Kitabı oku: «Share», sayfa 4
Claire wollte auf das Lesen der Energiefelder eingehen, doch blieb sie an seinen letzten Worten hängen:
„Ist Liebe denn eine Gabe?“
„Nicht im eigentlichen Sinn. Doch manche Menschen tragen sie in sich, wie ein mächtiges Kraftwerk, das bei der Geburt seinen Dienst aufnimmt und sie unablässig damit versorgt, ganz egal, was das Leben für sie bereithält. Und in anderen strömt sie von Beginn an als schmaler Fluss, der aus einer schwachen Quelle gespeist wird. Es kommt auf das Feld an, das sich mit jedem Neugeborenen verdichtet, wonach es sucht, was es mitbringt, was es zu erschaffen hat. “
„Das klingt alles so unwirklich. Seeker, die Energiefelder anderer Menschen lesen. Berufe und Aufgaben, die man angelegten Gaben nach erfüllt. Felder, die sich verdichten. Als wäre es real, als hättet ihr all das tatsächlich durchschaut?!“
Ihre Verunsicherung war nicht zu übersehen und Ajan fragte sich kurz, wie weit ihre Furcht gehen würde. Daran entschied sich nicht selten, ob mögliche Kandidaten zu einem Leben auf Share bereit wären. Er musste abwarten und verfolgen, wohin ihre nächsten Schritte sie führen würden. Doch dabei durfte er sie nicht beeinflussen. Auch wenn er sich insgeheim wünschte, Claire würde sich am besten schon morgen dafür entscheiden, ihn zu begleiten.
„Für die jungen Sharer war es immer ganz real“, bemühte er sich um eine sachliche Erklärung. „Wir erlernen die menschlichen Fertigkeiten von Kindheit an und vor jedem anderen Wissen: zum Beispiel unsere Gefühle zu steuern – das Drüsen, wie wir es nennen –, oder die Sprache des Körpers, die vielen Wesenszüge des Charakters, dann geistige Fähigkeiten, Techniken, um uns zu fokussieren, zu lernen oder schöpferisch tätig zu sein, unsere Stimme zu stärken und sie gekonnt zu benutzen, uns in vielen Sprachen auszudrücken, Gespräche zu führen oder Reden zu halten. Und später dann noch eine Reihe anderer, höherer Fähigkeiten, die mit dem Seelen einhergehen, wie Gedanken oder Gefühle lesen oder hellsichtig sein. Erst ab dem zehnten Lebensjahr wird der Lehrplan durch einzelne Wissensfächer ergänzt. Die Grundfertigkeiten des Schreibens, Lesens und Rechnens werden natürlich auch von Kindheit an geschult, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt und werden eher nebenbei, als Selbstverständlichkeit, absolviert. Bis zum zwölften Lebensjahr hat jeder unserer jungen Sharer ausreichend Zeit gefunden, um seine Interessen, Anlagen und Begabungen dadurch genau kennenzulernen. Mit all dem wachsen wir auf.“ Er überlegte kurz und sagte dann abschließend: „Für uns ist es nicht anders, als ein Brot zu brechen oder einen Stein aufzuheben.“
Claire konnte nicht umhin: Dieser Mann wurde ihr mit jedem Wort unheimlicher. Zugleich jedoch fühlte sie sich auch immer stärker zu ihm hingezogen.
Das junge Paar, das an einem der Tische hinter ihnen gesessen war, hatte sich mittlerweile schon lange auf den Weg gemacht. Die Kellner räumten die Tische ab, begannen sie an der Wand vor dem Lokal zu stapeln und die Stühle mit Ketten zu sichern. Einer der Kellner brachte die Rechnung zu ihnen an den Tisch und während Ajan diese beglich – nicht ohne zuvor Claires Zustimmung eingeholt zu haben –, spürte sie einen Moment ihren Empfindungen nach. Sie nahm eine gewisse Erleichterung wahr, dass ihr Gespräch sich nun langsam doch dem Ende zuneigen würde. Sie brauchte Zeit, um all das zu verdauen. Auch wenn sie fühlte, dass sie nicht gern von Ajans Seite weichen wollte.
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie unsicher.
„Das hängt ganz von dir ab.“
„Nur von mir? Interessiert es dich denn nicht?“ Ich mache mir zu viele Hoffnungen.
Ajan musste achtgeben, sie nicht weiter am zarten Band der Liebe, das sich zwischen ihnen gesponnen hatte, an sich zu ziehen oder gar zu binden. Nur aus der Anbindung an das eigene Feld, das jenseits von Sehnsüchten, Wünschen und Hoffnungen lag, konnte man erkennen, welcher der möglichen, nächsten Schritte der richtige war. Er durfte jetzt keinen Fehler machen, musste abweisender sein, als ihm lieb war.
„Es liegt allein bei dir, da es um dein Leben geht. Solltest du erwägen, mich auf die Insel zu begleiten, zieht das viele Konsequenzen nach sich. Wer auch immer Zeit in der Kolonie verbringt, will nicht mehr von dort weg. Und man muss sich zur Geheimhaltung verpflichten, um unsere Gemeinschaft nach besten Kräften zu schützen. Es würde dein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Und das darf nicht davon abhängen, ob auch ich mir wünsche, dass du an meiner Seite gehst.“
„Tust du es denn?“
Er blickte sie unverwandt an und schwieg.
Etwas resigniert sagte sie:
„Das geht mir alles viel zu schnell.“
„Das verstehe ich. Darum trennen wir uns jetzt.“ Claire wollte widersprechen, doch er setzte nach: „Und du musst ohnehin noch die letzte Prüfung bestehen.“
„Was heißt das nun wieder? Hast du mich denn geprüft? Wenn ja, ist mir nichts davon aufgefallen.“ Sie sah ihn beinah erschrocken an. „War denn unser ganzes Gespräch nur eine Prüfung?“ Sie fühlte sich gekränkt.
„Ja und nein. Darüber musst du dir selbst klar werden. Wie auch immer, ich muss jetzt gehen.“ Er hatte sich schon erhoben, war zwei Schritte auf die Straße getreten und blickte nun zögernd in den Himmel. Ohne sie anzusehen, sagte er:
„Bis morgen Abend werden drei Zufälle dir den Weg weisen und deine Entscheidung beeinflussen. Der dritte davon wird sein, dass wir beide uns irgendwo in der Stadt wieder begegnen.“
„Drei Zufälle?“
Er wandte sich ihr zu. „Zeichen, Fügungen, synchrone Ereignisse des Schicksals, nenn es, wie du willst.“
„Und weiter?“
„Nichts weiter. Bis dahin wirst du alles wissen. Und vor allem, ob du mich tatsächlich begleiten willst. In ein neues Leben.“ Er kam etwas näher, hob ein wenig die Hand, als wollte er ihr über die Wange streichen, unterließ es aber, lächelte kurz und verschwand mit zügigen Schritten in der Nacht.
Claire konnte sich lange kaum rühren. Seltsam verzaubert saß sie auf ihrem Sessel und blickte zu den Sternen hoch.
Einer der Kellner hatte ihr, bevor er die letzten Lichter gelöscht hatte, gedeutet, dass sie noch eine Weile bleiben könnte. Dann war auch er verschwunden.
Nun war sie ganz allein in der dunklen Straße, mitten in der fremden Stadt, die, den Worten ihres Vaters nach, zu den gefährlichsten Krisenherden der Welt zählte.
Paris schien ihr weiter entfernt denn je, die Gespräche am Vortag, mit den beiden Männern in ihrem Leben, eine Ewigkeit her.
Sie spürte dem lauen Wind nach, der durch die Nacht zog und an Ajans Stelle über ihre Wangen strich.
Sie wartete. Darauf, dass ihr Verstand Alarm schlug oder sich Angst einstellen würde.
Doch das geschah nicht. Obwohl sie nichts von all dem, womit das Schicksal sie an diesem Abend konfrontiert hatte, zuordnen konnte – angefangen beim Tod des Mädchens bis hin zu Ajans drei Zufällen – hatte in ihrem Inneren eine stille Gewissheit begonnen, Form anzunehmen. Ihr war, als wäre sie zum ersten Mal in ihrem Leben an einem Punkt angelangt, der ihrer Bestimmung entsprach.
Und die kritische Journalistin in ihr schwieg dazu ebenso wie ihr Herz, das ihr, wider jede Vernunft, an einen fremden, unheimlichen Mann verloren schien.
Claire holte ihr Neopad aus einer der Westentaschen, schaltete es ein und hoffte, dass es sich in das hiesige Netz einloggen würde. Die meisten Sendemasten im Stadtgebiet, so hatte sie an der Rezeption ihres Hotels erfahren, waren ausgefallen. Nur an wenigen Stellen bekam man eine Verbindung. Sie hatte Glück, überflog die eingegangenen Nachrichten – darunter eine ihres Vaters, voll von Vorwürfen und übertriebenen Sorgen sowie eine weitere von Jerome, die sich nicht wesentlich von der des Vaters unterschied –, öffnete die Navigations-App und gab die Adresse ihres Hotels ein.
In ihrem Zimmer angekommen, suchte sie im Netz noch nach Share, doch fanden sich tatsächlich keinerlei Hinweise oder Berichte über eine Insel im Atlantik mit diesem Namen. Zu erschöpft, um die Nachrichten der beiden Männer zu beantworten, wusch sie sich in dem engen Bad, verzichtete darauf, die Dusche hinter dem Plastikvorhang zu testen, tapste über die Marmorfließen bis zum antiken Himmelbett und schlief, begleitet vom leisen Rasseln alter Federkerne, schnell ein.
9
Claire schreckte aus dem Schlaf. Jemand war an der Tür. Sie blinzelte in die Richtung und wurde vom grellen Morgenlicht geblendet. Die brüchigen Vorhänge konnten es nicht aufhalten. Sie rieb sich die Augen und entdeckte am Fußboden ein vergilbtes Kuvert mit ihrem Namen darauf. Jemand musste es unter der Tür durchgeschoben haben. Nach den wenigen Stunden unruhigen Schlafes zerrte die Müdigkeit noch an ihren Gliedern. Sie streckte sich, ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und spähte in den leeren Flur. Sie nahm das Kuvert hoch und fand eine Skizze mit einem Brief darin:
Verehrte Claire Claudel!
Verzeihen Sie, dass ich mir erlaube, Ihnen diese Zeilen zu übermitteln.
Ich verfolge seit Langem Ihre „Rebellen der Menschlichkeit“. Sie haben mir, und vielen anderen aus unserer Gemeinschaft, stets Mut gemacht und unsere Hoffnungen genährt.
Ihrem letzten Post auf Newsground war zu entnehmen, dass Sie Ihr Weg nach Rom führen würde. Nun ist es uns gelungen, Sie über die Security-Files der Hotelmeldungen ausfindig zu machen. Bitte verzeihen Sie noch einmal!
Ich möchte Sie einladen, uns zu besuchen! Unter den Ärzten, Lehrern und Helfern unseres Teams finden sich viele außerordentlich engagierte Menschen, die es verdienten, in einem Ihrer Artikel Erwähnung zu finden – sie leisten tagtäglich wahrhaft Großes.
Anbei eine Skizze mit dem Weg zu meinem Büro und falls Sie mich dort nicht vorfinden, fragen Sie einfach nach mir.
Mit herzlichen Grüßen,
Jana Scharé
Dolmetscherin
PS: Ich darf Sie vorweg bitten, sollten Sie uns besuchen, mich selbst in Ihren Berichten jedenfalls unerwähnt zu lassen. Die Gründe dafür kann ich Ihnen gerne persönlich erläutern.
Claire überflog, nicht wenig erstaunt, noch einmal die Zeilen und warf einen Blick auf die Zeichnung mit der Wegbeschreibung. Das Büro schien ganz in der Nähe zu liegen. Der Brief musste aus jenem Viertel stammen, das sie ohnehin geplant hatte, als Erstes aufzusuchen. Sie öffnete ihr Pad und überflog die Liste mit Namen, die sie während des Fluges recherchiert hatte. Eine Jana Scharé war nicht darunter. Jana Scharé.
Plötzlich überrollten sie die Erinnerungen an den vorherigen Abend. Sie setzte sich auf die Bettkante. Der Brief wäre ihr beinahe aus der Hand geglitten. Mit einem Mal war ihr Ajan vor Augen, das sterbende Mädchen, das Straßenlokal, die Insel, wie er sie beschrieben hatte, und Seelenfelder und Prüfungen und Zufälle.
Jana Scharé. Ajan. Share. Mehr Zufall kann es ja wohl nicht geben?! Und dass sie mein Post auf Newsground erreicht hat und sie mich bereits erwarten? Gleich mehrere Zufälle auf einmal? Prüfung schon bestanden?
Doch wollte sie das überhaupt? Wollte sie Ajan wieder begegnen? Oder irgendwelche Prüfungen bestehen?
Alles, wovon sie in den letzten Stunde des Vorabends so überzeugt gewesen war, lag nun hinter einem Schleier aus Zweifeln und Ängsten.
Sie blickte erneut auf den Brief in ihrer Hand und besann sich der Aufgabe, die vor ihr lag und derethalben sie nach Rom gekommen war.
Sie stand auf, wusch sich, zog ihr Journalistenkostüm an, verstaute ihren Reiserucksack im Schrank, nahm das Neopad und machte sich auf den Weg.
Die Straße vor dem Hotel war noch menschenleer. Sie ging los und wenig später begegnete ihr ein Junge, der einen Handkarren voll bauchiger Wasserflaschen zog und sie höflich grüßte. Eine Frau schloss ein Geschäft auf und winkte. Ein alter Mann trat aus einer der Haustüren und stolperte über eine Stufe. Claire wollte ihm zu Hilfe eilen, doch er war schon wieder auf den Beinen, nahm lächelnd ihre Hand und tätschelte sie anerkennend. Die Menschen wirkten unbeschwert. Das erstaunte Claire; widersprach es doch den dramatischen Ankündigungen ihres Vaters.
Sie hielt sich weiter an die Skizze, verglich sie laufend mit den Angaben ihres Pads und bog schließlich in die Gasse zur Piazza del Popolo ein. Ohne es zu wissen, ging sie denselben Weg entlang, auf dem Ajan den Platz am Vorabend verlassen hatte.
Durch die Gasse drangen geschäftige Stimmen, die mit jedem ihrer Schritte lauter wurden. Als sie um die Ecke bog, blickte sie erstaunt auf das bunte Treiben. Bereits so früh am Morgen war der riesige Platz von Menschen übersät. Sie kauften und verkauften, feilschten, lachten miteinander und freuten sich. Überhaupt schien Freude die vorherrschende Stimmung zu sein. Vielleicht war es die Dankbarkeit, die ihre Herzen so erstarken ließ. Oder sie hatten sich entschieden, den Nöten und Ängsten des Daseins eine neue Kraft entgegenzusetzen.
Claire blickte sich um und war gerührt von so viel greifbarer Hoffnung.
Ganz in der Nähe vernahm sie ein Lachen, wandte sich dorthin und sah eine muslimische Frau mit einer Burka bekleidet, deren unverhülltes Gesicht über die Komplimente eines jungen Italieners strahlte. Gerne ließ sich Claire von ihrer Stimmung anstecken.
Gut gelaunt folgte sie weiter der Wegbeschreibung und erreichte nach wenigen Minuten die angegebene Adresse. Auf der Glasscheibe des straßenseitigen Büros stand mit breiten Pinselstrichen geschrieben: Adminstration District 4 – Jana Scharé.
Die Dolmetscherin schien demnach so etwas wie die hiesige Bürgermeisterin zu sein.
Die Eingangstür öffnete sich und eine große, strahlende Frau mit rot gelockter Mähne erschien.
„Sie sind es wirklich!“, sprach die Frau sie auf Französisch an und kam ihr mit offenen Armen entgegen. „Was für eine Freude!“ Ihre Stimme hatte einen tiefen, runden Klang. Claire war beeindruckt.
In den folgenden Stunden wurde Claire von Jana herumgeführt. Mitunter ließ die beherzte Frau ihre Hand gar nicht mehr los und Claire überkam nach kurzer Zeit das Gefühl, sie wäre ihrer lang vermissten großen Schwester begegnet.
Sie erfuhr, dass Jana sechs Sprachen fließend beherrschte, die Tochter eines hochrangigen Schweizer Diplomaten war und sie ein ähnliches Schicksal teilten: Auch Janas Vater wollte ihr Engagement in Krisengebieten mit Gewalt verhindern. Deshalb war sie bemüht, ihren genauen Aufenthaltsort, so gut es ging, zu verschleiern, und mochte darum auch keine Erwähnung in Berichterstattungen finden.
„Was mir hier an Wertschätzung und Dankbarkeit widerfährt, ist Lohn genug“, erklärte sie schlicht, während sie die Tür zum Hospital öffnete, das zugleich Waisenhaus und Armenküche für das ganze Viertel war. Kaum hatten sie die Aufnahmehalle betreten, schallte Janas Namen durch die Gänge und ein Junge kam auf sie zugestürmt. Sie ging etwas in die Hocke und der Kleine sprang ihr in die Arme.
„Darf ich vorstellen: Das ist Amid. Er ist so etwas wie mein Ziehsohn.“ Sie küsste ihn auf die Wange.
„Freut mich, Amid. Ich bin Claire.“ Sie streckte ihm eine Hand entgegen, die der Junge ohne Scheu ergriff.
„Seine Muttersprache ist Farsi. Mittlerweile ist aber auch sein Englisch schon ganz gut.“
„I speak English. My name is Amid. You are a beautiful woman“, stellte er lachend sein Können und seinen Charme unter Beweis. Claire lächelte überrascht und nickte Jana voll Anerkennung, über das offene Wesen des Kleinen zu.
„Komm, runter jetzt“, sagte Jana liebevoll zu Amid, „du weißt, du bist schon zu schwer für mich“, und erklärte zu Claire gewandt: „Er hat mich schon vor drei Jahren in den Stand einer Mutter erhoben und wir geben ein ganz gutes Team ab. Mittlerweile hilft er hier in der Küche. Er ist ein begabter kleiner Koch.“ Sie fuhr ihm durchs Haar und streifte seine dunklen Locken aus der Stirn.
„I am a good cook“, strahlte er zu Claire hoch, stellte sich zwischen die Frauen, nahm sie an den Händen und zog die beiden, ihnen voranschreitend, in die Gänge des Hospitals.
Claire lernte an diesem Vormittag so viele Ärzte, Schwestern und Pfleger kennen, dass ihr kaum Zeit für ausreichende Notizen blieb. Wem sie von all den engagierten Helfern in ihrem Bericht den Vorzug geben sollte, wusste sie beim besten Willen nicht zu sagen. Noch dazu hatte Jana über jeden eine ganze Reihe von Heldentaten zu berichten. Ihre täglichen Bemühungen galten, neben der medizinischen Versorgung, vor allem der Völkerverständigung und damit dem Frieden und der Gerechtigkeit im Distrikt.
Laut Janas Angaben hatten Menschen aus über dreißig Staaten ihre neue Heimat in den Häuserblocks um die Piazza gefunden. Zwar kam es vereinzelt noch immer zu Zusammenstößen, doch waren, nach Jahren der Bemühung, sogar zwischen ehemals radikalen Gruppen Freundschaften entstanden. Das Verbindende überwog, am Ende des Tages und an diesem Ort, scheinbar doch das Trennende.
Amid wich all die Stunden nicht mehr von ihrer Seite. Auch als Jana ihn kurz vor Mittag in die Küche schicken wollte, um seinen Dienst zu verrichten, beharrte er darauf, die beiden weiterhin zu begleiten. Claire hatte es ihm offensichtlich angetan.
Jana gab in der Küche Bescheid und so folgte Amid ihnen zu ihrem nächsten Gespräch mit einer indischen Ärztin.
„Namasté, Jana. Hello, Amid. Here again?“ Sie strahlte übers ganze Gesicht und begrüßte auch Claire mit der üblichen Verbeugung und gefalteten Händen.
„Dharia ist eine unserer Besten“, erklärte Jana auf Englisch. „Sie arbeitet von früh bis spät und war maßgeblich daran beteiligt, unser Gesundheitssystem wieder aufzubauen. Auch die neuen Vorsorgeuntersuchungen liegen in ihren erfahrenen Händen. Amid hat gestern beinah seinen Termin verpasst.“ Sie wies mit erhobenem Zeigefinger in Richtung des Jungen, der sich schuldbewusst erinnerte und etwas erwidern wollte, doch Jana sprach schon weiter:
„Die medizinische Versorgung war lange Zeit ein Problem. Nach den massiven Wellen der Flüchtlingsströme, vor fünf Jahren, kam das gesamte Sozialsystem zum Erliegen. Und mit der großen Welle, im Jahr darauf, führte das schließlich zum Kollaps. Die Seuchen griffen um sich. Eine Eindämmung schien unmöglich. Hätten sich uns damals nicht alle immigrierten Ärzte aufopfernd angeschlossen, wäre auch dieser Stadtteil bereits ausgestorben. Oder unser kleiner Distrikt gliche den Vororten der Stadt oder, noch schlimmer, dem Kolosseum, das einst als erste Anlaufstation für Tausende Emigranten gedacht war und nunmehr zum Auffanglager der Ärmsten unter den Armen verkommen ist.“ Sie blickte traurig in eine Ferne, die wohl in Richtung des Amphitheaters lag, schüttelte den Gedanken aber ab und fuhr fort: „Dharia war von der ersten Stunde an vorderster Front dabei. Ohne sie stünde ich selbst jetzt nicht hier. Mich hat damals eine schwere Infektion erwischt. Es war so schlimm, dass ich fast schon bereit war, meinen Vater einzuschalten, und das wollte ich ihm und mir wirklich nicht antun. Doch Dharia konnte mir schließlich helfen und hat mir das Leben gerettet.“
„Du übertreibst“, sagte Dharia höflich, „mit deinem Lebenswillen und deiner Kraft hättest du noch viel Schlimmeres überlebt“, und schelmisch fügte sie hinzu: „Oder wie sagt man bei euch? Wildes Kraut vergeht nicht?“ Claire stellte lachend fest, dass die Assimilierung wohl auf vielerlei Arten stattgefunden hatte.
Zum Mittagessen wurde sie in einen großen Speisesaal geführt, der bei ihrem Eintreffen bereits mit Menschen gefüllt war. An der Essensausgabe hatte sich eine Schlange von Menschen gebildet, die jedoch zügig voranschritten. Es schien alles gut organisiert und reibungslos zu funktionieren.
Jana erklärte, dass hier nicht nur ein Großteil der ansässigen Bevölkerung verköstigt wurde, sondern dass neben dem medizinischen Personal auch die Lehrer, Dolmetscher und anderen Hilfskräfte der umliegenden Verbände jeden Mittag zusammenkamen. Beim gemeinsamen Essen tauschten sie sich dann täglich über die jüngsten Vorkommnisse und Fortschritte aus. Sie wies mit dem Finger auf eine der langen Tischreihen im hinteren Bereich des Saales, an dem sich ein buntes Gemisch von Menschen unterschiedlichster Hautfarben und Mentalitäten eingefunden hatte. Sie lachten, sprachen aufeinander ein, gestikulierten, während andere in ihr Essen vertieft schienen, nur beiläufig zuhörten oder amüsiert die Diskussionen beobachteten.
Mit ihren Tellern gesellte sich die Dreiergruppe zu ihnen und nachdem Jana die allen bekannte Journalistin vorgestellt hatte, stürmten Fragen und Erzählungen auf Claire ein, dass ihr nach kürzester Zeit der Kopf schwirrte.
Nach dem Essen ging die Tour weiter. Jana führte sie zu alten Schulgebäuden, durch pittoreske Hinterhöfe und wild wuchernde Gemüsegärten, in enge Gassen mit Geschäften voll Kunsthandwerk bis hin zu einem kleinen Marktplatz.
Amid lief immer noch an Claires Seite und als sie den Platz betraten, musste sie zum wiederholten Mal über eine seiner klugen Bemerkungen lachen. Für einen Moment blieb ihr Blick dabei in seinen großen dunklen Augen gefangen. Ein Funke Glück fuhr ihr durchs Herz und ließ sie augenblicklich an Ajan denken.
Im selben Moment wurde ihr bewusst, welchen Platz sie betreten hatten. Auch wenn das Tageslicht ihn um vieles größer erscheinen ließ, gab es keinen Zweifel. Sie drehte sich suchend um und erblickte wenige Meter entfernt den verlassenen Marktstand des Bauern mit dem Brunnen davor. Der dunkle Flecken vertrockneten Blutes auf den Pflastersteinen war mit Sägemehl überdeckt worden. Je dunkler das Rot, desto mehr Blut wird vergossen. Ihr Vater war ihr mit einem Mal vor Augen, als würde er dort an der Seite des Blutes stehen und vorwurfsvoll zu Claire herübersehen.
Jana war Claires Veränderung aufgefallen und folgte ihren Blicken.
„Geht es dir gut? Du siehst aus, als wäre dir ein Gespenst begegnet!“ Jana nahm ihre Hand. „Hier ist gestern Nacht etwas Schreckliches geschehen. Ein Mädchen wurde getötet“, sagte Claire tonlos.
„Man hat mir davon erzählt. Doch woher weißt du?“
„Ich habe es gesehen. Zufällig.“
„Und auch den Täter?“
„Es war der Mann, dem dieser Stand dort gehört.“
„Bist du dir sicher?“
Claire nickte stumm.
„Warte hier. Amid, pass auf unsere Freundin auf. Ich komme bald wieder, muss mit ein paar Leuten reden.“ Jana verließ die beiden. Amid hatte Claire wieder an der Hand genommen und stand ruhig neben ihr. Er sah zu ihr hoch, sah die Tränen in ihren Augen und wurde in diesem Moment mit ihr traurig. Jana hatte er schon viele Jahre fest in sein Herz geschlossen, doch hatte es damals lange gedauert, bis er dazu bereit gewesen war. Bei Claire war es etwas anderes. Er musste keine Brücke überschreiten, um sein Herz an ihres zu binden. Sie war mit ihm und er mit ihr, vom ersten Augenblick an.
„Come. With me.“ Er nickte ihr zu und zog sie weg von dem Platz in den Eingang eines alten Hauses. Das düstere Gewölbe roch nach Schimmel und feuchter Erde. Die Temperatur fiel mit jedem Schritt, den Amid sie nun tiefer ins Innere des Gebäudes führte. Mit dem Fuß stieß er eine verfallene Holztür auf und wollte weiter über eine Steintreppe, die nach unten führte.
Claire sträubte sich, doch der Kleine ließ nicht locker, zog sie die Stufen hinab, hinein in einen engen, niedrigen Bogengang, in dem nach wenigen Schritten völlige Dunkelheit herrschte. Amid kannte das Gewölbe scheinbar wie seine Westentasche und schritt weiter voran. Ein Lichtschimmer fiel durch einen Schacht auf den staubigen Boden und erhellte auch die nächste Treppe, in die der Gang mündete. Sie stiegen noch tiefer. Claire spürte Amids Hand, tastete mit den Fußspitzen den Stufen nach und folgte ihm wie in einem Traum, dessen Bilder in Blut gefärbt waren und der ihr den Jungen plötzlich in den Armen einer ihr fremden Frau zeigte, beide über den toten Körper eines Mannes gebeugt, tränenüberströmt, geschunden, verloren. Sie versuchte, die Bilder loszuwerden, fiel auf die Knie, raffte sich auf, stolperte weiter und wäre wenige Schritte später beinah in eine, plötzlich vor ihnen auftauchende, Wasserfläche gestürzt. Doch Amid hatte schon seine Arme um ihre Taille geschlungen und hielt sie nun mit aller Kraft fest, die er aufbringen konnte.
Claire kam völlig außer Atem vornübergebeugt zum Stehen. Sie sah ihr Spiegelbild unter sich auf der ruhigen Oberfläche des hellgrün schimmernden Wassers und darunter, tief am Grund, eine alte Barke, deren gebogene, mit Tang umhüllten Rumpfhölzer im bewegten Licht sanfter Wellen ihr Gesicht umrahmten. Sie hielt inne. Neigte ihren Kopf, ganz leicht, um den Rahmen nicht zu verlassen und beinahe, als wollte sie sich einmal wieder an die Schulter ihrer Mutter lehnen. Einmal wieder. Nur einmal noch …
Sie drehte sich zu Amid um, umarmte den kleinen Körper innig und fühlte mit einem Mal, wie ganz still und ohne, dass sie hätte ahnen können, warum, das Bild sich zu wenden begann. Für einen seligen Augenblick lang war sie nun die Mutter, die das verlassene Kind umarmte.
Lange standen die beiden so. Bis sich Amid schließlich ganz vorsichtig aus der Umarmung löste und mit seiner Hand in eine Richtung wies. Claire folgte mit dem Blick seiner Aufforderung und da erst erkannte sie, wo sie sich befanden.
Ein riesiger, unterirdischer Wasserspeicher lag vor ihnen ausgebreitet. Die hohen Bogendecken über ihren Köpfen schimmerten in glänzenden Lichtwellen, die vom Wasser auf sie geworfen wurden. Hundert Meter weit schien sich die Säulenflucht der Trägermauern zu erstrecken und mündete weit vorn über diesem verwunschenen See in einen hellen Halbkreis, der, einer aufgehenden Sonne gleich, sein strahlendes Licht in den Speicher warf.
Wie verzaubert stand Claire, an Amids Hand, in der friedlichen, mächtigen Halle. Dankbar drückte sie die kleinen Finger.
Und dann flüsterte Amid ein paar Worte in die Stille hinein: „Share. With you.“
Claire stand lange, mit dem Blick auf die Sonne über dem Wasser gerichtet, und die Tränen, die über ihre Wange liefen, gehörten dem Kleinen und Ajan und einer fernen Zukunft, von der sie jedoch in diesem Moment noch nicht zu träumen gewusst hätte.
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