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Er wählte, den Weisungen des Zufalls folgend, eine Nebengasse aus, deren hellerer Schein ihn anzog.
Ganz still war es nun in dem Viertel. Nur das stotternde Brummen einzelner Stromaggregate unterbrach den Widerhall der Nacht. Die Bewohner der Häuser hatten ihre Fenster allesamt verschlossen. Sie schützten sich, so gut es ging, vor dem Sand und der Hitze, die schon seit Jahren im beständigen Wandel der Klimazonen auch die Nächte beherrschten.
Durch einzelne Glasscheiben fiel Licht auf die Pflastersteine. Helle Rauten breiteten sich als schräges Muster vor ihm aus. Er folgte den Lichtstellen, trat mit seinen Schritten hinein, empfand immer mehr Freude dabei und hüpfte bald, verspielt wie ein Kind, über das Schachbrett der abendlichen Stunde.
Es erinnerte ihn an seine Eltern, an gemeinsame Abende in der Jugendzeit, als sie am offenen Kamin über einem Brettspiel um die Wette geeifert, miteinander gelacht und sich unterhalten hatten.
Dann fiel ihm seine Geliebte ein, eine junge dunkelhaarige Frau, mit der er so gern seine Nächte verbrachte, die ihm nun jedoch seltsam fern und wie entfremdet schien.
An die Freunde dachte er, den nächsten, vertrauten Kreis seiner Weggefährten. Je länger seine Reise angedauert hatte, desto schwerer war es ihm gefallen, ihre Ströme und inneren Bewegungen im großen, kosmischen Feld nachzuvollziehen. Umso mehr freute er sich auf das Wiedersehen mit den geliebten Menschen. Vor allem, da ihn jetzt nur noch wenige Tage von seiner Inselfamilie trennen sollten. Allerdings hatten die Erinnerungen die kurze ausgelassene Stimmung gedämpft. Er empfand einen Anflug von Einsamkeit. Gedankenverloren schritt er weiter durch eine der Gassen, die nun in einen nächsten, um vieles kleineren Platz mündete.
Sein Blick fiel auf einen vierschrötigen Mann, der eben erst seinen Marktstand mit Holzplanken sicherte. Es handelte sich wohl um einen der Bauern aus den umliegenden Landstrichen, von denen ihm auch am großen Platz einige begegnet waren. Dieser hier hatte scheinbar besonders lange ausgeharrt, um seine exotischen Früchte und Getreidewaren anzubringen.
Der junge Mann wollte seinen Weg eben im Schatten der angrenzenden Häuserfronten fortsetzen, als plötzlich ein seltenes Leuchten hinter dem Laden aufflackerte.
Er sah genauer hin und erkannte im dämmrigen Licht einer Gaslaterne ein Mädchen, das hinter der Rückwand zum Vorschein gekommen war. Ihre Energie strahlte aus sich heraus quer über den Platz. So ein Feld war ihm lange nicht begegnet. Er hielt inne und beobachte die Kleine.
Ihr verschlissenes Kleidchen flatterte im Wind. Sie mied das Licht, hielt sich versteckt und spähte mit großen Augen verstohlen um sich.
Eine ganze Weile beobachtete sie gespannt den Bauern, wie er noch einige Steigen seiner Waren in das Heck eines verbeulten Kombis verlud. Dann, als sie glaubte, seine Abläufe einschätzen zu können, trat sie auf Zehenspitzen hervor, griff mit beiden Händen in den noch offenen Laden, entnahm ihm so viele Paradiesäpfel, wie sie in Armen und Händen tragen konnte, und wollte ebenso schnell wieder verschwinden. Plötzlich erschien der Mann auf der anderen Seite des Holzverschlags. Er baute sich direkt vor ihr auf. Sie hatte sich getäuscht, er hatte sie schon lange bemerkt. Ausdruckslos blickte er sie an, holte mit seiner Pranke aus und schlug ihr ins Gesicht.
Das Mädchen flog ein paar Meter nach hinten, mit ihr die roten Äpfel, die auf ihrer Flugbahn einen Streifen des Laternenlichts querten und seltsam in der Luft tanzten, als hätte jemand mit ihnen jongliert. Der Kopf des Mädchens schlug hart auf dem Steinsockel eines Brunnens auf. Ein scharfes Knacken schoss über den Platz. Ihr Schädel war gebrochen. Sie blieb regungslos liegen. Die Äpfel kullerten noch hinterher und sammelten sich, als würden sie zu ihr wollen, nahe an dem verkrümmten Körper.
Dann war es still.
Der Bauer starrte auf die Kleine. Sekunden vergingen. Wie in Zeitlupe stapfte er schließlich auf sie zu, beugte sich hinunter, wollte sie berühren, hielt jedoch, als ihm bewusst wurde, was er angerichtet hatte, in der Bewegung inne. Er sank lautlos auf die Knie, stürzte seinen Kopf in die Hände und ein heftiges Schluchzen, einem Aufschrei gleich, schüttelte den groben Körper. Im nächsten Moment riss er seinen Kopf hoch, jagte mit den Blicken über den Platz, taumelte rückwärts, raffte hastig noch übrige Waren zusammen, sprang in den Wagen und raste mit jähem Aufheulen des Motors davon. Die roten Bremslichter warfen einen letzten Schein auf den Platz, als er um die Ecke der nächsten Gasse bog und verschwand. Das Brummen des Motors verklang immer leiser hallend in den Häuserschluchten.
Im spärlichen Laternenlicht lag der Platz nun wieder friedlich da. Das Kleid des Mädchens flatterte immer noch im Wind.
Langsam löste sich der junge Mann aus dem Schock, der ihn seit dem Sturz der Kleinen hatte erstarren lassen. Er lief, wozu er minutenlang nicht in der Lage war, zu ihr.
An ihrer Seite angelangt, kniete er sich hin, tastete mit den Fingern am zarten Hals nach dem Puls. Ganz schwach nahm er die feine, unregelmäßige Wölbung ihrer Haut unter seinen Fingerkuppen wahr. Sie lebte noch.
Er setzte sich neben sie, nahm ihren Körper hoch. Sie wog nicht mehr als ein Vogel. Behutsam zog er sie ganz dicht an sich, umhüllte sie mit seinen Armen und barg sie für diesen letzten Moment ihres Lebens in seiner Wärme. Mit der ganzen Kraft des Herzens griff er in seinem Inneren nach der großen Liebe, zu der er fähig war wie kaum jemand sonst. Und er schenkte sie ihr. Ließ sie einströmen in sie und wiegte sie, sacht, wie ein blühender Baum ein Kind wiegt, wenn es hoch in seiner Krone sitzt im Sommerwind.
Ein letztes Mal schlug sie ihre schon trüben Augen auf und blickte ihn an. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie flüsterte etwas. Er neigte sein Ohr an ihre Lippen.
„Für meine Mutter. Äpfel aus Paradies. Sie krank. Braucht. Bringst du? Mutter. Bitte. Bitte.“ Im letzten Ausatmen verklang ihr Flüstern. Ihre Augen schlossen sich und ihr Herz verstummte.
Der junge Mann, der das Unsterbliche schon oft mit eigenen Augen gesehen hatte, blickte nun der sich lösenden Seele nach, die langsam dem Körper entwich. Staunend sah sie zu ihm herab und er erzählte ihr, mit einem einzigen Gedanken, von der Ewigkeit und den liebevollen Geistern ihrer Vorfahren, die sie erwarten würden. Schon erschien der helle Schimmer des Tores hinter ihr, das sich immer öffnet, wenn ein Mensch geht, und der sie nun umstrahlte und wie Flügel um ihre Schultern leuchtete.
Dorthin wurde sie nun gehoben, ganz sacht, wie ein Blatt im Wind vom Baum bricht und nach oben getragen wird, wenn das Leben entschieden hat, ihm, bevor es fällt, noch einmal die Weite und Schönheit der Welt zu zeigen.
Der junge Mann löste seine Umarmung und legte den leblosen Körper auf die Pflastersteine. Während das Blut aus ihrem Schädel sich mit dem Rot der Äpfel vermischte, ging er langsam seines Weges. Er blickte nicht zurück.
Ihren letzten Wunsch würde er nicht erfüllen können. Die Genesung ihrer Mutter musste er dem Schicksal überlassen. Für die Kleine war das aber auch nicht von Belang. Jetzt nicht mehr.
Nachdem er den Platz verlassen hatte, schälte sich langsam ein Schatten aus dem Dunkel einer Häuserfront. Eine junge Frau wurde sichtbar. Sie hatte die letzen Augenblicke mitverfolgt, nachdem sie bei einem nächtlichen Spaziergang wie zufällig auf den Platz gestoßen war. Sie wischte sich Tränen aus dem Gesicht, fuhr sich zitternd durch die blonden Haare und ging einige Schritte auf den kleinen, toten Körper zu. Entsetzt wandte sie sich ab.
Dann sah sie dem jungen Mann hinterher, der wie ein schwarzer Engel in der Nacht verschwunden war.
4
Es muss doch irgendwo … Claire wühlte in den Schubladen ihrer Kommode. Nachdem sie alle durchsucht hatte, gab sie es auf. Sie stand nackt vor dem Spiegel, der über der Kommode hing, sah hinein, zog die Augenbrauen hoch, drehte ihren Kopf nach rechts und nach links, blickte auf ihren neuen struppigen Kurzhaarschnitt, der sich nur schwer würde bändigen lassen, und schüttelte den Kopf.
Sie war knapp dran. In zwanzig Minuten sollte sie in der Redaktion sein.
Wo könnte noch einer …? Die kleine Reisetasche fiel ihr ein, die sie für die Nächte bei Jerome immer griffbereit im Vorzimmer stehen hatte. Letztens hatte sie zwei, drei Slips mit einem Griff hineingestopft. Sie hastete in den Flur, nahm die Tasche vom Boden vor der Garderobe hoch und wühlte darin weiter. Ha! Grinsend hielt sie einen weißen, spitzenbesetzten Slip in die Höhe wie eine Trophäe. Sie zog ihn an und dachte kurz nach. Auf einen BH musste sie notgedrungen wohl auch an diesem Morgen verzichten. Irgendwann, sehr bald, war dringend ein Waschtag angesagt.
Im kleinen Schlafzimmer ihrer Zweizimmerwohnung in Rive Gauche, dem fünften Pariser Arrondissement, zwängte sie sich in den engen beigefarbenen Rock, den sie am Vorabend in weiser Voraussicht nicht in eine Ecke geworfen hatte. Dazu passend nahm sie ihre letzte gebügelte weiße Bluse aus dem Schrank.
Jerome mochte diese Kombination, vor allem wenn sie in seinem Chefbüro, mit den zum Redaktionsgroßraum offenen Glasscheiben, eine Besprechung hatten. Rock und Bluse, meinte er, wirkten zwar ausreichend sexy, aber auch seriös genug, um den kursierenden Gerüchten über ihre heimliche Liaison nicht noch mehr Zündstoff zu geben.
Doch eigentlich war es ihr heute egal. Im Gegenteil. Sollte er nur einen mittleren Kollaps erleiden, nachdem er ihren Artikel wieder gekürzt und auf Seite zwölf verbannt hatte. Bouvier, der widerliche Redakteur, dem die Endkorrektur der Texte oblag, hatte dann zu allem Überfluss auch noch den fehlenden Buchstaben in ihrem Namen übersehen und so hieß die Urheberin ihres Artikels in der heutigen Ausgabe von „Le Monde“ Cladel statt Claudel. Es war der Mädchenname ihrer Mutter, den sie, schon von Beginn ihrer Journalistenlaufbahn an, als Pseudonym benutzte. So blieb sie, in gewissem Sinn, mit ihr verbunden und schaffte zugleich Distanz zu ihrem Vater.
Seufzend blickte sie kurz zur Seine, die sie, durch einen Spalt zwischen zwei Häusern der ersten Uferreihe, sehen konnte. Tiefe Wolken hingen über dem Fluss und zogen mit ihm durch die Stadt. Am liebsten würde sie den Rest des Vormittags blau machen, sich in eines der Künstlercafés im Viertel setzen, mit der Hand ihren nächsten Artikel schreiben und von den Touristen angestarrt werden, als wäre sie eine der jungen linken Schriftstellerinnen, die sich in Flugblättern und alternativen Zeitschriften immer radikaler zu Wort meldeten.
Sie zog den Rock wieder aus, knöpfte die Bluse auf und sah sich nach etwas anderem Brauchbaren um. Große Auswahl blieb ihr nicht.
Vor allem, weil sie mit Jerome nicht nur über den heutigen Artikel streiten musste, sondern ihn gleichzeitig dazu bewegen wollte, ihr die geplante Recherchereise nach Rom zu genehmigen. Also musste sie taktisch vorgehen. Am besten, ihm zuerst wegen der Kürzungen und Seite zwölf ein schlechtes Gewissen machen, dabei zugleich verführerisch und abweisend genug sein, dass er Angst bekommt, auch die folgende Nacht ohne mich verbringen zu müssen, und ihm dann im richtigen Moment die Zusage für die Romreise entlocken.
Also doch der Rock und die Bluse. Sie zog beides wieder an. Ihr Café au Lait am Küchentisch war mittlerweile kalt. Das hasste sie. Sogar an einem perfekten Morgen hätte schaler Kaffee ihr die Laune verdorben. Sie ließ ihn einfach stehen, packte ihr Neopad in die lachsfarbene David-Jones-Tasche und stand ungeschminkt mit zerzausten Haaren vor der Eingangstür. Das geht so nicht. Doch. Tut es. Anders schaue ich am Morgen, wenn ich neben ihm aufwache, auch nicht aus. Gerade verrucht genug, um ihn auf die richtigen Gedanken zu bringen.
Sie stieg in die eleganten Stöckelschuhe und lief die drei Stockwerke nach unten. Vor der Haustür schlugen ihr der Wind und die feuchtwarme Luft entgegen. Es würde Regen geben. Keinen Schirm dabei. Wird schon aushalten. Eigentlich wollte sie nur die wenigen Meter zum nächsten Taxistandplatz laufen. Doch es war einer jener neuen, autofreien Tage in Paris. Mittlerweile durften Fahrzeuge, egal, ob mit Benzin- oder Elektromotoren, nur noch an jedem zweiten Tag unterwegs sein. Das hatte sie vergessen. Also musste sie wohl oder übel den zehnminütigen Fußweg zur nächsten U-Bahnstation auf sich nehmen. Sie würde sich um einiges verspäten, streifte darum die Stöckelschuhe wieder ab, stopfte sie in die Tasche und rannte barfuß los. So konnte sie wenigstens ein paar Minuten aufholen und die schmutzigen Fußsohlen würde ohnehin niemand bemerken. Aber ihr würde es Spaß machen, dass zumindest etwas ihrem wahren Wesen und so gar nicht den neuerlich erstarkten Rollenklischees der besseren Pariser Gesellschaft entsprach.
5
„Mon amour!“ Jerome sprang vom Ledersofa auf und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. „Toll!
Diese neue Frisur! Was ist das für eine Farbe?“
„Blond, Jerome. Es ist einfach nur blond. Wie du mich gern hast.“ Ihr schnippischer Tonfall war nicht zu überhören.
„Aber es hat einen silbrigen Stich, nein?“, flötete er weiter, während er ihr durchs Haar fuhr und sie an sich zog.
„Ja, hat es. Meine Friseurin …“ Er küsste sie auf den Mund.
Gott, fühlt sich das gut an. Warum ist der nur so charmant? Und gut aussehend? Und warum lasse ich mich auf ein Gespräch über meine Haare ein? Und warum küsst er mich vor den offenen Glasscheiben und hört gar nicht mehr auf? Das geht in die völlig falsche Richtung.
„Jerome“, sie schob ihn etwas von sich, „was ist denn los mit dir? Das stört dich doch sonst immer, wenn die ganze Belegschaft uns beobachtet.“
„Es wird Zeit, dass wir das ändern. Diese Heimlichtuerei geht mir auf die Nerven.“
Das geht entschieden in die falsche Richtung.
„Ach ja? Tut sie das?“
„Das hast du dir doch immer gewünscht, meine Kleine, nein? Also machen wir es offiziell. Nächste Woche, was meinst du? Am Abend der Charity-Gala für die Libyer. Vor der ganzen Pariser Gesellschaft.“ Er strahlte sie an.
Meine Kleine. Wie sie diese Anrede hasste. Sie rang sich ein Lächeln ab.
„Aber lass uns das in Ruhe besprechen“, er war auf dem Weg zum Sofa. „Heute Abend. Bei mir. Um neun. Oui, mon chérie?“ Er nahm sein Pad zur Hand, tippte darauf und aus der gegenüberliegenden Wand wurde ein einziger, die Fläche deckender Screen. Offensichtlich hatte er nicht vor, das Gespräch fortzusetzen.
„Sonst noch was auf dem Herzen?“, fragte er, ohne sie anzusehen.
Er will es öffentlich machen. Ja, das hatte sie sich gewünscht. Aber schon lange aufgegeben zu glauben, dass es wahr werden könnte. Warum gerade jetzt? Geht sein schlechtes Gewissen so weit? Oder spürte er irgendwo, unter den Schalen seiner Perfektion, dass sie sich mit leisen Schritten mehr und mehr von ihm distanzierte?
„Jerome“, plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie an einem Wendepunkt in ihrem Leben stand. Irgendwie fühlte sie das jetzt ganz deutlich. „Die nächsten Wochen wollte ich in Rom sein und recherchieren. Hast du das vergessen?“
„Aber das lässt sich doch verschieben, nicht wahr? Die laufen dir doch nicht weg, deine Rebellen.“ Er bezog sich auf ihre Kolumne. Eine weitere kleine Spitze, die einmal mehr zum Ausdruck brachte, was er in Wahrheit von ihrer Arbeit hielt.
„Aber es ist mir wichtig. Das weißt du.“
„Und ich bin dir nicht wichtig?“
„Doch, natürlich.“ Etwas drängte jetzt in ihr. „Aber dabei geht es nicht um dich. Ich muss das für mich tun. Und für die Welt. Le Monde. Worum geht es denn hier?“
„Das frag ich mich auch langsam.“
„Du weißt, was ich meine.“ Sie blickte ihn an. „Wenn eine Institution wie Le Monde dem humanitären Auftrag nicht mehr nachkommt, dann bleibt nichts über, gar nichts, an dem sich eine geschundene Gesellschaft wieder aufrichten kann.“ Sie wandte sich ab. „Ich verstehe nicht, warum wir immer wieder darüber diskutieren müssen. Wie kannst du den Vorgaben der Eigner so widerspruchslos folgen?“ Aufs Neue hatte sie, im Gespräch mit ihm, eine Traurigkeit eingeholt, die sie in den letzten Monaten immer öfter gespürt hatte. Prompt kam ihr das Konfliktthema Nummer eins in den Sinn. Kein allzu gutes Argument, aber es passt. „Zum Glück willst du keine Kinder. Mir fällt es auch mit jedem Tag schwerer, mir vorzustellen, noch welche in die Welt zu setzen.“ Es wurde sehr still in dem ausladenden Büro. „Wir müssen etwas beitragen, Jerome, und an der Zukunft bauen. Hör wenigstens auf die Leser. Die lieben meine Kolumne.“
„Nur weil du diesen“, er fühlte sich in die Ecke gedrängt, „diesen Preis“, beinahe wollte er ‚lächerlichen’ sagen, „von ihnen bekommen hast? Was glaubst du, warum wir den überhaupt ausschreiben? Das ist Leserbindung. Nichts sonst. Außerdem“, er wurde lauter, „hättest du diesen Preis nicht gewonnen, dann hätte ich mich bei den Eignern nicht so für dich eingesetzt und es gäbe deine kleine verträumte Kolumne schon längst nicht mehr.“ Er übersah, wie sie sich mehr und mehr versteifte. „Die Rebellen der Menschlichkeit. Was für ein rührseliger Kinderkram!“ Er war zu weit gegangen.
„Du willst unsere Beziehung öffentlich machen?“
„Wechsle jetzt nicht das Thema.“
„Wir reden doch über nichts anderes. Zuerst wolltest du mit mir ins Bett, das hat nicht geklappt. Dann hast du mir diese Kolumne gegeben und ich habe mich, naiv, wie ich war, erweichen lassen und tatsächlich geglaubt, dass du an mir, an meiner Person interessiert wärst – und nicht nur an meinem Aussehen und an Sex.“ Sie ließ ihre Worte kurz stehen. „Und vor allem: dass du an mich als Journalistin glaubst.“
„Aber das tue ich doch, mon amour.“ Er kam wieder auf sie zu, versuchte sie zu beschwichtigen.
„Dann beweis es.“ Sie blickte ihm direkt in die Augen. „Lass mich nach Rom gehen. Lass mich dort recherchieren und dann gibst du mir eine Seite. Eine ganze Seite und verdammt noch mal nicht Seite zwölf!“ Sie war so klar und bestimmt, wie es ihr ihm gegenüber selten gelungen war. „Und wenn ich zurück bin, dann reden wir über alles. Über uns und wie es weitergehen soll.“
Mit der Genehmigung für die Reise saß Claire wenig später an der nordseitigen, drei Stockwerke hohen Glasfront der Großraumredaktion. Postmoderne Schalensessel waren in einer Reihe an der Wand befestigt und verstärkten den Eindruck einer Abflughalle, an die das neue Headquarter von Le Monde erinnerte.
Vor zehn Monaten, als die laufenden Kosten der erst vor wenigen Jahren errichteten Firmenzentrale im ersten Arrondissement alle Schätzungen sprengten, wurde das Prestigeobjekt schnell wieder abgestoßen und die Zeitung war in eine ehemalige Remise vor den Toren von Paris gezogen. Mittlerweile überstiegen die Renovierungskosten erneut den Plan und so geriet die Eignergruppe mehr und mehr unter Druck. Die Abteilungen für Soziales, Kultur und Bildung wurden gekürzt, die Aufmachung abermals geändert, das Marketing mit allerlei Lesereinbindung forciert und alles, was die Sensationsgier der Leute befriedigte, wurde schreiend groß auf die ersten Seiten platziert.
Claires Artikelreihe über die Rebellen der Menschlichkeit, in der sie von außerordentlichen Leistungen einzelner Ärzte, Dolmetscher, Sanitäter und Lehrer in Krisengebieten berichtete, hatte einen dementsprechend schweren Stand. Und Jerome setzte sich tatsächlich für sie ein. Wenn auch aus anderen Motiven, als ihr lieb war.
In machen Stunden hatte sie ihr perfekter Chefredakteur – der hohes Ansehen genoss und in einem Loft über der Pariser Innenstadt wohnte – auch in sein Herz blicken lassen. Die Seiten, die sie in diesen Momenten an ihm kennengelernt hatte, waren gut, tief und vor allem freundlich. Sonst hätte sie es auch, um alles in der Welt, nicht schon zwei Jahre als seine heimliche Geliebte ausgehalten.
Vor allem aber glaubte Claire an ihre Arbeit. Und das ließ sie so manchen Kompromiss eingehen und über vieles hinwegsehen. Sie wusste, dass ihr Artikel über die sozialen Fortschritte in einem der afghanischen Transitlager die Leser berührt, ihnen Hoffnung und Trost gespendet hatte. Darum war er auch zum Bericht des Jahres gewählt worden. Sie erlebte es immer wieder: Die tiefe Sehnsucht der Menschen nach Einigung, Lösung und Frieden war ungebrochen erhalten.
Trotzdem fühlte sie sich jetzt gerade ernüchtert und leer.
Sie hatte in dem Gespräch – oder sollte sie sagen: in dem Streit – mit Jerome ein falsches Spiel gespielt. Sie hatte ihn emotional erpresst und war sich gleichzeitig, ganz nebenbei, durch all sein kränkendes Verhalten klar geworden, dass sie es nicht mehr lang an seiner Seite aushalten würde. Es fühlte sich schmutzig an.
Zwischen den Glasflächen, auf die TV-Berichte, Börsenkurse und allerlei Datenkolonnen projiziert wurden, gaben vereinzelte matte Stellen den Blick auf den Himmel frei.
Es hatte wieder zu regnen begonnen und der Smog zog in grauen Nebelfetzen über die Stadt, wie schon seit Monaten.
Auch der Blick in das Innere des Hallenbüros machte wenig Mut. Redakteure jagten gestresst über Bodenlaufbänder, tippten nervös auf ihre Pads und diktierten in gedämpftem Tonfall Berichte über immer neue ökologische Katastrophen, den weltweiten Kampf gegen den Terror oder menschliche Dramen, die sich irgendwo an meterhohen Grenzzäunen zwischen Sicherheitstrupps und flüchtenden Massen ereignet hatten.
Es war nicht zu leugnen: Die Welt stand sozial und ökologisch am Abgrund. Mit ihr Le Monde und die Freiheit. Doch nicht nur die der Presse, sondern die jedes einzelnen Menschen.
Claire öffnete eine App und verband sich mit der Onlinereservierung des Reiseunternehmens, das zur Firmengruppe gehörte. Auf der Plattform fand sich wie üblich alles, was sie brauchte. Sie gab die Rahmenzeiten für eine sichere Flugverbindung ein, markierte die Parameter zur gewünschten Unterkunft und nach wenigen Minuten waren die Buchungen erledigt.
Schon am nächsten Abend sollte sie zumindest der Pariser Tristesse entflohen sein. Was auch immer in der Ewigen Stadt auf sie warten mochte, konnte nicht schlimmer sein als das Elend, das ihr hier auf den Straßen täglich begegnete.
Sie wollte den Berichten aus Rom nachgehen. In einem nordöstlich gelegenen Viertel der Stadt, nahe der Piazza del Popolo, sollte eine neue, intakte Völkergemeinschaft entstanden sein. Dorthin führte sie ihr Weg, um jene Menschen zu interviewen, die für den Wiederaufbau verantwortlich waren.
Vor ihrer Abreise hatte sie noch einiges zu erledigen. Der Berg von Wäsche auf ihrem Badezimmerboden war dabei das geringste Problem. Vor allem musste sie sich bei ihrem Vater verabschieden, den sie aus guten Gründen schon zwei Wochen vermieden hatte zu kontaktieren. In den letzten Tagen waren seine Nachrichten aber immer fordernder geworden und so sorgte sie sich, trotz allem, um seine Gesundheit und seinen Gemütszustand.
Sie zog das Headset aus ihrem Neopad und aktivierte einen Videocall.
Wie üblich blieb die visuelle Übertragung einseitig, da ihr Vater das Bild blockierte. Seine Stimme klang erschöpfter als sonst und obwohl er sich über ihren Anruf zu freuen schien, spürte sie, dass seine Gedanken bei anderen Themen blieben. Claire hakte nicht nach, sprach ruhig in ihr Pad und vereinbarte einen Besuch am Abend in der Villa, in der sie bei ihm aufgewachsen war.
Nach dem Telefonat öffnete sie ihren Newsground-Account. Das neue Social-Media-Netzwerk verzeichnete geradezu explodierende Userzahlen. Die Menschen zogen sich mehr und mehr in virtuelle Welten zurück. Viele Reiche hatten die Städte verlassen, um in abgeschotteten Arealen, umgeben von hohen Zäunen, zu leben. Städter setzten oft tagelang keinen Fuß vor ihre Wohnungen. Es lag auf der Hand, dass diese Netzwerke dadurch zu den wichtigsten Kontaktforen für Familien oder andere soziale Verbände zählten und die wichtigste Einkaufsquelle darstellten. Newsground war die neue Nummer eins. Vor allem, weil es sich in Sachen Datenschutz und Ethik höchsten Maßstäben verpflichtet zeigte und dieses Versprechen an seine User bislang auch hatte halten können.
Sie loggte sich auf ihrer Journalseite ein, überflog die neuesten Letters und stellte ihre News ins Netz. Sie erzählte in wenigen Worten von der bevorstehenden Reise, von ihrer Hoffnung, auch aus Rom über herausragende Leistungen der Menschlichkeit berichten zu können, und verabschiedete sich für die nächsten Wochen von ihren treuen Lesern wie üblich mit den Worten: Le Monde c’est à ceux, qu’espèrent – die Welt gehört denen, die hoffen.
Danach machte sie sich auf den Weg. Sie sah noch einmal über die Halle und für einen Moment war ihr, als würde sie zum letzten Mal den Blick über die lose befreundeten Redakteure, Journalisten und endlosen Reihen von Schreibtischen schweifen lassen. Sie schüttelte den Gedanken ab, trat aus dem ziegelroten Backsteingebäude und stand im Regen.