Stadtbrunnen angelangt, bei der Einmündung der Achternstraße in die Langestraße. Das Heiligengeisttor lag nicht mehr weit vor ihm. Er glaubte, schon den Schein der Wachlaternen erkennen zu können. Bei jedem Schritt schmerzte sein Rücken. Die Prügel, die er gerade bezogen hatte, würden ihm noch ein paar Tage zu schaffen machen.

Er dachte an die Situation in der Schenke vorhin. Was hatte das zu bedeuten? Wenn Herold glaubte, dass er ihm einfach so davonlaufen und eine Antwort schuldig bleiben konnte, dann hatte er sich gewaltig getäuscht. Gleich morgen wollte Jacob ihn wieder darauf ansprechen.

Die charakteristische Form des Lappans zeichnete sich vor dem Nachthimmel ab. Jacob machte einen großen Schritt über eine Pfütze und im nächsten Moment spürte er dieses eigenartige Kribbeln auf der Kopfhaut.

»Nein, nicht jetzt«, seufzte er.

Dann wurde es plötzlich hell um ihn herum und die Schmerzen in Rücken und Magen waren verschwunden.

Er war wieder in dieser unglaublichen Welt, von der er nach unzähligen Besuchen seit seiner Kindheit glaubte, dass es die Zukunft war. Irgendwann hatte er herausgefunden, dass er sich dabei immer im Körper einer Frau befand. Aber er war dort nur Beobachter: Auch wenn er alle Sinneseindrücke der Frau wahrnahm, einschließlich ihrem Denken, konnte er selbst nicht aktiv werden. Dieser Zustand dauerte ein paar Minuten an, doch wenn er in seine eigene Welt zurückkehrte, war dort nicht einmal die Zeit eines Wimpernschlags vergangen.

Dieses Mal wimmelte es von Menschen. Generell gab es sehr viele Menschen in dieser Welt, viel mehr als er es aus seiner kannte. Nun waren es aber besonders viele, die um ihn herum, auf ihn zu und von ihm weg liefen. Einige von ihnen trugen diese bunten, glatten Taschen mit sich herum. Die meisten hatten es eilig durch die Straßen zu gelangen, die die gleichen waren, wie zu seiner Zeit, wenngleich sie anders aussahen. Zum Glück war keine der lauten, pferdelosen Kutschen in der Nähe. Zwar hatte er inzwischen keine Angst mehr vor ihnen, ein mulmiges Gefühl befiel ihn aber immer noch, wenn er sie sah. Außerdem war die Luft besser, wenn sie nicht da waren, innerhalb der Stadt sogar besser als zu seiner Zeit.

Er spürte ihr flaues Gefühl im Magen, aber nur ziemlich schwach. Da war er Schlimmeres nach der Rückkehr gewohnt. An ihrer Hand war ihr Sohn und er stellte fest, wie erleichtert sie deswegen war. Auch war sie äußerst verwirrt. Sie fragte sich, was mit ihr geschehen war, wie sie in einen anderen Körper geraten konnte, oder, ob sie nur einen Traum gehabt hatte. Jacob wurde klar, dass es ihr erstes Mal gewesen war. Er versuchte, sich an sein erstes Mal zu erinnern, es lag jedoch zu lange zurück.

In dem Versuch, eine Erklärung für das Geschehene zu finden, dachte sie ständig an ein Buch, und dass es alles genauso passiert war, wie darin beschrieben war. Was für ein Buch konnte es geben, in dem geschrieben stand, was er erlebte? Doch nur sein Tagebuch.

Während er darüber nachdachte, sagte sie etwas zu ihrem Sohn und ging zu einem Kaffeehaus, das draußen Tische aufgestellt hatte. Er hatte nun Gelegenheit, sich ein wenig in der Zukunft umzusehen.

Wie er es schon kannte, hielten sich einige Menschen diese kleinen Dinger aus schwarzem Glas an ein Ohr und hatten Gesprächspartner, die er nicht sehen konnte. Andere hielten die Dinger vor sich und berührten sie mit ihrem Zeigefinger oder Daumen. Vor allem die Jüngeren sahen kaum von diesen Dingern hoch.

An einem Nebentisch hielt eine Frau einen kleinen weißen Stängel zwischen den Fingern. Jacob hielt ihn für eine Art Zigarre, denn von ihm stieg ein dünner Rauchfaden empor und er roch nach Tabak. Mit der freien Hand zog die Frau ein Kleidungsstück aus einer dieser glatten Taschen, die dabei so ähnlich knisterte wie ein Lagerfeuer. Jacob glaubte zumindest, dass es ein Kleidungsstück sein konnte, weil es aus Stoff war. Für dessen Farbe kannte er nicht mal einen Namen.

Jetzt bemerkte Jacob, dass die Frau, in deren Bewusstsein er sich befand - er wusste, dass sie Editha hieß - nicht nur an ihr neuestes Erlebnis dachte. Sie hatte überdies noch Sorgen. Sie hatte Angst, dass sie nicht genug Geld verdiente, um ihren Sohn zu versorgen. Sie machte sich Gedanken darüber, wie sie Rechnungen bezahlen sollte.

In diesem Moment kam der Wirt des Kaffeehauses. Jacob hörte gerade noch, wie er fragte, was Editha wünschte, als das Licht flackerte und es wieder dunkel wurde.

Er war auf dem Heimweg, von der Schenke kommend, und die plötzlich einsetzenden Schmerzen in Rücken und Magen erinnerten ihn daran, was dort passiert war.

Zusätzlich setzte die Übelkeit ein, die ihn immer nach einer Reise in den anderen Körper überfiel. Er wusste, dass Editha in diesem Moment das erste Mal in ihm drin war und dass auch ihr übel war. Er wollte anhalten und sich irgendwo abstützen, doch dazu kam er nicht mehr.

Aus der Gasse vor dem Lappan kam ein großer Mann herausgestürmt und hielt auf ihn zu. Jacob erkannte an den Bewegungen sofort, dass es sich um Rosas Bruder handelte. Offenbar hatte Herold ihm nicht genug Respekt eingeflößt. Jacob wäre am liebsten weggelaufen, aber er war immer noch zu sehr geschwächt von allem. Er wich zurück, stolperte und plumpste auf seine ohnehin schon geschundene Rückseite. Rosas Bruder fiel über ihn und landete auf der Straße. Diesen Moment musste er ausnutzen. Seine Schmerzen missachtend und unter Aufbringung seiner ganzen Willenskraft rappelte er sich hoch und begann zu laufen. Wenn er es bis zu den Torwachen schaffte, war er in Sicherheit, dort würde Rosas Bruder ihn bestimmt nicht anfassen. So schnell er konnte, rannte er, alles tat ihm dabei weh, aber der Angreifer war ihm auf den Fersen. Dann kam das Tor in Sicht und einen Augenblick später die Wachen. Und wie er es erwartete, ließ Rosas Bruder sich zurückfallen.

»Wer kommt da?«, riefen die Wachen ihn an. »Gib dich zu erkennen.«

Jacob verlangsamte auf normale Gehgeschwindigkeit und nannte den Wachen seinen Namen.

Heute Abend war er gleich zwei Mal einer Tracht Prügel entkommen. Das Glück war halt auf seiner Seite.

Heute

Genauso plötzlich, wie es dunkel geworden war, wurde es wieder hell. Die Helligkeit blendete sie nicht, obwohl sie mehrere Minuten in der Dunkelheit verbracht hatte. Sie blinzelte nur, wie gerade erwacht, und sie taumelte ein wenig hin und her. Ein flaues Gefühl hatte sie im Magen, als hätte sie etwas gegessen, das ihr nicht bekommen war. Immerhin konnte sie sich ein wenig festhalten, denn Timo war wieder an ihrer Hand.

Was war mit ihr geschehen? Das, was sie gerade erlebt hatte, entsprach genau dem, was sie in dem Buch gelesen hatte. Wie konnte das sein?

Lange konnte sie nicht abwesend gewesen sein, vielleicht eine Sekunde. Die Mutter mit dem Kinderwagen hatte nur wenige Schritte zurückgelegt und auch die anderen Passanten hatten sich kaum von der Stelle bewegt.

Das flaue Gefühl nahm zu, sie musste sich dringend setzen. Sie taumelte auf das Café an der Ecke gegenüber des Lappans zu und zog Timo mit sich.

»Wo wollen wir denn hin? Ich will jetzt ein Eis.« Ruckartig zog er an ihrem Arm. Er hatte wahrscheinlich nicht mal bemerkt, dass sie für einen Moment geistig nicht anwesend war.

»Dort in dem Café gibt es bestimmt Eis.«

Jetzt kam er bereitwillig mit.

Sie überlegte, ob sie sich reinsetzen sollte. Aber dieser Septembertag war verhältnismäßig warm, sodass sie am ersten freien Tisch, an den sie kam, Platz nahm, damit sie nicht mehr Schritte als notwendig tun musste.

Sitzend ging es ihrem Magen schon etwas besser. Sie sollte einen Tee trinken, während Timo sein Eis aß. Ein Kellner kam und sie bestellte eine Kugel Schokoladeneis und grünen Tee. Timo blätterte in der Eiskarte und sah sich die Bilder der Eiskreationen an.

Noch immer versuchte sie zu verstehen, was gerade mit ihr geschehen war. Ein Traum war das nicht. Sie würde kaum stehend und im wachen Zustand einen Tagtraum erleben und eine Sekunde später an derselben Stelle wieder zu sich kommen. Wahrscheinlich war es eine Art Vision. Nur, dass sie in dieser Vision das gesehen hatte, was sie zuvor in einem Buch gelesen hatte. Und zwar so, als wäre sie im Körper des Erzählers gewesen. Das ging sogar so weit, dass sie die Gefühle und Gedanken des Erzählers erlebt hatte. Sie wusste nun, dass er über eine Situation nachgedacht hatte, in der er kurz vorher gewesen war. Und sie konnte sich nicht daran erinnern, von diesen Gedanken in dem Buch gelesen zu haben.

Das Eis und der Tee wurden gebracht. Timo klatschte erfreut in die Hände. Der Tee war so heiß, dass sie nur schlürfend davon trinken konnte. Die Frau vom Nachbartisch sah missbilligend zu ihr herüber. Editha kümmerte sich nicht darum. Sie dachte weiter über die Vision nach. Wie aus einem dichten Nebel kam eine Erinnerung hervor. Ihr wurde vage bewusst, dass das nicht ihre erste Vision gewesen war. Als kleines Mädchen hatte sie so etwas schon mal erlebt. Das war lange her, und sie hatte nicht mehr daran gedacht. Doch jetzt fiel es ihr wieder ein. Zwei oder drei Mal hatte sie solche Erlebnisse, aber sie hatte diese Erinnerungen als Tagträume abgetan und irgendwann ganz vergessen. In einem dieser Träume, oder auch Visionen, war es, als wäre sie ein alter Mann, der auf einen Stock gestützt über einen Platz humpelte. Aber mehr wusste sie nicht und an die anderen Visionen hatte sie nicht die geringste Erinnerung. Und schon gar nicht daran, ob sie über deren Inhalt zuvor gelesen oder davon gehört hatte.

Editha beschloss, sich das Buch noch mal vorzunehmen, wenn sie wieder zu Hause war. Sie wollte nachsehen, ob die Gedanken des Erzählers wirklich nicht beschrieben waren. Und außerdem wollte sie wissen, was weiter in dem Buch geschildert war. Wahrscheinlich hatte das unmittelbar mit dem gerade Erlebten zu tun.

Sie hatte einige Minuten vor sich hingestarrt, während sie nachdachte und ihren Tee austrank, und Timo nicht beachtet. Als sie sich ihm jetzt wieder zuwandte, musste sie feststellen, dass er seine neue Jacke vollständig mit Schokoladeneis eingekleckert hatte.

»Oje, Timo, was machst du denn?«

Ihr Sohn, dessen halbes Gesicht ebenfalls braun verschmiert war, sah fast gelangweilt auf seine Jacke hinunter.

Sie hatte nur eine Serviette am Tisch, mit der sie versuchte, den größten Schlamassel zu beseitigen. Der Rest musste auf der Toilette erledigt werden. Sie fasste Timo an seiner klebrigen Hand und zog ihn mit sich.

Zum Glück war das flaue Gefühl im Magen wieder verschwunden.

Editha schaltete die Schreibtischlampe ein, um das Entziffern der Schrift zu vereinfachen. Doch nach weiteren fünf Minuten pustete sie die Luft mit dicken Backen aus und ließ sich in die Lehne des Stuhls zurückfallen. Frustriert klappte sie das Buch zu, sodass es knallte.

Der braune Einband glänzte im Licht. Die beiden Buchstaben darauf waren eindeutig die, wofür sie sie hielt: J. R. Zur Vergewisserung hatte sie sich aus dem Internet eine Entsprechungstafel für altdeutsche Druckschrift heruntergeladen und die Buchstaben verglichen. Es bestand kein Zweifel. Doch die altdeutsche Schreibschrift im Inneren machte ihr zu schaffen. Zwar hatte sie auch dafür etwas im Internet gefunden, allerdings keine Entsprechungstafel, sondern verschiedene Schriftbeispiele, in denen die Buchstaben leicht variierten. Und ihr schien es, als ob die Handschrift im Buch eine weitere Möglichkeit zur Ausführung der Schriftzeichen darstellte. Deshalb war sie sich bei vielen Buchstaben nicht sicher, ob sie sie richtig deutete. Hinzu kam, dass manche Seiten derart verblasst waren, dass sie mehr raten als lesen musste.

Sie nahm das Buch auf. Vielleicht sollte sie erst einmal herausfinden, was die mutmaßlichen Initialen bedeuteten. Könnte sein, dass das bereits mit einem Anruf bei ihrem Vater erledigt war.

Dass es möglich war, den Text im Innern zu entziffern, bewies das lose Blatt. Dafür würde sie aber möglicherweise einen Experten hinzuziehen müssen.

Sie hatte sich die Schilderung noch einmal durchgelesen. Darin wurden zwar auch Gefühle und Gedanken des Erzählers beschrieben. Doch von denen, die sie empfangen hatte, worin es um eine Situation in einem Gasthaus ging, war kein Wort zu finden.

Okay, genug für heute. Sie wollte noch einmal nach Timo sehen und dann ins Bett gehen. Der morgige Sonntag war ein guter Tag, um ihren Vater anzurufen.

Am nächsten Morgen holte Timo sie früh aus dem Schlaf. Nach dem Frühstück war für ihn mal wieder ein Bad fällig. Während er in der Badewanne planschte, kümmerte sich Editha um die Wäsche. Auf diese Weise war ein großer Teil des Vormittags verstrichen, als sie Timo zu seinen Spielfiguren auf den Boden setzte und aus dem Augenwinkel sah, dass die rote LED ihres Telefons blinkte.

Siedendheiß fiel ihr ein, dass sie die Anzeige zur Mietersuche vergessen hatte. Durch die Ereignisse vom Vortag war sie völlig darüber hinweg gekommen. Mit Zettel und Stift bewaffnet hörte sie den Anrufbeantworter ab und notierte sich die Namen und Telefonnummern der Wohnungssuchenden. Insgesamt waren es vier, alles Männer. Anschließend rief sie die Interessenten an, führte kurze Gespräche über Miethöhe und andere Konditionen und vereinbarte für die kommenden Tage Besichtigungstermine.

Dann war es höchste Zeit für das Mittagessen und als sie Timo für seinen Mittagsschlaf im Bett hatte, kam der nächste Schock: Sie musste sich für den folgenden Tag noch überlegen, was sie mit der Karategruppe machen wollte und für den Artikel, den sie für die Zeitung schrieb, musste sie zumindest noch recherchieren. Das wollte sie eigentlich alles am Samstag erledigt haben.

So kam es, dass für das Telefonat mit ihrem Vater keine Zeit mehr blieb.

Am Donnerstag waren die letzten beiden Besichtigungstermine der Einliegerwohnung relativ kurz hintereinander. Als sie den einen Mietinteressenten gerade an der Haustür verabschiedete - ein älterer Herr, der sich nach 49 Ehejahren von seiner Frau getrennt hatte und nun eine neue Unterkunft brauchte - bückte sich schon der nächste zu der niedrigen Vorgartentür.

Die beiden Männer begegneten sich auf halber Strecke. Während der ältere Herr den anderen höflich grüßte, sah dieser sich nur geistesabwesend im Vorgarten um und schob dabei seine Brille die Nase hoch. Der Mann sah ein wenig kauzig aus: Er mochte wohl Anfang 40 sein, soweit man das erkennen konnte. Denn sein Gesicht war größtenteils durch langes, wirres Haar und einem ebenfalls langen, ungepflegten Bart verdeckt, beides leicht ergraut. Weit in die Stirn hatte er eine verblichene grüne Stoffmütze gezogen, auf der in gelben Buchstaben »Nix darunter!« stand.

»Wäre die Nutzung des Vorgartens mit inbegriffen?«, fragte er, als er bei Editha angekommen war, ohne sie anzusehen. Dabei zog er ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche seiner zerbeulten Cordhose und schnäuzte hinein. Er steckte das Taschentuch wieder weg und wischte sich die Hände an der beige-farbenen Regenjacke ab.

»Darüber könnte man sich sicherlich einigen«, antwortete Editha. Sie bot ihm die Hand zum Gruß und nahm sich vor, diese nachher gründlich zu waschen. Glücklicherweise schien der Mann von normalen Gebräuchen der Höflichkeit nichts zu halten. Ihre Hand ignorierend sah er sich weiterhin um und nickte dabei, als fühlte er sich in etwas bestätigt.

Editha räusperte sich verunsichert.

»Äh ... mein Name ist Editha Riekmüller. Ich bin die Vermieterin der Wohnung.«

Nun sah er sie flüchtig an und fuhr dann gleich mit der Betrachtung des Hauses fort.

»Schön, schön. Kann ich mir die Wohnung jetzt mal ansehen?«

»Äh ... ja, folgen Sie mir bitte.«

Sie führte den komischen Kauz durch den Hausflur und die Treppe hinauf in den großen Raum, dessen Zustand nicht verändert war, seit sie hier aufgeräumt hatte. Die Möbel warteten immer noch darauf, in die Mitte gerückt zu werden, damit das Zimmer renoviert werden konnte. Dafür brauchte sie Hilfe, die sie bisher nicht hatte. Mit der Renovierung wollte sie ohnehin erst beginnen, wenn sie einen Mieter hatte: Je später sie das Geld investierte, desto besser.

Der Kauz lief durch den Raum, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, betrachtete die Wand, sah aus dem Fenster und nickte fortwährend vor sich hin.

»Das soll das Wohnzimmer werden«, begann Editha. »Das wird selbstverständlich noch reno...«

»Wo ist das Bad?«, unterbrach er sie.

Vielleicht sollte sie einfach gar nichts mehr sagen, dachte Editha.

Sie drehte sich um und schritt Richtung Badezimmer voran, der Kauz kam hinterher. Dort angekommen wiederholte sich die Prozedur von vorher, ebenso im Schlafzimmer und in dem Raum, der die Küche werden sollte. Editha verzichtete auf irgendwelche Erklärungen und hoffte, dass das bald vorbei war. Diesen komischen Typen wollte sie als Untermieter eigentlich gar nicht haben.

»Wie hoch soll die Miete sein?«, fragte er schließlich.

Editha nannte ihm einen Betrag, der weit über das hinausging, was sie den anderen Interessenten gesagt hatte. Er nickte wieder, dieses Mal mit geschlossenen Augen. Eine ganze Weile.

»In Ordnung, ich nehme sie.«

Editha war verdutzt. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet.

»Äh ... ja, aber«, stotterte sie. »Ich ... äh ... muss mir in Ruhe überlegen, für welchen Interessenten ich mich entscheide.«

Der Kauz kehrte ihr den Rücken zu und ging die Treppe hinunter.

»Ich melde mich Anfang nächster Woche bei Ihnen«, sagte er. »Bis dahin werden Sie sich ja wohl entschieden haben.«

Er verließ das Haus. Die Haustür ließ er offenstehen.

»Von diesen Bedingungen, von denen ich gehört habe, haben Sie mir vorher aber nichts gesagt! Das ist eine Ungeheuerlichkeit, ja, eine Unverschämtheit.«

Im nächsten Moment hörte Editha den Freiton. Verwundert sah sie das Telefon an, als hätte dieses sich merkwürdig benommen und nicht der Mietinteressent, den sie gerade angerufen hatte. Was war denn in den gefahren? Was meinte der mit »Bedingungen«? Und wo hatte er davon gehört?

Na ja, jedenfalls konnte sie diese Reaktion getrost als Absage interpretieren. Und damit hatten, bis auf den komischen Kauz, alle Interessenten abgesagt. So wütend war dabei allerdings nur der letzte gewesen. Die anderen hatten einigermaßen plausible Begründungen parat: Die Lage gefiel nicht, die Zimmeraufteilung erschien ungünstig oder die Wohnung sagte allgemein nicht zu. Als wahren Grund vermutete Editha, dass sie mit dem Preis vielleicht zu hoch rangegangen war.

Die Zeit lief ihr davon. Sie würde halt den Kauz als Mieter annehmen. Schließlich sollte er ja nicht mit ihr in den gleichen Räumen leben. Die Miete, die er bereit war zu zahlen, würde sie für manches entschädigen. Sie hoffte, dass er sich allmählich meldete, damit alles unter Dach und Fach gebracht werden konnte. Dann musste sie die Renovierung wohl doch bald starten.