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6

Der Kiesweg führte von den Parklauben bis hinauf zum Portal, der in französischem Neubarock erbauten Villa. Claire nahm, da sich der Regen gerade wieder beruhigt hatte, den alten Weg, den sie in den Jahren ihrer Schulzeit täglich hochgelaufen war. Sie kam an der verwitterten Steinbank vorbei, die immer noch am selben Platz stand und sie an ihre Mutter erinnerte. Es waren die frühesten Bilder aus ihrem Erinnerungsschatz und diese trug sie mit sich, behütet wie ein besonderes Kleinod.

Mit einem Taschentuch wischte sie die Steinplatte trocken, setzte sich kurz, legte die Hände in den Schoß und neigte ihren Kopf zur Seite. Wie gern hätte sie sich jetzt an die Schulter ihrer Mutter gelehnt, die hier oft auf sie gewartet hatte. Sie war der sichere Hafen gewesen, in den das damals kleine Mädchen einlaufen konnte, nachdem es, aus dem fremden Land der beginnenden Schulzeit, mit so vielen neuen Eindrücken nach Hause gekommen war.

Doch schon in Claires zweitem Schuljahr war die Mutter gestorben.

Still und ohne Aufhebens war sie durch Gift dem Leben entflohen – und hatte damit ein klaffendes Loch in Claires Seelenleben hinterlassen, das keine noch so große Bemühung des Vaters hatte füllen können.

Zudem gab Claire ihrem Vater im Stillen nach wie vor die Schuld am Selbstmord der Mutter. So schrecklich dieses Gefühl war, das sie erst viele Jahre später, in den Wirren der Pubertät, überkam, sie konnte bis heute nicht davon ablassen – seine Affären, seine Kälte und Lieblosigkeit mussten die Mutter aus dem Leben getrieben haben.

Das lag wie ein schwarzer Schatten über ihrer Beziehung. Und da sie es, ihm gegenüber, nie ausgesprochen hatte, nahm der Vater ihre distanzierte Art mit den Jahren als persönliche Kränkung und schließlich als pure Abneigung wahr. Was ja auch stimmte. Nur aus anderen Gründen, als er vermutete.

Entsprechend angespannt war ihre Beziehung über die Zeit geblieben. Mittlerweile jedoch ließ die Wahrheit sich immer schwerer verbergen und schrie und ächzte wie ein verbitterter Geist, der zeitlebens in einem dunklen Kerker eingeschlossen war und zeternd versuchte, ans Tageslicht zu kommen.

Claire atmete tief durch und musste sich wieder einmal zu den letzten Schritten Richtung Haus zwingen. Sie kam an den beiden Wachleuten vorbei, die wie üblich zum Schutz ihres Vaters abgestellt waren, und wurde an der Tür von einer fremden Haushälterin empfangen. Es war die dritte innerhalb eines Jahres. Sie stellte sich als Lucille vor, kannte Claire, wie sie erklärte, aus Fotoalben des Vaters und nahm ihr Jacke und Tasche ab, als wäre sie ein Gast und nicht die Tochter des Hauses.

Obwohl sie die alten Holzdielen, Möbel und dunklen Wandvertäfelungen wie immer penibel gereinigt vorfand, konnte sich Claire nicht des Eindrucks erwehren, der sie in den hohen Räumen seit dem Tod der Mutter verfolgte: Sie sah einen Schleier aus trockenem Staub, der sich wie ein begleichender Ton der Verwesung über alles gelegt hatte. Schon mit sechzehn war sie deshalb aus dem alten Haus entflohen und hatte den Vater überzeugt, eine Wohnung für sie zu kaufen und sie ihrem eigenen Leben zu überlassen.

Nachdem sie nun über die breite Treppe zum Arbeitszimmer ihres Vaters hochgestiegen war, blieb sie vor seinem Zimmer kurz stehen, atmete noch einmal tief durch und öffnete die schwere Holztür. Sie fand ihn wie immer, in Arbeit vertieft, hinter dem massigen Eichentisch.

„Schön, dass du da bist. Setz dich“, gab er tonlos von sich, tippte auf ein Pad und drehte sich im Schreibstuhl von ihr weg. Auf der ganzen rückseitigen Wand öffnete sich nun, flächendeckend, ein Screen. Das war neu und erinnerte sie augenblicklich an Jeromes Büro. Claire sah erstaunt auf den Schirm, der eben noch die stabile Wand samt historischen Familiengemälden und Holzornamenten gezeigt hatte. Nun hob sich eine riesige Landkarte im Relief davon ab. Es zeigte die Straße von Gibraltar, so viel konnte Claire erkennen, und offensichtlich bevorstehende Truppenbewegungen und Einsatzoptionen. Als Staatssekretär des Verteidigungsministeriums war ihr Vater, François Boulanger, oft mit taktischen Maßnahmen diverser Militäroperationen befasst und hatte nicht selten entsprechend schwerwiegende Entscheidungen zu fällen.

Claire schweifte mit dem Blick über den Rest des Raumes. Hier war alles beim Alten. Sie ging ein paar Schritte über die Perserteppiche, die den krachenden Parkettboden bedeckten, und streifte mit der Hand den Kaminsims entlang. Im Kamin flackerte lautlos und kalt ein virtuelles Feuer. Auf dem Sims reihten sich Rahmen mit Fotos aneinander, die ihren Vater, lächelnd und Hände schüttelnd, mit Prominenten der Weltöffentlichkeit zeigten. Bis hin zu diversen Staatspräsidenten reichten seine Männerfreundschaften.

Unter den Fotos befanden sich auch welche aus den ersten Jahren nach dem Tod der Mutter, als Claire sich in seiner Nähe noch geborgen gefühlt hatte und ihn während der Ferienzeiten oft auf Reisen hatte begleiten dürfen.

Fotos der Mutter, oder gar aus einer gemeinsamen glücklichen Zeit als junges Ehepaar, fanden sich keine.

Claire wollte sich eben wieder dem Vater zuwenden, als ihr in der zweiten Reihe ein vergilbtes Bild auffiel, das sie glaubte, noch nie zuvor gesehen zu haben. Durch die anderen Rahmen kam es nur einen Spalt breit zum Vorschein. Wahrscheinlich hatte die neue Haushälterin sie beim Abstauben verrückt.

Sie griff danach und blickte erstaunt auf ihren Vater als jungen Mann, lachend, in Hippiekleidung, mit einer bildhübschen, fremden Frau im Arm und einem ebenso jungen Mann auf der anderen Seite, der ihm irgendwie ähnlich sah. Im Hintergrund waren Klippen und das Meer zu erkennen.

„Stell das zurück.“

„Wer sind die beiden?“

„Stell es zurück.“ Sein Tonfall machte klar, dass sie es dabei belassen sollte.

Claire reihte das Bild wieder ein und rückte die Rahmen zurecht, die sie ihr Vater in Kindertagen so oft aufgefordert hatte, nicht anzufassen. Sie wandte sich ihm zu.

Immer wieder schauderte ihr vor dem um Jahrzehnte jüngeren Aussehen des Mannes, dessen kosmetische Operationen keine sichtbaren Narben hinterlassen hatten. Trotzdem verrieten Körperhaltung und die gebrochene Stimme das wahre Alter des weit über Siebzigjährigen.

„Was kann ich für dich tun?“ Es klang, als hätte sie einen Termin bei einem Arzt. Er wies auf einen freien Sessel vor dem Schreibtisch.

„Ich werde einige Tage weg sein.“ Sie setzte sich. „Wollte mich nur von dir verabschieden.“

„Wird keinen großen Unterschied machen. Du besuchst mich auch nicht, wenn du in der Stadt bist.“

Claire wollte einwenden, dass sie erst vor zwei Wochen mit ihm zu Mittag gegessen hatte.

„Wohin geht die Reise?“

„Interessiert es dich?“

„Würde ich sonst fragen?“

Ja, würdest du. Nur um Kommunikation zu machen.

„Nach Rom.“

Ihr Vater horchte auf.

„Rom?!“

„Recherchen, für meine Kolumne. Es gibt Berichte, wonach …“ „Diese Rebellengeschichte?“ Sein Tonfall machte deutlich, was er davon hielt. „Das kommt gar nicht in Frage.“ Er tippte ein weiteres Mal auf sein Pad und hinter ihm erschien eine andere Landkarte, die Südeuropa, Nordafrika und den Nahen Osten zeigte.

Claire wollte etwas erwidern, war aber von den zahlreichen pulsierenden, roten Flecken auf der Karte abgelenkt.

„Siehst du das?“ Er deutete in Richtung Mittelitalien. „Die Krisenherde sind überall. Die Flüchtlingsströme werden weniger, doch immer noch spülen sie Schläfer und neue Terrorzellen nach Europa. Je dunkler das Rot, desto mehr Blut wird vergossen. Wenn du so willst.“

Claire starrte auf den dunkelroten Fleck, der über Rom lag.

„Das ändert nichts an meiner Entscheidung.“

„Ich habe schon gesagt, dass ich das nicht erlaube.“

„Vater, ich bin dreißig. Du hast mir gar nichts zu erlauben. Ich treffe meine eigenen …“

„Dann werde ich mit Jerome sprechen. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig. Wollte er nächste Woche nicht euer Verhältnis öffentlich machen? Zeit wäre es.“

Die beiden hatten also miteinander gesprochen. Jerome war zudem einer der Wenigen, der um die Verwandtschaft zwischen ihrem Vater und ihr wusste. Sie wollte stets vermeiden, dieser familiären Beziehungen wegen bevorzugt behandelt zu werden. Und dem Vater war es ebenso recht, dass die junge, linke Journalistin, die mitunter lauthals gegen das Militär wetterte, nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden konnte.

„Lass Jerome aus dem Spiel!“

„Spiel?!“ Ihr Vater stand auf und beugte sich über den Schreibtisch. „Genau das ist es für dich, nicht wahr?! Das spiegelt deinen ganzen infantilen Gemütszustand wider! Ein verträumtes Kind, das der Realität entflieht und seine Zeit mit Pseudojournalismus verschwendet! Dafür habe ich dich nicht an der Sorbonne studieren lassen!“

Nun erhob sich auch Claire. Doch wie immer, wenn ihr Vater sie mit seinen Angriffen ins Herz traf, versickerten die Worte in ihrem Kopf, bevor sie die Lippen erreichten.

„Ich werde nicht zulassen, dass ich auch noch die dritte Frau“, er korrigierte sich, „die zweite Frau in meinem Leben an Hirngespinste verliere! Du bleibst hier! Und wenn ich die Staatssicherheit einschalten muss! Das ist mein letztes Wort!“

Claire war zu gekränkt und außer sich, um den wirren Versprecher zu bemerken. Sie spürte, wie nun der verbitterte Geist der alten Wahrheit aus seinem Kerker hervorbrach. Sie kämpfte dagegen an, doch der aufgestaute Zorn bahnte ihm den Weg und bevor sie es verhindern konnte, schrie sie ihrem Vater ins Gesicht:

„Für deren Tod du allein die Verantwortung trägst!“

Nun war am Licht, was ihr ihm gegenüber so viele Jahre die Kehle zugeschnürt hatte.

Im selben Moment bereute sie es zutiefst.

Wie in Zeitlupe sank der alte Mann auf seinen Sessel und starrte mit leeren Augen vor sich hin.

Die Stille im Raum hallte ohrenbetäubend.

Sekunden verstrichen.

„Das ist es also“, sagte er schließlich mit gebrochener Stimme. „Geh. Aus meinen Augen. Lauf in dein Verderben.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie deine Mutter.“

Claire konnte sich nicht rühren. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wollte etwas erwidern, wollte sich entschuldigen, doch bevor sie dazu kam, wies der Vater mit einer energischen Geste Richtung Tür.

Claire löste sich aus der Erstarrung, ging zur Tür und als sie noch einmal über ihre Schulter blickte, sah sie den alten Mann bereits wieder dem Einsatzplan um Gibraltar zugewandt. Bewegungslos blickte er auf das virtuelle Relief, gab einen Befehlscode ein und setzte damit ein Szenario in Gang, das dem Terror einmal mehr die Gewalt europäischer Einsatztruppen entgegenstellte. Auge um Auge. Als wäre kein Tag vergangen. Leise verließ Claire das Zimmer, in das sie so bald nicht wieder würde zurückkehren sollen.

Sie trat aus dem Haus, blieb unter dem Portalbalkon stehen und blinzelte in die Nacht.

Durch die weißen Strahlen der Scheinwerfer, die das Anwesen beleuchteten, schnitt dichter Regen, wie scharfe Klingen ein Blatt Papier.

Sie ging weiter. Die harten Tropfen schlugen ihr ins Gesicht und vermochten nicht die Tränen wegzuschwemmen, die nun aus ihren Augen schossen – einer tiefen Quelle entspringend, die zu lange versiegelt geblieben war.

7

Claire blickte dem jungen Mann nach, der wie ein schwarzer Engel in der Nacht verschwunden war. Es war still auf dem Platz. Der Wind streifte lautlos über ihre Wangen und als sie sich dem kleinen, toten Körper näherte, war ihr, als hätte sie den kupfernen Geschmack des Blutes im Mund, das sich in einer Lache um den Kopf des Mädchens ausgebreitet hatte. Sie wandte sich zitternd ab und sah wieder dem jungen Mann nach.

Nach der Ankunft in Rom, am frühen Abend, hatte sie ihre Pension aufgesucht und war, da ihr der Besitzer versichert hatte, dass in diesem Viertel keinerlei Gefahr drohte, noch zu einem kurzen Erkundungsgang aufgebrochen. In dem Moment, als der Bauer auf das kleine Mädchen eingeschlagen hatte, war sie um eine Ecke getreten und hatte unter Schock das weitere Geschehen beobachtet.

Sie hatte gesehen, wie der junge Mann zu dem Mädchen gelaufen war, sie aufgenommen und geborgen hatte und schließlich, mit einem seltsam leuchtenden, gelösten Gesicht, in den Himmel gelächelt hatte. Wäre sie nur wenige Sekunden später auf den Platz getreten, sie hätte bestimmt angenommen, auf einen Geisteskranken gestoßen zu sein. So aber hatte er einen Eindruck in Claire hinterlassen, den sie nicht zuordnen konnte, da es sich mit nichts, was sie bislang erlebt hatte, vergleichen ließ.

Als würde sie etwas zu ihm ziehen, setzte sie sich nun in Bewegung und lief dem Mann hinterher.

Die Nacht war warm und schon nach wenigen Metern spürte Claire einen Schweißfilm auf der Haut. Der Himmel leuchtete zwischen den Häuserfronten herab, weder Smog noch die Lichtkuppel einer Großstadt trübten das klare Licht der Sterne. Sie lief über eine Treppe, folgte dem geraden Weg zu ein paar weiteren Stufen, dann durch eine Gasse, die sich jedoch bald darauf teilte. Der junge Mann war nirgendwo zu entdecken. Sie musste sich entscheiden, blickte in die eine, dann in die andere Richtung und für einen kurzen Moment glimmte am Ende der einen Gassen etwas auf – als hätte ein mystisches Wesen einen Lichtschweif hinter sich hergezogen, der gerade noch sichtbar war.

Claire blinzelte die optische Täuschung weg, folgte aber dem flüchtigen Eindruck und lief in diese Richtung weiter. Beinahe wäre sie an der nächsten Nebengasse vorbeigelaufen, hätte sie nicht ein weiterer, schemenhafter Eindruck im Augenwinkel gestoppt. Sie spähte vorsichtig um die Ecke und sah den Schatten des Mannes vorne im Dunkel verschwinden. Sie rannte ihm, so leise wie möglich, weiter hinterher.

Ohne zu wissen, warum, wollte sie nicht von ihm entdeckt werden.

Kurz darauf stieß sie auf einen kleinen Platz, blieb jedoch, bevor sie ihn betrat, im Dunkel der Gasse stehen. Auf der gegenüberliegenden Seite legte der Mann gerade die letzten Schritte über den Platz zurück.

Claire beobachtete fasziniert, wie der weiche Stoff des Mantels über den athletischen Körper floss. Sie wartete eine Sekunde, bis er wieder im Dunkeln verschwunden war, und folgte ihm. Plötzlich war er da. Keine zwanzig Meter entfernt und kam mit großen Schritten auf sie zu. Claire erschrak und ihre Hand schnellte vor den Mund, um den Schreckenslaut abzufangen. Mit etwas Abstand blieb er direkt gegenüber stehen. Sie sahen einander in die Augen.

Der junge Mann blickte sie gelassen an.

Langsam löste sich Claires Hand von ihrem Mund. Sie neigte den Kopf zur Seite und ohne dass sie wusste, woher, stieg ein Lächeln in ihr hoch und lief über ihre Augen, ihre Mundwinkel und Wangen und einen kleinen seligen Augenblick lang fiel ihr Herz aus dem Rhythmus. Der junge Mann spürte diesen Puls. Fühlte, wie, nur einen Schlag versetzt, sein Herz nun in ihren Rhythmus einstimmte.

Die Seelen begannen ihr Gespräch.

„Bonjour“, sagte er mit sanfter Stimme, dem Impuls folgend, es mit Französisch zu versuchen.

„Bonjour“, hauchte Claire erstaunt, „woher …?“ Die Stimme versagte ihr. Sie musste schlucken. „Warum …?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wer sind Sie?“

Er kam auf sie zu und sah sie weiterhin gelassen an.

„Ajan. Mein Name ist Ajan.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Und Ihrer?“

„Claire“, erwiderte sie langsam und legte ihre Hand in seine. Was für unglaubliche Hände. Er stand nun ganz nah vor ihr und noch immer konnte sie ihren Blick nicht von ihm lösen.

Er nickte.

Reiß dich zusammen!

Sie zog ihre Hand zurück.

„Und? Was machen wir jetzt?“, fragte sie, erstaunt über sich selbst.

„Ich weiß nicht. Worauf hätten Sie Lust?“

„Also“, sie fühlte sich unsicher. „Ich weiß nicht. Sie sind doch der Mann. Schlagen Sie was vor.“

„Ich bin der Mann, ja. Und Sie sind die Frau. Täusche ich mich oder hindert Sie das auch sonst nicht daran, zu sagen, was Sie wollen?“

„Sie haben recht. Natürlich. Es ist nur“, sie rang um Fassung, „ich bin erst heute hier angekommen und alles ist, all die Tage schon waren, sehr seltsam.“ Erst jetzt dachte sie wieder mit Schrecken an die Szene, deretwegen sie ihn verfolgt hatte.

„Ich habe Sie beobachtet, vorhin. Auf dem Platz, mit dem toten Mädchen. Das war sehr, wie soll ich sagen, schockierend, verstörend.“

„Ich weiß.“

„Haben Sie mich gesehen?“

„Nein, aber gespürt.“

Eine Pause entstand. Claire wich ein kleines Stück zurück.

„Sie haben sich äußerst seltsam verhalten. Hätten Sie nicht die Polizei verständigen sollen, Alarm schlagen?“

„Wem hätte das genützt?“

Claire stutzte.

„Sie haben sich benommen, verzeihen Sie, wie ein Verrückter.“

„Ver-rückt? Ja, das bin ich manchmal. Gewissermaßen.“

„Muss ich mich fürchten vor Ihnen?“

„Schließen Sie Ihre Augen.“

„Was?!“

„Nur ganz kurz. Vertrauen Sie mir, nur ganz kurz. Schließen Sie die Augen. Und legen Sie Ihre Hände in meine.“

Ich begehe den größten Fehler meines Lebens. Ihr Vater schoss ihr durch den Kopf. Trotzdem folgte sie der Aufforderung des Mannes mit dem seltsamen Namen und den seltsamen Händen.

„Und nun richten Sie Ihre Aufmerksamkeit in Ihr Inneres. Spüren Sie Ihrem Seelenfeld nach. Sagt Ihnen der Begriff etwas? Seelenfeld?“

Doch ein Verrückter. Claire nickte zaghaft.

„Gut.“ Ajan lächelte. „Dann fühlen Sie tiefer als Ihre Angst gerade reicht, tiefer, als sich die Zweifel in Ihrer Fantasie regen. Erfassen Sie hinter Gefühlen und Gedanken das Feld Ihrer Energie. Was tut es?“

„Es ist …“, Claire musste der hypnotischen Stimme folgen, ob sie wollte oder nicht. Doch die Furcht war da und wurde von der absurden Situation noch verstärkt. „Es fällt mir schwer.“

„Akzeptieren Sie es.“

„Bitte?“

„Akzeptieren Sie, dass es schwerfällt, und fahren Sie einfach fort. Was tut die Energie Ihres Feldes? Was sehen Sie? Welche Bewegung nehmen Sie wahr?“ Seine Stimme wurde nun noch tiefer.

„Es ist …“

„Ja?“, brummte er.

Plötzlich spürte Claire, wie sie, durch einen schmalen Spalt hindurch, ein zarter Sog mit sich nahm.

„Es ist ganz ruhig da“, entdeckte sie wenige Augenblicke später. „Da ist etwas, ein Wasser, wie ein Wasser, dunkel und weit und es bewegt sich in sanften Wellen und es ist, es ist, irgendwie glücklich. Und ganz still. Kein Gefühl. Mehr eine Ahnung. Oder ein Wissen.“

„Gut. Du machst das sehr gut. So schnell gelingt es beim ersten Mal selten.“

Eine kleine Weile stand sie ganz versunken da und gab sich den seligen Eindrücken hin.

Dann öffnete sie ihre Augen und blickte ihn, noch halb abwesend, an.

Er lächelte zufrieden, kam so nah, dass sie seinen Atem spüren konnte, und fragte: „Also: Musst du dich fürchten vor mir?“

Etwas verlegen erwiderte sie sein Lächeln und tauchte langsam wieder aus dem seligen Zustand auf. Sie spürte seine Nähe, erinnerte sich an die Zweifel, die sie eben noch gehegt hatte, doch blieben ihre Gedanken und Gefühle seltsam ruhig.

„Nein. Ich denke nicht.“

Er ließ ihre Hände los.

„Wie wär’s dann jetzt mit einem Drink? Da vorn ist ein Lokal, das hat noch offen.“

8

Der Mond hatte sich mittlerweile unter die Sterne gedrängt und manche von ihnen strahlten jetzt zurückhaltender, als empfänden sie Demut vor dem großen Anführer der Gezeiten.

Claire sah zu ihm hoch, in das ewig der Erde zugeneigte Gesicht, und alles, dieser Mond, die Nacht, der Mann an ihrer Seite und selbst der Geschmack des kühlen Rotweins, von dem sie eben getrunken hatte, erschien ihr unwirklich.

Der kurze Blick in ihr inneres Feld hatte sie mit sich genommen. Noch immer verharrte ein Teil ihrer Selbst dort in der Tiefe des stillen Wassers und ließ sie schweben, trug sie zugleich, hielt sie umfangen, während ihr schien, als hätten alle Farben an Kraft, alle Konturen an Schärfe gewonnen.

Ajan saß ruhig neben ihr und beobachtete sie, ihr strahlendes Äußeres, wie auch das Leuchten ihres Feldes. Mit seiner kurzen Anleitung hatte er instinktiv schon begonnen, sie den Prüfungen zu unterziehen. Und dass sie so schnell den Kontakt zu ihrem Feld herstellen konnte, bestätigte seinen ersten Eindruck, als er sie noch am Platz, mit dem sterbenden Mädchen im Arm, im Dunkel hinter sich wahrgenommen hatte.

„Wir nennen es seelen.“ Claire blickte ihn fragend an und er erklärte: „Den Vorgang, sich bewusst an das eigene Energiefeld anzubinden und diese Verbindung aufrecht zu halten, so lange man will. Das nennen wir seelen.“

Sie wurde wieder unruhig: „Kommst du von einem anderen Stern?“

„Es klingt seltsam, ich weiß.“ Ajan streifte sich eine dunkle Strähne aus der Stirn. „Aber nur, weil du das Wort in dieser Form nicht kennst. Wenn du damit aufgewachsen wärst, wie ich, dann wäre es ganz selbstverständlich. Ich habe das lange nicht begriffen. Erst als mich auf meinen Reisen die Menschen, denen ich von Share erzählt hatte, mit demselben Blick angesehen haben wie du jetzt.“

Share? In welchen Film bin ich denn hier geraten?

„Also, der Reihe nach.“ Er rückte seinen Stuhl zurecht, so, dass er ihr direkt gegenübersaß. Die Straßentische des kleinen Lokals waren beinahe leer. Nur etwas abseits saß noch ein anderes junges Paar, das in Küssen und Liebkosungen versunken war.

„Share ist meine Heimatinsel. Sie liegt im Atlantik. Ihr ursprünglicher Name lautet“, er zögerte, „nun, das ist nicht so wichtig. Meine Eltern und die anderen Gründer der Kolonie haben sie jedenfalls Share getauft. Wohl, weil es von Anfang an geplant war, eine Gemeinschaft zu etablieren, die auf dem Teilen von Gütern wie auch dem Teilen von Sorgen, Nöten oder Freude und Glück beruhte. Darum der Name.“

„Und dort bist du aufgewachsen?“

„Ja. Und da lebe ich bis heute. Außer, wenn ich auf einer meiner Reisen bin.“ Er vermied es, Claire gleich noch mit einem weiteren neuen Begriff zu verunsichern, und ließ darum unerwähnt, dass er einer der Seeker von Share war.

„Und wo liegt diese Insel?“

„Wie gesagt, im Atlantik?“

„Aber wo genau da?“

Ajan blickte sie prüfend an.

„Welchen Beruf hast du?“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Sag mir erst deinen Beruf.“

Wohin führt das? Und wer, um Gottes Willen, ist dieser Mann? Und was ist er?

„Ich bin Journalistin.“

„Dacht ich’s mir doch.“ Ajan schmunzelte.

„Warum?“ Claire war irritiert.

„Deine Fragen, deine Zweifel, dein legeres Äußeres, diese Kakihose mit den Seitentaschen und der Einsatzweste – das perfekte Bild einer Journalistin.“

Claire fühlte sich angegriffen.

„Und du? Was soll dieser bodenlange Mantel? Sieht nach irgendeiner Space Odyssey aus.“

„Dann passt es ja. Du bist eine Journalistin, wahrscheinlich auf Recherche für eine neue, weltbewegende Story und ich“, sagte er pathetisch, „reise durch Raum und Zeit und suche nach den letzten Rittern der Menschlichkeit.“

Claire horchte auf. Hat er das eben wirklich gesagt?

Er grinste so spitzbübisch, dass sie auflachen musste, und für eine Sekunde war ihr plötzlich, als würde sie diesen Mann schon ewig kennen. Die unvermittelte Nähe, die sie zu ihm empfand, irritierte sie. Prompt schalteten sich ihre Zweifel ein. Sie sah ihn kritisch an, schüttelte kaum sichtbar den Kopf und bekam es mit der Angst zu tun. Doch etwas in ihr sagte, dass sie zur rechten Zeit am rechten Ort war. Unbedingt und ganz ohne Zweifel.

„Also, von vorn“, begann sie. „Was seelen bedeutet, habe ich ansatzweise verstanden. Erzähl mir mehr von der Insel.“

Share ist wundervoll. Es gibt Steilküsten und Sandstrände, erloschene Vulkane, Kraterseen, Lorbeerwälder, bezaubernde Blumenhaine und auf den Feldern bauen wir allerlei Sorten von Gemüse und Früchten an. Die Fischgründe sind voll und die kleinen Kraftwerke an den Wasserfällen liefern mehr Strom, als wir verbrauchen können. Wir sind unabhängig und frei.“

„Klingt wie das reinste Paradies.“

„Das ist es.“ Seine Stimmung veränderte sich unmerklich.

„Wir nennen sie auch die Kolonie des Glücks.“

„Und warum bist du dann plötzlich traurig?“

Er sah zu ihr und studierte sie einen Moment lang. „Wie kommst du darauf?“

„Bitte?“

„Nichts verrät, dass ich traurig bin.“

Claire dachte kurz nach und sagte:

„Ich weiß nicht. Du hast Kolonie des Glücks gesagt und das hat mich irgendwie traurig gemacht. Doch ich bin gar nicht traurig. Verunsichert vielleicht und tausend Fragen sind in meinem Kopf, aber nicht traurig. Also habe ich angenommen, es kommt von dir.“

„Ist das bei dir oft so? Kannst du fühlen, was andere fühlen?“ „Manchmal, ja.“ Doch es war ihr bislang nie als etwas Besonderes erschienen. Sie blickte die Straße entlang, die sich weiter vorn unter den wenigen Gaslaternen im Dunklen verlor.

Ajan lächelte. Es würde kaum noch weitere Prüfungen brauchen. Er veränderte seinen Blick, seelte in sein Feld, verband sich mit ihrem und harrte für einen Augenblick der Bilder, die in seinem Inneren aufziehen mochten. Kurz darauf sah er es. Er erkannte sie wieder. Sie war schon lange Teil seines Feldes. In rascher Abfolge rauschten traumartige Erinnerungen vor seinem geistigen Auge vorbei, gingen in Visionen über und blieben am Ende in einem Tal voll beschaulicher buntbemalter Holzhäuser, umgeben von schneebedeckten Bergen stehen. Eine mögliche Zukunft, ein Strang, der zur Wirklichkeit werden konnte.

Doch bis dahin lag noch viel Unabsehbares vor ihnen.

„Also“, Claire wandte sich ihm wieder zu, „warum bist du traurig?“ Ajan ließ die Bilder in seinem Inneren verklingen, sah sich kurz um, atmete tief ein, um die Gerüche der Nacht aufzunehmen, und kramte Tabak und Zigarettenpapier aus einem Mantel.

„Du rauchst? Wer raucht heutzutage noch?“

„Die Dosis macht die Medizin. Oder das Gift.“ Er schmunzelte. „Manchmal ist es gut zu rauchen. Es holt uns auf die Erde zurück. Verbindet uns mit ihr. Willst du eine?“

„Ich habe es nie probiert. Lieber nicht.“

„Stört es dich?“

„Nein. Eigentlich mag ich den Geruch. Meine Mutter hat manchmal geraucht. Als sie noch gelebt hat.“

„Das tut mir leid.“

„Muss es nicht. Ist schon lange her.“ Claire wollte sich nicht an die letzten Stunden in Paris mit ihrem Vater erinnern. „Du bist mir noch eine Antwort schuldig, nein, du bist mir tausend Antworten schuldig.“

„Weil wir aussterben.“ Der Nachhall des Wortes lag augenblicklich wie ein schwarzer Schatten über ihm. Ernst drehte er seine Zigarette, zündete sie an und begann zu erzählen: „Die Alten, die Gründer der Kolonie, haben eine perfekte Gesellschaft aufgebaut. Das war vor vielen Jahrzehnten. Freie Meinung, freie Religion, freie Liebe – das waren die Schlagwörter, an denen sie sich damals orientierten. Sie waren alle Hippies, Auswanderer aus der halben Welt, die sich auf den Kanarischen und anderen Inseln und Orten zusammengefunden hatten. Nach einigen Jahren jedoch waren ihre Strandgesänge verklungen, die Drogennebel verraucht und die Blumen in den Haaren verwelkt. Die meisten kehrten in ihre alten Leben zurück, gründeten Familien und gliederten sich wieder in die Gesellschaft ihrer Heimatländer ein. Doch einige von ihnen wagten etwas Neues: Sie besorgten sich Schiffe und brachen auf, um irgendwo im Atlantik eine unbekannte, unbesiedelte Insel zu suchen. Nach vielen Tagen auf dem offenen Meer tauchte sie schließlich am Horizont auf. Ihre neue Heimat, die sie Share tauften.“ Während seiner Erzählung hatte er immer wieder an der Zigarette gezogen und leerte nun mit einem kräftigen Schluck sein Weinglas.

Claire fragte: „Soll ich uns noch etwas bestellen?“

„Nicht für mich. Danke. Eine kleine Dosis genügt.“ Er lächelte. „Und es ist schon spät.“

Sie wurde unruhig und wollte unbedingt noch mehr erfahren; verhieß seine Geschichte doch den besten Stoff für einen neuen Artikel und er selbst eine Zukunft, jenseits aller Erfahrungen, die sie bislang gemacht hatte.

„Du willst alles wissen, nicht wahr, Claire?“ Als er sie zum ersten Mal mit ihrem Namen ansprach, spürte sie einen wohligen Schauer über ihren Rücken laufen. „Deine Aufmerksamkeit und deine Energie verraten mir, dass es dich hinzieht nach Share und zu mir.“

„Kann es sein, dass du, außer Gefühlen, noch mehr von dem wahrnimmst, was in anderen Menschen vorgeht?“

„Darauf wurden wir von Kindheit an geschult. Die Gründer haben nicht nur eine intakte soziale Gemeinschaft aufgebaut. Philosophen, Künstler und Lehrer waren unter ihnen. Sie haben von Beginn an geforscht und sich bemüht, Menschen aus uns zu machen, die dem Leben und einander dienen. Dabei haben sie erstaunliche Dinge entdeckt und Ausbildungsstätten für alle Fähigkeiten errichtet, die Menschen in sich tragen.“

„Aber warum sterbt ihr dann aus?“ Claire konnte jetzt nicht lockerlassen. Ajan sah traurig in den Himmel.

„Weil die Gründer alles so perfekt arrangiert haben, dass die Gemeinschaft und ihre Lehren bis heute vor der Öffentlichkeit verborgen blieben. Share taucht zwar auf allen Landkarten der Welt auf, sie trägt auch einen offiziellen Namen, doch gilt das Herz der Insel, auf dem unsere Siedlung errichtet wurde, in der Außenwelt nach wie vor als unbewohnt und unbewohnbar. Und die Alten haben noch dazu mit allen erdenklichen Mitteln dafür gesorgt, dass es so bleibt. Auch wenn die Jungen schon lange darauf bestehen, dass man sich öffnen und den Zugang zur Kolonie erlauben müsste, um das neue Wissen zu verbreiten: Die Alten erlauben es nicht. Trotz all ihrer Weisheit fürchten sie, ihr Paradies zu verlieren, und bestehen darum auf Geheimhaltung. Ich musste sogar nach Programmierern suchen, die sich uns anschlossen, um alles aus dem Netz zu löschen und vor der Weltöffentlichkeit zu verschleiern, was an Berichten bis dorthin vorgedrungen war. In über fünf Jahrzehnten sind grade mal ein paar Handvoll Menschen von selbst, über die verschlungenen Wanderwege, bis zu uns vorgestoßen.“

„Du musstest sie suchen?“

„Das ist meine Aufgabe, Claire. Ich bin einer der wenigen Seeker. Da meine Fähigkeit, die Energiefelder anderer Menschen zu lesen, sehr hoch entwickelt ist. Wir alle auf Share erfüllen die Aufgaben entsprechend unseren Gaben und den Beruf, in dessen Dienst wir gerufen sind. Darum reisen wir Seeker durch die Welt und suchen nach Menschen für Share, deren Herzen und Seelen stark und tief sind und deren Glaube und Hoffnung ungebrochen in die Zukunft reichen. Und denen die Gabe der Liebe zu eigen ist.“

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9783931560829
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