Kitabı oku: «Warum der stille Salvatore eine Rede hielt», sayfa 2

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Vera

In ihrem leichten, dunkelblauen Mantel, mit einer großen, sehr dunklen Sonnenbrille auf der Nase, Ballerinas an den Füßen und einem einfachen Einkaufsbeutel, der an ihrer Armbeuge baumelte, sah Vera aus wie die meisten der Bovniker Frauen, die an diesem Abend in der Stadt unterwegs waren. Aus allen Richtungen strebten sie und viele Männer, auch Kinder und Jugendliche, dem Platz des Sieges zu. Die meisten Frauen trugen zwar keine blonde Perücke wie Vera, aber sie mussten ja auch ihre Identität nicht verbergen. Sie führten nichts Unerwünschtes im Schilde, wollten ihre Besorgungen machen oder die Ansprache des Präsidenten hören, oder beides. Vera führte etwas im Schilde. Sie trug eine Waffe in ihrem Einkaufsbeutel, eine neu entwickelte, chemische Waffe, die sie an diesem Abend zum ersten Mal einzusetzen gedachte. Der Aufdruck „WE KNOW!“, der in Bovnik Tausende Einkaufsbeutel zierte und auch sonst allgegenwärtig war, widersprach in seiner keinen Widerspruch duldenden Selbstgerechtigkeit Veras Überzeugungen auf fundamentalste Weise, doch zur Tarnung taugte der Beutel ausgezeichnet. Veras Puls ließ die Adern an ihren Schläfen hervortreten, das spürte sie, und die lockige Perücke wirkte in der warmen Abendluft beinahe wie eine Wollmütze; schon rann ein Schweißtropfen in Veras linkes Auge, das gleich ein wenig brannte. Sie pustete den Tropfen beiseite, doch er brannte weiter. Sie war beinahe am Ziel angekommen, einer wegen Kriegsschäden gesperrten und mehrfach verwinkelten Gasse etwas oberhalb des Platzes, auf dem sich schon etwa dreitausend Menschen vor dem Rednerpodium versammelt hatten. Mit gleichmäßigen Schritten und gerade so eilig, dass sie noch nicht auffiel, setzte sie ihren Weg fort. Vera sammelte ihre Gedanken und erinnerte sich daran, was ihr Plivia, ihre Trainerin, eingeschärft hatte: „Gesteh dir deine Nervosität ein, bevor du deine Aktion ausführst. Sag es leise für dich. Das verschafft dir wieder einen klareren Kopf und du kannst dich besser konzentrieren. Jeder ist nervös vor so einer Sache, gerade beim ersten Mal.“ Dann hatte Mikos, der Anführer, Veras verständnisloses Gesicht als Aufforderung missverstanden, ihr die biologisch-psychologischen Hintergründe zu erläutern und ihr etwas vom „präfrontalen Kortex“ erzählt, der durch die Formulierung der Angst geleert und wieder zur Verwendung freigegeben wird, wobei ihm Vera nicht folgen konnte, sich jedoch immerhin einprägte, was zu tun sei. Also sagte Vera nun ganz leise: „Ich bin verdammte Scheiße Scheiße Scheiße nervös.“ Das traf zu, sie war ungeheuer nervös. Denn nicht nur war ihre Aktion geeignet, sie geradewegs in eine Gefängniszelle zu befördern, sie sollte auch ihre Eintrittskarte in den inneren Kreis der Aktivisten von AR sein, eine Art Reifeprüfung der Bovnik-Guerilla. Deshalb führte sie die Aktion auch ganz allein durch. Wochenlang hatte sie dafür geübt, jeden Tag vor oder nach der Arbeit war sie zum alten Stadtweiher gegangen, um Frisbee zu spielen. Ein, maximal zwei andere aus der Guerilla, deren Namen sie nicht kannte, hatten mit ihr zusammen trainiert. Die ausgemergelten, mit Schutt übersäten Wiesen beim alten Stadtweiher waren ein beliebter Platz für die wenigen Frisbeespieler, Jongleure und Diabolo-Fanatiker in Bovnik. Unmöglich, dort als Staatsfeinde aufzufallen, wenn man nichts tat, als Frisbee zu spielen. Nur die letzten zwei Wochen hatte Vera in einer der vielen leer stehenden Fabrikhallen geübt, denn das Frisbee war nun mit einer Komponente versehen worden, die entscheidend für den Erfolg der Aktion war, es aber unmöglich machte, damit in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Sie sorgte dafür, dass die Moleküle des Frisbees, war es einmal aus der stickstoffgefüllten Schutzhülle entnommen, mit der Luft reagierten und auskristallisierten. Nach etwa dreißig Sekunden wurde der flexible Stoff, der mit unterschiedlichen Wirkstoffen versetzt werden konnte, zu einem hochsteifen, glasartigen, aber noch immer sehr leichten Material, das ab einem gewissen Grad von Erschütterung zu Millionen feiner Krümel zerfiel. Der Wirkstoff für den heutigen Abend, der Weltpremiere des Guerilla-Frisbees, war das Glanzstück des Chemikers, der auch das Material des Frisbees entwickelt hatte. Vera wusste nicht, wer dieser Chemiker war (er hieß Pol) und wie er aussah (er sah langweilig aus), sie wusste nur, dass dieses Frisbee den Wirkstoff enthielt. Diesen Chemiker Pol kannte Vera allerdings schon seit Längerem, wenn auch aus reinem Zufall und ohne zu wissen, dass der träge junge Mann mit dem stets etwas verstörten Gesichtsausdruck, dem sie fast täglich begegnete, eben dieser Untergrund-Chemiker war. Er belieferte nämlich die Espresso-Bar, in der sie arbeitete, mit Süßgebäck. Pol wiederum wusste nicht, dass die langhaarige Brünette aus der Bar, mit dem breiten, ernsten, aber sympathischen Gesicht, mit der er gerne näher bekannt geworden wäre, ebenfalls dem Kreis der Aktivisten von AR angehörte und dazu ausersehen war, seine neueste Erfindung auf möglichst eindrückliche Weise der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Das gegenseitige Unwissen hatte Methode, diente den Aktivisten zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz davor, jemand anderen im Falle einer Verhaftung zu verraten. In einem Kleinstaat wie Bovnik war die Wahrscheinlichkeit, einander zu kennen, viel höher als in größeren Ländern. Daher sollten die einzelnen Aktivisten auch nicht mehr voneinander erfahren, als unbedingt notwendig war, und das war meist gleichbedeutend mit Nichts. Wie viele „Laborratten“ verfügte der Chemiker Pol nur über ein ausgesprochen kümmerliches Talent zu flirten, auch wenn er seinen Lebensunterhalt nicht als Wissenschaftler, sondern als Fahrer verdiente. Doch selbst wenn er ein attraktiver Charmeur gewesen wäre, hätte er bei Vera auf Granit gebissen. Sie hatte anderes im Kopf, als ihren zahlreichen unerfreulichen Erfahrungen mit Liebesabenteuern ausgerechnet während ihrer Initiation als Widerstandskämpferin eine weitere hinzuzufügen. Sie kannte ihre Unzulänglichkeiten im zwischenmenschlichen Bereich mittlerweile sehr gut – zu gut womöglich, um darin noch irgendeine Perspektive zu erkennen. So blieb dem schüchternen Chemiker immerhin eine kühle Zurückweisung erspart und das Thema „Backwaren“ konnte, jedenfalls vorerst, in seinem Bewusstsein ohne größere emotionale Enttäuschung überdauern, sodass er eines Morgens während einer Auslieferungstour auf die Idee kam, einmal ein Werkzeug des Widerstands zu backen und es bis zur Anwendungsreife weiterzuentwickeln. Diese unkonventionelle Herstellungsmethode musste allerdings eine Ausnahme bleiben, denn er wollte vermeiden, dass die Spuren, die seine Entwicklungen nach ihrem ordnungsgemäßen Gebrauch hinterließen, Verbindungen zu Bäckereien – und damit zu ihm selbst – nahelegten.

Vera erreichte die Gasse. Der Zugang war mit einem Baugerüst verstellt, das jeden unerwünschten Blick von der Straße verhinderte. Sie vergewisserte sich, dass niemand sie sah und kletterte zwischen den Gerüststangen und Abdeckfolien hindurch. Die kaum zwanzig Meter lange Gasse führte zu einer steilen Treppe, die an ihrem Fuß ebenfalls gesperrt worden war. Die Häuser links und rechts hatten keine Fenster zur Gasse hin. Vera war allein, und wenn sie der Treppe am Ende nicht zu nahe kam, konnte niemand sie sehen, auch nicht vom Siegesplatz aus, denn der blieb hinter einem größeren Gebäude verborgen, was der Grund dafür war, dass Vera diese Stelle ausgesucht hatte – sie wurde während der Veranstaltung nicht vom Geheimdienst überwacht. Gegenüber, hinter dem Platz und seinen ihn dort einfassenden Häusern, fielen die Karstfelsen ohnehin steil zum Meer und zum Hafen ab. Nun kam alles auf Veras Training an. Mit einem kleinen Fernrohr spähte sie aus dem Schatten hinüber zu den alten Platanen am westlichen Rand des Platzes. Ihre mächtigen Kronen ragten gerade bis in Veras Höhe. Ihre Blätter bewegten sich nur leicht – die Brise wehte vom Meer her, ideal für Veras Mission. Den Platz selbst konnte Vera nicht sehen, aber das brauchte sie auch nicht. Sie hatte sich die Position des Rednerpodestes schon auf dem Weg hierher einprägen können und kannte die Ausmaße des Platzes und der ihn umgebenden Gassen ohnehin seit ihrer Kindheit. Vera musste jetzt nur den richtigen Moment abwarten. Sie konnte hören, wie sich der Platz unter ihr immer weiter füllte. Es klang beinahe wie das Summen eines Bienenstocks oder das beständige Blöken und Meckern einer großen Ziegenherde, aber wahrscheinlich floss Veras eigene Verachtung der Volksbewegung in ihre akustische Observation stärker ein, als es unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre. „We know!“, dachte sie. „Gar nichts wisst ihr. Schon gar nicht, was ihr gleich erleben werdet!“ Nachdem die Begrüßungsmusik, die aus einigen gewohnt schmalzigen Songs der neuen CD des Bovniker Schlagerstars Kris Bright bestand, endlich abrupt ausgeschaltet worden war, trat die beliebteste Fernsehmoderatorin Bovniks ans Mikro und begrüße im Namen der Staatsführung die Menge, die ihr frenetisch zujubelte. „We know! We know! We know!“ Das konnte ebenso gut heißen, dass sie alles, was hier gesagt werden würde, schon tausendmal gehört hatten, dachte Vera. Aber so war es wohl kaum gemeint. Nun bat „Adorana“, wie sie von ihren Fans genannt wurde, den Bovniker Bürgermeister ans Mikrofon. Das bedeutete, dass alle hochrangigen Regierungsmitglieder, die sich nicht gerade in irgendwelchen „Sitzungen“ um weitere Millionen Hilfsgelder bereicherten, nun auf ihren Plätzen hinter dem Podium sitzen mussten, inklusive des Präsidenten, der Regierungschefin und der meisten Ministerinnen und Minister, der Armeeführung und der obersten Richterschaft. Jetzt, solange der Bürgermeister, ein bedeutungsloser und korrupter Trottel, das Mikro besetzte und die wirklich wichtigen Leute still auf ihren Stühlen unter dem in etwa sechs Metern Höhe aufgespannten Schutzdach hockten, musste es passieren. Vera atmete tief durch, konzentrierte sich. Dann riss sie die Transporthülle auf. Sie hatte nun maximal dreißig Sekunden und sollte sich nach der Ausführung augenblicklich aus dem Staub machen. Dreißig Sekunden stellten auch aus einem weiteren Grund das absolute Maximum dar, denn der Wirkstoff, der dem Frisbee diesmal beigemengt war, offenbarte seine ungeheure Wirkung augenblicklich und musste daher so schnell wie möglich an den Ort befördert werden, an dem er sie entfalten sollte. Vera stellte sich passend zum Wind und zu der Richtung, in die sie das Frisbee werfen wollte, nicht zu fest, aber auch nicht zu kraftlos, damit es lautlos in einem sanften Bogen über den Platz und direkt zum Podest fliegen konnte. Sie schloss die Augen, atmete sanft ein, ging leicht in die Knie, holte ohne Anstrengung aus und ließ ihren Arm mit dem präparierten Frisbee nach vorne schnellen. Noch im Moment des Werfens spürte sie, dass es ein guter Wurf war. Gleich war die Scheibe hinter dem vorderen Gebäude verschwunden. Vera kletterte wieder durch das Baugerüst zurück auf die Straße, ohne abgewartet zu haben, ob das Frisbee sein Ziel erreicht und den gewünschten Effekt entwickelt hatte. Zwei Tauben, die sie auf ihrem Weg durch die Altstadt so lange umflatterten, bis sie sich endlich an einem Brunnen ihre Hände waschen konnte, lenkten nicht, wie sie befürchtete, die Aufmerksamkeit von Passanten auf Vera. An mögliche Rückstände an ihren Händen und an die feinen Sensorien der Tauben hatte sie in ihrer Aufregung nicht gedacht, man konnte eben nicht alles vorhersehen und planen, das hatte ihr Trainer auch gesagt. Ein gewisses Risiko ließ sich nie ausschließen, ob Anfängerin oder nicht. Sie hatte ja keine Handschuhe anziehen können, das hätte ihr die notwendige Sensibilität in der Wurfhand genommen. Gleich mit Latexhandschuh zu trainieren, daran hatte niemand gedacht. Und ein nächstes Mal, bei dem sie den Fehler vermeiden konnte, würde es kaum geben. Aktionen zu wiederholen, war zu riskant. Sie verscheuchte die Tauben noch am Brunnen. Nun bemerkte Vera erleichtert: Die Leute beachteten sie gar nicht, sondern sammelten sich um die Fernsehgeräte und Transistorradios, die in Läden und Bars aufgestellt waren. Immer lauter diskutierten sie miteinander, was Bovniker gern taten, manche fluchten, was sie noch lieber taten, und manche lachten ihr gehässiges Bovniker Lachen. Auf dem ganzen Weg zur Bushaltestelle und während sie in einem verborgenen Kellereingang ihren Mantel und die Perücke ablegte und in ihren Beutel stopfte, hörte Vera zwischen lautem Lamentieren aus den Häusern und Polizeisirenen von den Hauptstraßen immer wieder Leute lachen, lachen über das, was sie vermutlich nur wenige Sekunden lang, bis zum Abbruch der Übertragung, gesehen hatten und sich nun gegenseitig erzählten, während statt der Übertragung der Feierlichkeiten ein Naturfilm über die Vegetation des Karstgebirges gesendet wurde. Sie warf den Beutel in eine Mülltonne und entfernte sich rasch, aber nicht auffällig hastig. Das Lachen der Bovniker, das sie so verachtete, sie empfand es zum ersten Mal im Leben als Belohnung. Den ganzen Weg bis nach Hause stieß es immer wieder aus den Fenstern und Türen hinaus in die Gassen und Straßen, wo der gleichmäßige, schnelle Rhythmus ihrer Absätze dieses unberechenbare Staccato für Vera erträglicher machte. Allmählich begann sie zu begreifen, dass ihr erster Einsatz für die Bovniker Untergrundbewegung ein Erfolg war.

Die abenteuerliche Geschichte des Soldaten Lydian Perta, fünfter Teil: Ein glückliches Kind

Eine solche Zeremonie hatte es in Bovnik noch nie gegeben. Nicht für einen einzelnen Soldaten, einen einfachen Korporal zumal, wenn auch Träger des Ordens Held der Freiheit und, posthum, in den Rang eines Sergeanten erhoben, den er sich, darin waren sich alle einig, selbst verdient hätte, wäre er nicht vorzeitig ums Leben gekommen. Nicht nur, dass neben den Angehörigen des Verstorbenen die Spitzen sämtlicher Teilstreitkräfte, Generäle allesamt, dem jungen Infanteristen die letzte Ehre erwiesen, auch der Oberkommandierende, General Sontir, und eine Regierungsdelegation unter Führung des Verteidigungsministers, der es sich nicht nehmen ließ, die Trauerrede zu halten, waren an diesem achtzehnten August in den alten Bovniker Dom gekommen, selbstverständlich begleitet von einem Tross mit Vertretern der nationalen und internationalen Presse. Ihr Erscheinen hier an diesem symbolhaften Ort – der Dom befand sich direkt am Platz des Sieges, wies auch nach Jahren Neuer Kriegführung deutliche Spuren der Zerstörung auf, die noch immer nicht gänzlich ausgebessert waren, und galt seit Jahrhunderten als die Seele des alten, stolzen Bovnik – ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der Staat Bovnik hier ein Zeichen setzen wollte, eines, das nicht nur im eigenen Land, sondern auch vom Kriegsgegner Thunak und der Weltöffentlichkeit wahrgenommen werden sollte.

Der Leichnam lag aufgebahrt in einem offenen Sarg, umkränzt von unzähligen Blumengebinden, welche die Nationalfarben Bovniks im Sonnenlicht erstrahlen ließen, das durch die durchlöcherten Fenster in die Kirche strömte: Weiß, Grün und Rot. Man hatte dem Toten, zumindest am Oberkörper, jene Kleidung angezogen, in der er gestorben war: seine Galauniform, nun mit zerrissenem Revers und einem offenen Schulterpolster. Deutlich erkennbar waren Blutflecke auf dem grauen Stoff über der Brust und dem weißen Hemdkragen, Spuren seines gewaltsamen Todes und Zeichen des Protestes der Hinterbliebenen, ihrer Regierung und des ganzen Landes. Der Orden, den der junge, ehrgeizige Soldat kaum zwei Stunden vor seinem Tod für herausragende Leistungen erhalten hatte, war ebenfalls an seinem Jackett belassen und nicht vom Blut gereinigt worden. Nur sein zerfetzter Unterkörper blieb den Blicken der Trauergäste verborgen, die untere Hälfte des Sarges hatte man geschlossen und die bovnische Nationalflagge darüber ausgebreitet. Und doch war es nicht diese Ehrung, die ihn zu der außergewöhnlichen Figur machte, um die sich nun symbolisch die ganze Nation, vertreten durch die gewählte Regierung, versammelte. Der Orden „Held der Freiheit“ wurde regelmäßig und nicht unbedingt selten Soldaten verliehen, die sich im gegenwärtigen Krieg um die Unabhängigkeit des bovnischen Staates verdient machten. Das kleine, junge, gemarterte Land hatte seinen kämpfenden Söhnen wenig mehr zu bieten als Ehre und die eine oder andere Hilfe bei der Wohnungssuche oder der Berufswahl nach dem aufopferungsvollen und trotz Neuer Kriegführung lebensgefährlichen Dienst oder aber der bestmöglichen medizinischen Versorgung, wenn sie im Kampf für ihr Land verwundet wurden. Weshalb die oberste politische und militärische Führung des Landes gerade jetzt und bei diesem Mann so entschlossen öffentlich Anteilnahme zeigte, wurde ersichtlich, als der Verteidigungsminister ans Mikrofon trat und das Wort an die Trauergäste richtete:

„Dieser Mann, Soldat, Korporal und von heute an Sergeant Lydian Perta, fand den Tod im Alter von nur 22 Jahren. Er fand den Tod auf die ehrenhafteste Weise, die wir uns vorstellen können – im Kampf für unsere Freiheit, in seiner Uniform, mit dem Heldenorden, den wir ihm gerade erst dankbar an seine junge, hoffnungsvolle Brust geheftet hatten. Sergeant Lydian Perta war also bereits zu Lebzeiten ein Held. Nun, nachdem er auf so heimtückische Weise sein Leben verloren hat, ist er sogar mehr als das. Lydian Perta ist unser aller Vorbild. Er wurde Soldat, wie sein Vater, wie sein älterer Bruder, und wie sein Bruder starb er als Soldat. Seine Familie hat für unsere Freiheit das Kostbarste hingegeben, das eine Familie haben kann, und wir alle sind deshalb seinem Vater und seiner Mutter in diesen schweren Zeiten verpflichtet! Wir dürfen unsere Freiheit, die Freiheit, die für diesen Mann so heilig war, dass er für sie gestorben ist, nun nicht jenen anheimfallen lassen, die sie uns nehmen wollen, jenen, die diesen Mann, den letzten Sohn dieser Familie, grausam, feige und entgegen allen gültigen Regeln dieses Krieges ermordeten. Dass Sergeant Perta an einem vermeintlich sicheren Ort, in einem vermeintlich sicheren Dienststatus aus dem Leben gerissen wurde, zeigt uns, dass unsere Feinde sich nicht mehr an die Regeln halten wollen. Es zeigt uns, dass wir, ja, wir selbst, nachlässig geworden sind, denn wir, und ja, auch ich, wir alle hätten wachsam sein müssen, aber wir waren es nicht. Wir hätten nichts auf das Wort unserer Feinde geben dürfen, aber wir taten es trotzdem, denn wir sind ehrlich, wir sind gut, und wir sind dumm. Dieser Held, der in seinem Sarg mitten unter uns liegt, er mahnt uns, er verpflichtet uns, den Feinden, die sich um uns herum wieder sammeln, die, so wie sie es bei Sergeant Perta getan haben, ohne Rücksicht und ohne Regeln in unserer Mitte zuschlagen, um unsere Widerstandskraft zu erschüttern, er verpflichtet uns, den Feinden vereint die Stirn zu bieten. Nicht so vereint wie ehemals, nicht so vereint wie in diesem Augenblick, sondern so vereint wie nie zuvor! Denn wenn wir es nicht tun, wenn wir noch ein einziges Mal unachtsam sind, werden wir alle untergehen. Regelwidrige Attacken des Feindes aus Thunak gegen unsere Bevölkerung, gegen unsere Familien, rechtschaffene Menschen, wir haben sie zu oft nicht verhindert, aber wir werden sie verhindern. Tollwütige Angriffe aus dem Innern gegen unsere Geschlossenheit, wir haben sie nicht vorhergesehen, aber wir werden sie vorhersehen. Sergeant Lydian Perta wird dieses Land und seine Bevölkerung inspirieren, sein Opfer wird die Volksbewegung einen, unsere Truppen aufrütteln, wird unsere Regierung und ihre Kräfte nicht ruhen lassen, denn unsere Feinde kennen kein Vertrauen, keine Gnade und keine Menschlichkeit. Die Neue Kriegführung steht auf dem Spiel, unsere Feinde wollen diese zivilisatorische Errungenschaft offensichtlich beiseite wischen. Unsere Freiheit steht auf dem Spiel. Und deswegen schwören wir im Angesicht des Feindes, der uns wieder feige überfallen will, der nur auf die nächste Gelegenheit wartet, und im Angesicht dieses jungen, toten Helden: Lydian Perta, wir werden wachsam sein! Lydian Perta, wir werden standhaft sein! Lydian Perta, wir werden frei sein!“

Wie in Bovnik üblich, zeigte niemand im Dom oder außerhalb des Gebäudes wirkliche Trauer. Bovniker lebten, wenn man das „Leben“ nennen wollte, hinter einer grimmigen, engstirnigen Maske, die allerdings ihrer Lebensweise so sehr entsprach, dass sie eigentlich gar keine Maske mehr war. Ihre Verbissenheit hatte sich in den Kriegsjahren zu ihrer sozialen Identität entwickelt, zum beinahe ausschließlichen verbindenden Faktor ihres Sozialwesens. Dass der Verteidigungsminister seine Trauerrede dafür instrumentalisierte, die Bovniker und die internationale Presse auf eine Eskalation des Krieges einzustimmen, erzeugte nicht nur keine Verwunderung, es wurde, wenn nicht erwartet, so doch ausdrücklich gutgeheißen und am Ende lautstark unterstützt. Dass man sich in einem sakralen Gebäude befand, machte weder für die Kirche einen Unterschied, die sich über jedes Großereignis in ihrem Dom freute, noch für die Besucher der Trauerfeier, die den Kirchenbesuch als Fortsetzung ihres Patriotismus mit anderen Mitteln ansahen. Die Versammelten erhoben sich daher ohne zu Zögern und skandierten „WE KNOW! WE KNOW! WE KNOW!“ Auch Pertas Eltern, typische Bovniker und somit engstirnig und mitleidlos, Pertas Eltern, deren Sohn ein größerer Held geworden war als sein Bruder, der größte Held gar, den Bovnik seit Langem hervorgebracht hatte, standen fest und riefen laut. Sie riefen, erfüllt von Stolz und erleichtert darüber, dass Lydian nicht ruhm- und nutzlos abgetreten war, wie sie es immer befürchtet hatten. Auch Pertas Schwester Dulce schrie laut „WE KNOW!“ genau in die Kameras der Fernsehteams hinein, schrie überwältigt von der Genugtuung, dass ihre Rache nah war, denn sie spürte, sie war nah. Sie würden es den Thunakis zeigen, sie würden es den Terroristen zeigen, oder sie würden, wenn die Warnungen des Ministers zutrafen, draufgehen so wie Lydian. Und wenn alle draufgingen! Erst die Thunakis und die Terroristen, dann Bovnik selbst. Das wäre besser, als so weiterzumachen wie zuletzt. Monate, nein, fast ein halbes Jahr, nachdem dieser seltsame Kerl Salvatore Krig die Wal-Explosion überlebt und seitdem das ganze Land geschwächt und irre gemacht hatte und nun drohte, es vollends in eine Kinderkirmes übergewichtiger Schwachköpfe zu verwandeln, sah sie endlich Licht am Ende des Tunnels. Eigentlich hatte der Kerl es gut gemacht. Krig hatte die Bovniker von sich selbst entfernt, Lydian, ihr Bruder Lydian sie wieder geeint. Und jetzt sahen sie, wo sie standen und wer sie eigentlich waren. Jetzt konnte die junge Kriegswitwe wieder aus ganzer Kraft mitschreien. Vereint würden sie auf den Weg zurückfinden. WE KNOW! Dachten die anderen Schreier anders darüber? Nein. Sie wussten, worum es ging. Seit Langem freute sich Dulce wieder auf die Zukunft. Sie schaute neben sich. Dort stand Heija, ihre kleine Schwester. Dulce erkannte sie kaum wieder. Heija war seit ihren ersten Bombardements ein außergewöhnlich schüchternes Mädchen gewesen und die Medikamente hatten sie nur noch unauffälliger und stiller gemacht. Nun aber schien sie es geschafft zu haben. Das Panzerherz, es schlug jetzt auch in Heijas Brust. Die schmächtige Zehnjährige schrie so laut, dass ihr die Adern aus den Schläfen traten und sich um ihre schmalen Lippen herum Schaum ansammelte. Deutlich konnte man ihr ansehen, dass auch sie den Krieg in sich willkommen geheißen hatte und wünschte, er möge niemals enden. Sie schrie und sah so glücklich aus, wie Dulce sie noch nie erlebt hatte. In der Tat, dieses Kind Bovniks und des Krieges, nach langen Jahren, die es selbst, die seine Familie und sein ganzes Land in demütigender Agonie verbracht hatten, es war nun endlich ein glückliches Kind.