Kitabı oku: «Warum der stille Salvatore eine Rede hielt», sayfa 3

Yazı tipi:

Ein einfacher Mann

Über den Mann, der nach dem aufsehenerregenden „Verkehrsunfall mit Pottwal“, wie es fortan hieß, in die Notaufnahme des Bovniker Universitätsklinikums eingeliefert worden war, konnten die örtlichen Reporter anfangs nicht mehr herausfinden als seinen Namen und seine Adresse. Das frustrierte sie immens, denn Salvatore Krig führte anscheinend alles andere als ein aufsehenerregendes Leben. Wenn sie endlich jemanden in seiner Nachbarschaft aufgestöbert hatten, der Salvatore mehr als einmal, ja vielleicht sogar wiederholt begegnet war, so konnte die Person nicht mehr über ihn berichten, als dass er, ein „einfacher Mann“, dort wohne, regelmäßig mit seinem Motorroller unterwegs sei und ansonsten nicht weiter in Erscheinung trete. Eine Arbeitsstelle konnte nicht ausgemacht werden, Verwandte, Kollegen oder Freunde schienen überhaupt nicht vorhanden zu sein, nirgends, kein Einziger. Es gab in Bovnik keine weiteren Zeichen seiner Existenz, jedenfalls keine, die ohne tief gehende Recherchen auf die Schnelle nutzbar gemacht werden konnten (und es sollten auch später keine gefunden werden). So kam es, dass er als „Der Mann, der von einem toten Wal angegriffen wurde“ in den ersten Zeitungsschlagzeilen und Radionachrichten auftauchte und dieser Etikettierung im Folgenden auch nichts, jedenfalls nichts Wahrheitsgemäßes, hinzugefügt wurde. Salvatores an Nichtexistenz grenzende Lebensführung, welche die Presse zu Beginn noch ratlos machte, erwies sich aber sehr bald als Glücksfall, denn nun konnten die absurdesten Spekulationen ungehindert verbreitet werden, erzeugten unentwegt und ganz aus sich heraus neue Gerüchte, neue „Insiderinformationen“, neue Nachrichten „aus sicherer Quelle“, ohne jemals auf die möglicherweise ernüchternde Realität treffen zu müssen. Zeitungen überboten sich gegenseitig mit Exklusivmeldungen und verkauften sich prächtig, das Fernsehen zahlte für Interviews mit „geheimen Geliebten des Wal-Mannes“ hohe Summen. Begünstigt wurde das ungehemmte Wuchern der Fantasien um Salvatore auch dadurch, dass sich das Objekt der öffentlichen Begierde nach dem Vorkommnis mit dem Pottwal eine ganze Weile nicht zu den Spinnereien äußern konnte. Sofort nach seiner Einlieferung in die Bovniker Klinik war Salvatore nämlich operiert und anschließend in ein künstliches Koma versetzt worden, um seinen Heilungsprozess nicht zu gefährden und ihm die Schmerzen zu ersparen, die seine schweren Verletzungen mit sich brachten. Zehn Tage lang erfuhr die Öffentlichkeit nichts über ihn, was nicht komplett erfunden war. Mit anderen Worten: Über das wahlweise geheimnisvolle, einsame, kriminelle, tragische, wohltätige oder auch ausschweifende Leben, das Salvatore nicht geführt hatte, wusste zehn Tage nach seinem Unfall jeder Tellerwäscher in Bovnik besser Bescheid als Salvatore selbst.

Salvatores wirkliche Geschichte hätte er der Presse genauso wenig erzählt, wie er sie bisher irgendjemandem erzählt hatte. Die Unkenntnis seiner Nachbarn über ihn rührte allerdings nicht unbedingt daher, dass er etwas vor ihnen verborgen hätte. Sie hatten den schweigsamen, wenig geselligen Mann einfach nie gefragt und er hatte seine persönlichen Lebensumstände, seine Herkunft oder auch seine Meinung zu alltäglichen oder bedeutenderen Themen noch nie für wichtig genug erachtet, sie mit anderen zu teilen oder zu diskutieren. Diejenigen, die im selben Hause wohnten, waren bis auf eine Person erst dort eingezogen, als Salvatore bereits dort lebte. Der brutale Krieg der ersten Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung hatte viele, auch zivile Opfer gefordert und zusammen mit der Vertreibung der thunakischen Minderheit ganze Stadtbezirke entvölkert oder neu besiedelt. Das Mietshaus, in dem Salvatore eine kleine Wohnung im ersten Stock bewohnte, stammte allerdings noch aus der Zeit des „ersten Wiederaufbaus“ nach dem letzten großen Krieg und hatte den Krieg gegen Thunak fast unbeschadet überstanden. Ein halbwegs moderner, zweckmäßiger Bau mit einer fast luxuriös erscheinenden kleinen Eingangshalle mit weißen, angestoßenen Wänden und einem Boden aus echtem Marmor, der sich auch als Umrandung des Fahrstuhleingangs und in Gestalt der massiven Treppenstufen wiederfand. Auch die schwarz lackierten, stählernen Treppengeländer mit Knöpfen aus Messing hatten ihre Anmutung gehobenen Stils nicht so rasch verloren wie die mittlerweile verrosteten, verbogenen oder wurmstichigen Gestelle in vielen anderen, älteren oder stark beschädigten besseren Häusern der Stadt. Dies war kein Haus, in dem Mittellose wohnten. Es gehörte zwar nicht zu Bovniks gehobener Gegend, aber wer hier eine Wohnung besaß, musste sich ihrer gewiss nicht schämen. Salvatore besaß seine Wohnung, seit er sie als junger Mann von geerbtem Geld gekauft hatte. Dieser Besitz und das restliche geerbte Vermögen hatten es ihm ermöglicht, so zu leben, wie er es bis zu seinem Unfall getan hatte. Er arbeitete nicht, musste kein Geld verdienen und lebte dennoch sehr bescheiden. Er unternahm keine Reisen, veranstaltete keine Partys, hatte keinen Damenbesuch oder sonst irgendeine Bekanntschaft. Wenn er einkaufen ging, verhielt er sich stets so höflich, wie es die Umstände und die grimmigen Bovniker Kaufleute für angemessen erscheinen ließen, sprach nur das Notwendigste und kehrte wieder in sein Heim zurück. Dort hatte er weitgehend seine Ruhe, denn auch ein Telefon besaß er nicht, wie viele andere Bovniker auch. Sein einziger nennenswerter, über die Wohnung hinausgehender Besitz war sein Motorroller. Mit ihm unternahm er täglich einen Ausflug wie den, der von dem Wal so unvermittelt beendet wurde, manchmal auch zwei an einem Tag – wenn Salvatore Lust hatte und das Wetter es erlaubte. Dies war das Äußerste, was jemand am Tag des Unfalls oder irgendwann später über Salvatore Krig überhaupt hätte in Erfahrung bringen können. Ob sich dahinter ein Geheimnis, eine Tragödie oder einfach nur Ödnis und Langeweile verbargen, spielte eigentlich keine Rolle, denn tragische Schicksale und Geheimnisse hatte jeder Bovniker in seinem Umfeld und seinem Leben mehr als genug.

Fortinbras und die 60-Watt-Birne

Wie sehr Vera noch immer zitterte, bemerkte sie erst, als sie die Wohnungstür öffnen wollte. Sie hatte einen weiten Umweg gemacht, wie Mikos es ihr eingeschärft hatte, immer darauf gefasst, dass jemand hinter ihr her war – ganz egal, ob von der Geheimpolizei oder von sonst einem Arm des Bovniker Kraken, dem man eigentlich nie ganz aus dem Weg gehen konnte, denn er saß in jedem Haus, in beinahe jeder Wohnung. Erst als sie ganz sicher gewesen war, dass niemand sie beobachtete oder ihr gar folgte, hatte sie den direkten Weg nach Hause eingeschlagen und war gänzlich unbehelligt im linken Hausflur des Plattenwohnblocks verschwunden, in dem sie lebte, seit sie denken konnte. Genauer gesagt lebte sie hier, seit sie auf der Welt war, und nach ihrem Gefühl herrschte schon fast ebenso lange Krieg in Bovnik. Das war zwar übertrieben, aber die Erinnerungen an ihre Kindheit, in der sie nicht täglich das Geräusch von Granaten und Scharfschützengewehren hatte hören müssen oder sich, wie seit der Neuregelung üblich, immer wieder durch wild umherschießende Soldatenrotten schlängeln musste, wenn sie sich nur eine kleine Strecke in der Stadt bewegte, waren verblasst, überschrieben von der späteren, unangenehmen Realität ihres Lebens. Der Wohnblock erzählte auch keine netten Kindheitsgeschichten, wenn sie ihn ansah. Er erzählte mit seinen aus der „alten“ Kriegszeit stammenden Einschusslöchern, vor Jahren geborstenen und nie wirklich reparierten Wänden und Fenstern und seinen rostig aufgespaltenen Fugen zwischen den deprimierend gleich gebauten Platten überhaupt keine Geschichten. Die absurd hervorstehenden Betoneinfassungen, die den lächerlich kleinen Fenstern das Erscheinungsbild von Schießscharten verliehen, ließen keinen Gedanken an unbeschwerte Nachmittage aufkommen, die man vielleicht einmal am Fenster sitzend und mit Nachbarn plaudernd oder dem Gesang der Amseln lauschend verbracht haben könnte. In diesen Fenstern hatte sich niemals und konnte sich niemals so etwas Entspanntes, so etwas unkompliziert Verbindendes abgespielt haben. Als sie nun diese Fassade, die ihr immer vergegenwärtigte, wo sie lebte, durchschritten, die Treppe in den sechsten Stock erklommen und in den Taschen ihrer Jeans nach ihrem Schlüsselbund gesucht hatte, musste Vera vor der Tür stehen bleiben, ohne sie öffnen zu können. Denn in diesem Moment schoss ihr die Befürchtung durch den ganzen Körper, dass sie diese Tür vielleicht nicht mehr sehr oft öffnen würde, dass sie dieses Haus in absehbarer Zeit vielleicht würde verlassen müssen, um ihre Familie nicht zu gefährden. Mikosʼ merkwürdiger Scherz war ihr im Gedächtnis geblieben – eigentlich war er ihr schon damals durch Mark und Bein gefahren – als er ihr, um herauszufinden, ob sie wirklich dazu bereit war, AR beizutreten, vorgegaukelt hatte:

„Spätestens, wenn die von der Regierung irgendeinen Hinweis auf dich haben, ganz egal wie konkret, musst du abtauchen!“

Bisher sei es allen Aktivisten gelungen, vollkommen unentdeckt zu bleiben und ihr bürgerliches Leben weiterzuführen. Doch irgendein dummes Missgeschick oder ein Zufall könnten das ganz schnell ändern.

„Und wenn sie rauskriegen, wer ich bin?“, hatte sie gefragt.

„Dann sollte deine Familie am besten schon gar nicht mehr wissen, dass du mal zu ihnen gehört hast.“ Damit spielte er darauf an, wie Bovniker Familien gemeinhin mit „unpatriotischen“ Familienmitgliedern umsprangen (das konnten Deserteure sein oder ganz einfach jeder, der dem Druck des Krieges nicht gewachsen war): Sie verstießen oder denunzierten sie oder wurden von der Geheimpolizei oder ihren Nachbarn dazu gebracht. Mikos wusste ja nicht, dass Veras Familie keine von dieser Sorte war, und Vera hatte den Impuls, ihm das zu verraten, glücklicherweise unterdrückt. Aber dann hatte Mikos gelacht und gesagt, es sei doch alles halb so wild, schließlich wende AR grundsätzlich keine Gewalt an und Vera hätte deshalb nicht mehr zu befürchten als ein paar Tage Knast oder eine Geldstrafe. „Ich will nur sicherstellen, dass wir vorsichtig bleiben. Wir müssen es ja nicht unbedingt drauf anlegen, geschnappt zu werden, oder? Besser wir bleiben anonym.“

Es nutzte nichts. Ihre Hand zitterte so stark, dass sie mit dem Schlüssel nicht das Schlüsselloch traf. Sie konnte das Schloss nicht einmal richtig sehen, denn ihre Augen flimmerten seit dem dritten Stock immer stärker. Vera lehnte sich gegen die Tür. Bloß nicht ohnmächtig werden. Ihre Familie würde den Lärm hören, wenn sie auf das Linoleum aufschlug, und dann würden sie ihr wieder Fragen stellen, ihr Opa, ihr Vater, und ganz bestimmt ihre Mutter. Also atmete sie tief und gleichmäßig, wie Mikos es ihr eingeschärft hatte, schloss die Augen für einen Moment, machte sich bewusst, dass sie es geschafft hatte, dass sie nicht in Gefahr schwebte. Vermutlich jedenfalls. In ihrem Schwindelgefühl sah sie wieder das „Schattenreich“ vor sich, ein dunkles, undurchdringliches, höhlenartiges Gebilde, angefüllt mit verborgenen Obsessionen, enttäuschten Hoffnungen, aufgehäuften Schmerzen und unerfüllten Wünschen, das sie nie wirklich zu fassen bekam oder lokalisieren konnte, über das immer nur geschwiegen wurde, von dem sie aber seit ihrer Kindheit glaubte, es befände sich direkt unter ihnen, ja ganz Bovnik sei geradezu darauf gebaut wie auf einer brüchigen Eierschale. Sie konnte durch die Tür ihren Opa hören. Gut, so konnte sie sich orientieren und ihre Gedanken auf etwas anderes lenken. Vladimir schien sich wieder mit einem Buch zu beschäftigen und die ganze Familie daran teilhaben zu lassen, wie er es oft tat.

„Ich glaube, du hast nicht zugehört, mein Sohn“, hörte sie seine immer etwas theatralisch gestützte Stimme, die sich gegen unverständliches Gemurmel durchzusetzen gedachte. „Was er dem toten Hamlet anvertraut, das ist kein Spott, es ist die Wahrheit. ‚Denn wie du richtig meintest Dänemark ist ein Gefängnis.‘ Den letzten Teil des Satzes stattete Vladimir mit einem Tremolo aus, das einem Shakespeare-Darsteller des neunzehnten Jahrhunderts Ehre gemacht hätte, woraus Vera ableitete, dass es sich hierbei um ein Zitat des betreffenden Dichters handeln musste. Gefängnis. Ausgerechnet, dachte Vera und traf dieses Mal mit ihrem Schlüssel das Schloss.

„Das ist nicht Fortinbrasʼ Meinung, oh, guten Abend Kleines, hast du einen schönen Tag gehabt, sondern die einfache Wahrheit, auch dieses Scheusal von Fortinbras ist gefangen, in dem Land, das er selbst ... in diesem, seinem Leben, verstehst du?“

Wie immer machte Großvater Vladimir keine Pause in seinem Gedankengang, als Vera eintrat und von den Anwesenden nach und nach bemerkt und mit freundlichem Kopfnicken oder geschäftigem Lächeln begrüßt wurde. Einzig Veras Bruder Jan am Küchentisch zeigte überhaupt keine Regung, was sie von ihm allerdings auch nicht erwartete, denn er nahm eigentlich an nichts irgendeinen Anteil, außer an dem knapp ziegelsteingroßen, tragbaren Fernsehgerät in seiner Hand. In das starrte er eigentlich immer hinein, wenn er nicht in seiner Imbissbude die Würste auf dem Grillrost anstarrte, um nicht in die verkrampften Visagen seiner Kundschaft schauen zu müssen. Den Unwillen seiner Kunden auf sich zu ziehen, indem er in ihrer Anwesenheit Fernsehen schaute, riskierte er lieber nicht, denn seine Bude stand durch einen glücklichen Zufall seit ein paar Wochen mitten im Kampfgebiet und er machte blendende Umsätze. Außerdem hatte er die Angewohnheit, sich kleine Ohrhörer in seine Gehörgänge zu stecken, um einen halbwegs vertretbaren Ton zum Bild zu bekommen, und in seiner Familie hatte er diese im Grunde unverschämte Angewohnheit mit Beharrlichkeit durchsetzen können – gegenüber hartgesottenen und übel gelaunten Soldaten beider Lager mochte er sich lieber nicht erproben. Dass Vera ihm die Strickmütze, die er nicht einmal im Bett ablegte, im Vorbeigehen über die Augen zog, kommentierte er bloß mit demselben verlegenen Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn Vera ihn auf diese Weise neckte. Sein großer Mund mit den breiten Zähnen wirkte in diesem Moment noch grobschlächtiger als sonst. Dann schob Jan die Mütze wieder an ihren alten Platz und vertiefte sich in das Geschehen auf dem Bildschirm. Vera gab die alte Gewohnheit, ihren kleinen Bruder beim Fernsehen zu stören, ein wenig innere Stabilität zurück, wenn man in ihrem Fall überhaupt von so etwas reden konnte.

„Du zitterst wieder, Schatz. Du wirst krank“, mahnte sie ihr Vater Ernèst, als sie ihm Küsschen gab. Der untersetzte Mann in seinem sommerlich hell gestreiften Hemd und der alten Kochschürze, die er darüber trug, rührte weiter in dem großen Topf mit Gemüsesuppe auf dem Herd und drehte sich zu seinem Vater:

„Warum sollte ausgerechnet Fortinbras gefangen sein?“

Auch Mathilde meldete sich nun zu Wort, obwohl es ihr unzweifelhaft schwerfiel.

„Das verstehe ich nicht également, mon chèr, bon soir, Vera, bon soir!“

Vera begrüßte ihre Großeltern Mathilde und Vladimir ebenfalls mit Küsschen und verschwand im Badezimmer, wo sie sich so leise wie möglich ins Klo übergab. Mathilde lag mit leidender Miene, ihren Kopf in den Schoß ihres neuen Lebensgefährten Vladimir gebettet, einen feuchten Lappen auf der Stirn, auf dem Sofa, Veras Schlafplatz in der Küche. Sie wurde häufig von Migräneanfällen heimgesucht und auch wenn die Anfälle deutlich weniger und schwächer geworden waren, seit sie und Vladimir sich gefunden hatten, war sie doch nicht ganz von ihnen befreit. An diesem Abend also hatte die Migräne sie wieder erwischt.

„Vladimir! Mein Kopfweh wird nicht besser, wenn ich verstehe nichts! Fortinbras hat doch gesiegt.“

Vera kam mit gewaschenem Gesicht und noch immer zitternden Händen in die Küche zurück. Sie knabberte an einer verkümmerten Möhre aus der Kiste in der Vorratskammer. Die Kiste war wieder einmal fast leer, die kostbaren Möhren und Kartoffeln schwammen im Topf auf dem Herd. Sie wechselte einen Blick mit dem Kind.

„Eben“, schaltete sich Ernèst wieder ein. „Er hat den Krieg gewonnen und das Land erobert.“

„Aber genau darum geht es doch in diesem Gedicht“, argumentierte Vladimir. Er liebte solche Diskussionen und provozierte sie, wann immer er konnte. Seine Familie diskutierte allerdings nicht aus bloßer Gefälligkeit, sondern aus Interesse und dem Mangel an vergleichbaren intellektuellen Herausforderungen ebenfalls nicht ohne Vergnügen über Vladimirs Einwürfe und Vorträge. Der setzte nun zur Tiefenanalyse an:

„Er hat gewonnen, aber ist lebenslänglich verurteilt, der Mächtige zu sein. Er weiß selbst zu genau, dass er nichts ist, Staub, ein Bäuerchen der Geschichte! Gefangen in diesem Wissen und dieser, seiner Welt. Unserer Welt.“

„Wie hat deine Frau das bloß ausgehalten, das du so schlau bist!“, seufzte Mathilde und meinte es ernst. Dass er die offene Frage zu Fortinbras glaubhaft beantwortet hatte, erleichterte sie tatsächlich und linderte ihre Migräne. Sie streichelte sanft seine Wange.

„Hat sie nicht. Sie ist doch abgehauen!“, erwiderte Vladimir mit einer Spur Verbitterung in der Stimme.

„Weil du ihr zu schlau warst! Sicher!“, spottete Ernèst.

Vladimir mochte nicht über das Thema reden. Dennoch konnte er seinem Sohn die Anspielung auf das schmerzhafteste Kapitel seiner Lebensgeschichte nicht einfach durchgehen lassen.

„Dafür hast du einen Kinnhaken verdient, Bengel!“ Ernèst grinste. Seine Mutter hatte getan, was sie für richtig hielt. Darüber musste man nicht schweigen, fand er. Jedenfalls nicht in den eigenen vier Wänden, soweit man angesichts des riesigen, mit einer halben Tischtennisplatte einigermaßen verschlossenen Loches in der Außenwand der Küche von vier Wänden sprechen konnte. Allerdings musste man sich jetzt, wo der Eintopf fertig war, auch nicht darüber streiten. Er packte gerade die heißen Topfgriffe mit Tüchern in seinen Händen, als seine Frau die Wohnungstür öffnete, die direkt in die Küche führte, ihre schwere, abgewetzte Ledertasche abstellte und erleichtert durchatmete. Seit ihrer Jugend litt Ola Kiljan unter Hüftschmerzen. Die Beweglichkeit ihrer beiden Hüftgelenke war mittlerweile so stark eingeschränkt, dass sie gerade noch Treppen steigen und auch sitzen konnte, doch auch das wurde zunehmend schwieriger und schmerzhafter für die Busfahrerin bei der Bovniker Verkehrsgesellschaft. Eine Operation oder ein anderer Job waren wohl unausweichlich.

„Ola, du kommst gerade rechtzeitig, Liebes“, begrüßte Ernèst sie, wuchtete den Topf auf den Tisch und gab ihr ein Küsschen. Wortlos erhob sich Jan, küsste seine Mutter, die es kaum erwarten konnte, aus ihrer Busfahreruniform herauszukommen und setzte sich wieder, ohne den Blick vom Fernsehbildschirm gelöst zu haben.

„Rechtzeitig?“ Ola lockerte ihre Krawatte. „Juhu, dann ist das das erste Mal für heute.“

„Interessiert noch irgendjemanden die Weltsicht eines großen polnischen Denkers?“, warf Vladimir durchaus vorwurfsvoll in die Runde.

„Der polnische Denker darf mitessen“, frotzelte Ernèst weiter.

Ola schaute kurz zu dem Kind hinüber und tauschte dann mit Vera, Vladimir und ihrer Mutter Mathilde Begrüßungsküsschen aus, nicht ohne ihrer frisch verliebten Maman zuzuzwinkern, denn sie freute sich über das „junge Glück“. Ihre Mutter war seit vielen Jahren Witwe und nie, keine einzige Minute damit zurechtgekommen, allein zu sein, keinen Ehemann mehr zu haben. Ihre Trauer nach dem Unfalltod ihres Gatten war nicht von außergewöhnlich langer Dauer gewesen, daran lag es nicht, aber die Trauer war direkt übergegangen in einen Zustand völliger Hilflosigkeit und Verlorenheit. Sie konnte mit sich selbst einfach nichts anfangen. Nicht einmal das Familienleben der Kiljans, an dem sie wie alle anderen teilnahm und das an Herausforderungen nicht unbedingt arm war, konnte daran etwas ändern. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie wie eine Außerirdische auf einem fremden Planeten gelebt. Bis eines Tages Vladimir mit gepackten Koffern vor der Tür der viel zu kleinen Wohnung der Kiljans stand und Mathilde, die gerade allein zu Hause war, um Aufnahme bat. Der Vater ihres Schwiegersohns, ein weißhaariger Adonis mit künstlerischer Ader, hatte zuerst seine Frau an die Thunakis, dann seine Arbeit an die Pensionsgesetze verloren und suchte nun Gesprächspartner für seine intellektuellen Diskussionen. Das ewige, saudumme „WE KNOW!“ der Bovniker machte ihn wahnsinnig. Obwohl Mathilde und Vladimir sich schon seit Jahrzehnten kannten, traf sie in diesem Augenblick die Liebe wie ein Schlag. Das war keine drei Wochen her. Seitdem lebten sie als Paar mit den restlichen Kiljans in der kleinen Wohnung, auch wenn es Mathilde leichter fiel, Vladimirs Argumentationen zuzuhören, als ihnen etwas zu entgegnen.

„Erklärt mir nach dem Essen, worum es geht, Kinder.“ Niemand störte sich daran, dass Ola mit „Kinder“ stets alle Familienmitglieder meinte, auch ihre Mutter und ihren Schwiegervater. Ein vorsichtiger Blick zu ihrem ungeduldig wartenden Mann machte ihr klar, dass sie ihre Uniform erst nach dem Essen loswerden konnte, wenn sie ihn nicht verärgern wollte. Die Suppe stand auf dem Tisch, Ernèst hatte bereits Platz genommen und auch die anderen sammelten sich um die Futterstelle. Immerhin ihre Uniformjacke zog Ola aus und spähte erwartungsvoll zu der Stelle neben der Wohnungstür, an der vor Wochen ein Kleiderhaken abgerissen war. Er lag seitdem neben Ernèsts Kochherd.

„Ich werde den Haken bald anschrauben, Schatz“, rief Ernèst. „Hab gestern Dübel organisiert. Da kannst du eine Kuh dran aufhängen, so stark sind die!“ Ola seufzte, hängte die Jacke über ihre Stuhllehne, wusch sich rasch ihre Hände im Spülbecken und setzte sich.

„Du zitterst wieder, Kleines.“ Ola beobachtete, wie umständlich Vera, die im Vergleich mit den anderen am Tisch kreidebleich aussah, mit der Suppenkelle hantierte. „Du wirst krank.“

Vera schüttelte beschwichtigend den Kopf, ihre Haare fielen ihr vor die Augen. Früher hatte sie das nicht gestört, aber seit sie AR angehörte, machte es sie wahnsinnig. „Ich muss mir endlich ein Haargummi besorgen“, dachte sie. Dann wehrte sie den Freundlichkeitsangriff ihrer Mutter ab: „Und du wirst noch verrückt, wenn du mit den Kurvereien so weitermachst.“

„Kleines, du weißt, wie es aussieht. Es ist unmöglich, eine Buslinie normal zu bedienen, wenn einem jeden Moment ein Jeep vor den Kühler fallen kann oder eine Horde schießwütiger Irrer mit Maschinenpistolen ...“

„Helden! Ola, Helden!“, mahnte Ernèst grinsend, doch sie rollte bloß mit den Augen und sprach ungestört weiter: „… jede zweite Kreuzung blockiert. Da können sie so große Helden sein, wie sie wollen, ich muss doch anhalten und warten, bis sie Feierabend machen oder … ihr wisst schon.“

„Sag ich doch, Mumi.“ etwas zu heftig pustete Vera auf ihren Suppenlöffel, die Suppe spritzte über ihren Teller und den halben Tisch. Jetzt rollte sie mit ihren Augen.

„Dreck!“

„Wenn ich nicht wüsste, dass du nicht meine Suppe meinst“, grinste ihr Vater und tupfte mit seinem Küchentuch die Spritzer vom Tisch.

„Du bist so angespannt, schon lange, Kind“, sagte Mathilde zu ihrer Enkelin. Vera blies demonstrativ sachte über ihren neu gefüllten Löffel und schwieg.

„Könnte ich meine Überlegungen noch zu Ende führen?“, startete Vladimir einen letzten Versuch, doch seine Chance hatte er gehabt. Ola war am Zug.

„Du weißt nie, wo du rauskommst und wann. Heute war plötzlich die halbe Stadt gesperrt wegen irgendwelcher Tauben auf dem Platz der Idioten. Wegen Tauben! Als wäre das eine Staatsaffäre!“ In der Familie hatte sich eingebürgert, die abfällige Bezeichnung für den „Platz des Sieges“ zu verwenden, natürlich nur, wenn man unter sich war. „Warum überhaupt noch jemand mit dem Bus fährt, ist mir ein Rätsel.“

Vera rührte verkrampft in ihrer Suppe. „Sie machen einen Sport draus, glaub ich, so was wie Roulette.“ Ola lachte bitter.

„Dann sollte ich bedeutend mehr Geld verlangen.“

„Gewinnbeteiligung!“, skandierte Ernèst, als stünde er inmitten einer protestierenden Masse auf dem Platz des Sieges, aber dort hatte schon lange niemand mehr gegen irgendetwas protestiert.

„Ich habe seinerzeit gehungert, um an verbotene Bücher zu kommen“, warf Vladimir ein. Der kämpferische Ton seines Sohnes weckte Erinnerungen.

„Dein Sohn hat welche geschrieben, um nicht zu hungern.“ Ola tätschelte den behaarten Unterarm ihres Gatten. Vera bekam ein wenig Gänsehaut, denn die Liebe zu Büchern hatte sie von den beiden Männern geerbt. Ihr Literaturstudium nutzte ihr trotzdem nichts.

„Das hat er. Mein Sohn!“, nickte Vladimir stolz. „Würde er nur besser kochen.“

Das erinnerte Ola daran, dass sie eben einen Nachtisch hatte kaufen wollen:

„Ich wollte Erdbeeren mitbringen, es gibt ja welche. Ich sage im Laden, ich möchte Erdbeeren mit Erdbeergeschmack, da sagt die ‚Gibs nich, nur die wir haben!‘ Ist das zu glauben?“ Alle nickten verständig, außer Jan, der sich auch beim Essen nicht vom Fernsehen abhalten ließ. Mathilde sprach ihn trotzdem an:

„Du könntest vielleicht deine Würstchenlieferanten – Jan! – mal auf gute Erdbeeren ansetzen.“ Jan nickte, aber allen war klar, dass sein Nicken nichts zu bedeuten hatte.

„Wo ist denn Billie wieder?“, wollte Ola wissen. Ihre älteste Tochter wohnte zwar noch zu Hause, ließ sich aber selten blicken. Zu viele ehrgeizige junge Männer warteten auf lebenslustige Frauen wie sie, wenn sie nach Feierabend das Büro verließ, in dem sie arbeitete.

„Die ist wieder unterwegs, denke ich mal“, sagte Vera.

„Jede Nacht bei einem Anderen!“ Ola gefiel der Lebenswandel ihrer Tochter nicht, auch wenn Billie im Unterschied zu Vera nicht ständig zitterte.

„Lass sie doch“, beschwichtigte Ernèst. „Sie will was vom Leben haben. Ist schwer genug.“

Ola schaute über den Tisch, wo das Kind saß und stumm seine Suppe löffelte: „Ihr Platz ist ja wenigstens nicht leer.“

„Heute Abend gehe ich wieder zum Training“, sagte Vera und ärgerte sich sofort, nachdem sie es gesagt hatte. Sie wollte nicht als jemand erscheinen, der sich als besonders wohlerzogen gegen die leichtlebige Schwester abheben wollte. Doch genau das war sie immer gewesen. Wohlerzogen, unauffällig und einsam. Die Männer, die ihr den Hof gemacht hatten, konnte sie an einer Hand abzählen, und sie hatte sie außerdem alle abgewiesen. Ihre erste, eher unerfreuliche und unbeholfene Erfahrung mit einem Jungen aus ihrer Schulklasse hatte sie einigermaßen verstört und darin bekräftigt, lieber keine Freundschaften oder Liebesabenteuer zu riskieren. Vielleicht ärgerte sie sich auch darüber, dass sie ihre Familie bezüglich des Trainings heute ausnahmsweise belog. Aber, das wusste sie, ans Lügen sollte sie sich besser gewöhnen, jetzt, wo sie ihre Eintrittskarte in den aktiven Kreis von AR gelöst hatte.

„Du mit deinem Sport. In diesen Zeiten“, sagte Vladimir halb ironisch, halb anerkennend. Vera schaute ihn nicht an.

„We never know”, sagte sie.

Ernèst nahm sich bereits seine zweite Portion.

“Mit der Nase zwischen Buchdeckeln wird nicht jeder glücklich.“

Plötzlich erhob sich Ola. Ihr Blick hatte das Zifferblatt ihrer Herren-Armbanduhr gestreift – gerade noch rechtzeitig:

„Freitagabend, achtzehn Uhr fünfundvierzig, schönen Gruß von General Tulpensteel!“, verkündete sie, alle Anwesenden hoben mit beiden Händen ihre Teller an und warteten ab. Nicht lange, und das vertraute Geräusch einer anfliegenden Granate wurde lauter und lauter. Dem scharfen Krachen der eigentlichen Explosion folgte unmittelbar das typische Summen von Signaturmunition, die auf zivile Objekte trifft: Wie eine gigantisch verstärkte Version des Brummens jener beliebten Feuerwerkskörper, die man „Biene“ nannte, eine rasch anschwellende, stark vibrierende Mischung aus Nebelhorn und Kreissäge, begleitet von einer hellen, blauen Lichterscheinung, die durch die Ritzen um die Tischtennisplatte und durch das kleine Küchenfenster drang. Bald nach dem Eintreffen der akustischen Vibration begann das gesamte Haus in derselben Frequenz zu vibrieren und natürlich der Tisch und alles, was die Familie nicht in ihren Händen hielt. Im Unterschied zum Explosionsgeräusch hielt das Summen und Vibrieren mehrere Sekunden an. Daher lösten sich im näheren Umkreis eines Granateinschlags auch immer wieder Schrauben aus Gewinden, Nägel aus Wänden, fielen Tassen und Teller von Tischen und aus Schränken. Die Vibrationen hatten noch nicht so weit nachgelassen, dass die Familienmitglieder ihre Teller wieder abstellen konnten, als es plötzlich dunkel wurde und sich im selben Moment die Glühbirne, als Ergebnis des Zusammenwirkens von ungezählten Granatvibrationen und der Erdanziehung, direkt über dem Suppentopf aus ihrer Fassung löste.

Zu den wenigen Dingen, die Veras Familie mit der großen Mehrheit der Bovniker Bevölkerung gemeinsam hatte, gehörte der verbindende Stolz des Mangels. An allen Ecken und Enden mangelte es in Bovnik, mal an diesem, mal an jenem. Aber dieser seit vielen Jahren andauernde Zustand führte nicht zu Aufständen der Unzufriedenen – zu denen sich Veras Familie durchaus, aber lieber insgeheim zählte – sondern zur Stärkung des ohnehin kaum noch zu steigernden Gefühls nationaler Einheit, das im allgegenwärtigen „WE KNOW“ Ausdruck fand. (Dass es einen Weg gab, den Mangel bis zu einem gewissen Grad zu lindern, war den Kiljans durchaus bewusst, doch dafür hätten sie sich der Mehrheit anschließen müssen, was für sie nicht infrage kam.) Perioden des Mangels wurden immer wieder abgelöst von denen der partiellen Überversorgung. Es gab einfach keine vernünftige Koordination des Handels und der Produktion – noch nicht, wie die Regierung immer wieder beteuerte. Doch in Wahrheit lag das durchaus nicht in ihrer Absicht, die Situation war so, wie sie war, schon nach dem Geschmack der Regierenden. Die sporadische Überversorgung sorgte vor allem dafür, dass die Bovniker den Mangel, der unweigerlich folgen würde, wieder fürchteten und bereit waren, Opfer zu bringen, um ihn zu mildern. Obwohl die Kiljans, wobei sie sich dazu nicht außerhalb der Familie äußerten, die Regierung und die so unerschütterlich geeinte Bovniker Bevölkerung schlichtweg für eine Ansammlung gefährlicher Idioten hielten, wurden auch sie durch Mangel geeint. Jeder achtete gewohnheitsmäßig darauf, nichts zu verschwenden oder zu beschädigen, was gerade schwer zu ersetzen war. Glühbirnen gehörten leider momentan zu den schwer entbehrlichen Haushaltsgegenständen, die man in Bovnik nur zu horrenden Preisen auf dem Schwarzmarkt bekommen konnte – wenn überhaupt. Die Familie hatte in dem Augenblick, als das Licht ausging, also die Wahl, entweder einen oder mehrere Teller einzubüßen und den Tisch mit Suppe zu versauen, und vielleicht, mit viel Glück, Geschick und vor allem Reaktionsschnelligkeit zu versuchen, die Glühbirne aufzufangen, bevor sie im Suppentopf versank und unbrauchbar wurde oder dort gar in tausend Glassplitter zersprang, oder sich auf unbestimmte Zeit mit Kerzenlicht abzufinden. In der so unvermittelt hereingebrochenen Dunkelheit erfassten überhaupt nur Vera und das Kind die eigentliche Problematik der Situation schnell genug. Doch Vera, deren Aufmerksamkeitstraining bei AR erste Früchte zu tragen begann, saß zu weit vom Suppentopf entfernt, um noch eingreifen zu können und das Kind, welches die lose wackelnde Glühbirne schon während des Angriffs beobachtet hatte, wollte nicht riskieren, einen Teller zu beschädigen und womöglich vom Esstisch verbannt zu werden. Kurz – die Glühbirne fiel. Doch bevor sie auf den Topfrand aufzuschlagen drohte, hielt sie Jan sicher in seinen kräftigen, von der Hitze seines Würstchengrills verhornten Fingern. Der kleine Fernseher lag vor ihm auf dem Tisch, seinen Teller hielt er sicher mit seiner anderen Hand. Alle starrten den jungen Mann an, als habe er die Birne gerade aus dem dämmrigen Nichts herbeigezaubert. Er aber betrachtete die heiße Glühbirne ganz dicht vor seinen Augen und schüttelte sie vorsichtig am Ohr seiner Mutter – denn er trug ja die Ohrhörer – damit sie prüfen konnte, ob das kostbare Stück noch in Ordnung war. Ola nickte, noch immer sprachlos. Jan drehte die Glühbirne zurück in die Fassung und widmete sich im Licht der geretteten Birne wieder dem Fernsehprogramm, welches den ganzen Abend schon über Veras Werk berichtete, das von offizieller Seite als „hinterhältiger, aber wirkungsloser Giftanschlag auf die Bovniker Bevölkerung und ihre Anführer“ bezeichnet wurde. Die Moderatoren und die Regierung riefen zur Mitwirkung bei der „Jagd auf die feigen Terroristen“ auf. (Über eine überzogene Darstellung ihrer gewaltlosen Aktionen und die möglichen Auswirkungen auf das Verhalten der Regierung gegenüber AR würde Vera noch einmal mit Mikos zu reden haben, dachte sie.) Es roch nach verbrannter Haut. Das Kind klatschte vor Begeisterung in die Hände. Und wieder staunte die Familie. Zum ersten Mal tat es etwas anderes als dasitzen, essen oder trinken, seit es vor Wochen einfach hereinspaziert und, weil es so hungrig ausgesehen hatte, zum Abendessen eingeladen worden war, worauf es seitdem jeden Abend erschien und nach dem Essen wieder ging. Es lächelte zwar nicht – das wäre den Kiljans geradezu als Wunder vorgekommen, denn es hatte noch niemals gelächelt – aber es applaudierte. Nachdem es applaudiert hatte, saß es wieder so still da wie sonst. Es saß da, auf seinem Stuhl vor der Tischtennisplatte, die das Einschussloch der Granate aus Zeiten der alten Kriegführung nur teilweise verschloss, und hinter der die Sonne auf den Horizont aus Wohnblöcken wie diesem hinabzusinken begann.